Sind Tugend und Laster nicht ein ideales Begriffspaar um zwei völlige Gegensätze zu kennzeichnen? Zwei Extreme, an den jeweiligen Enden einer Skala, wie sie weiter nicht von einander entfernt sein könnten. Während in Lessings bürgerlichem Trauerspiel „Miss Sara Sampson“ die Titelheldin Sara offensichtlich die Tugendhaftigkeit par Excellenze verkörpert, weist ihre Rivalin Marwood scheinbar nur lasterhafte Züge auf. Aufgrund der sehr kontrastiven Darstellung der beiden Frauen ist sich die Forschungsliteratur fast völlig einig, dass Marwood den direkten Gegensatz zu Sara bildet. Sara, von Lessing gezeichnet als junge Unschuld, liebende Tochter und reinliches Wesen, das stets nach Einhaltung der Tugend bestrebt ist auf der einen Seite, und Marwood, die alte, verlassene und letztlich rasende Geliebte, die nur Verstellung und Intrige zu kennen scheint, auf der anderen Seite. Dabei ist jedoch bereits interessant, dass es beiden Frauen um den gleichen Mann geht, nämlich um Mellefont, den ehemaligen Geliebten der Marwood und gegenwärtigen Partner der Sara. Allein diese Tatsache verbindet die beiden Frauen miteinander und lässt die Vermutung zu, dass sie möglicherweise noch viel mehr Gemeinsamkeiten haben als nur den selben „Männergeschmack“. Die Frage, die sich nun stellt ist deshalb, ob hier wirklich zwei völlige Gegensätze aufeinandertreffen, ob sich tatsächlich pauschal sagen lässt, dass Sara „die Heilige“ und Marwood „die Böse“ ist? Ziel dieser Hausarbeit ist keine tiefenpsychologische Charakteranalyse, sondern es soll die Frage geklärt werden, welche Gegensätze Sara und Marwood kennzeichnen und wo Gemeinsamkeiten vorhanden sind. Die Vorgehensweise ist eine Gegenüberstellung charakterlicher Unterschiede unter Einbezug der Inszenierung des Stücks, der Sprache und der Rollenfigur, welche die beiden Frauen jeweils innehaben. Gemeinsamkeiten, versteckt oder sichtbar, sollen dabei aufgedeckt werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Inszenierung
2.1 Die Leistung der Abfolge der Auftritte für die Charakterisierung
2.1.1 Der erste Auftritt
2.1.2 Die weiteren Auftritte
2.2 Sprache
2.3 Rollenfigur
3. Charakterliche Gegensätze
3.1 Verdrängte Sinnlichkeit vs. Einbekannte Sinnlichkeit
3.2 Blindheit und Naivität vs. Machtkalkül
3.3 Christliche Tugend vs. Lasterhaftigkeit
3.3.1 Totale Lauterkeit vs. Verruchtheit
3.3.2 Altruismus vs. Egoismus
3.3.3 Aufrichtigkeit vs. Verstellung
4. Zusammenfassung
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Sind Tugend und Laster nicht ein ideales Begriffspaar um zwei völlige Gegensätze zu kennzeichnen? Zwei Extreme, an den jeweiligen Enden einer Skala, wie sie weiter nicht von einander entfernt sein könnten.
Während in Lessings bürgerlichem Trauerspiel „Miss Sara Sampson“ die Titelheldin Sara offensichtlich die Tugendhaftigkeit par Excellenze verkörpert, weist ihre Rivalin Marwood scheinbar nur lasterhafte Züge auf. Aufgrund der sehr kontrastiven Darstellung der beiden Frauen ist sich die Forschungsliteratur fast völlig einig, dass Marwood den direkten Gegensatz zu Sara bildet. Sara, von Lessing gezeichnet als junge Unschuld, liebende Tochter und reinliches Wesen, das stets nach Einhaltung der Tugend bestrebt ist auf der einen Seite, und Marwood, die alte, verlassene und letztlich rasende Geliebte, die nur Verstellung und Intrige zu kennen scheint, auf der anderen Seite. Dabei ist jedoch bereits interessant, dass es beiden Frauen um den gleichen Mann geht, nämlich um Mellefont, den ehemaligen Geliebten der Marwood und gegenwärtigen Partner der Sara. Allein diese Tatsache verbindet die beiden Frauen miteinander und lässt die Vermutung zu, dass sie möglicherweise noch viel mehr Gemeinsamkeiten haben als nur den selben „Männergeschmack“. Die Frage, die sich nun stellt ist deshalb, ob hier wirklich zwei völlige Gegensätze aufeinandertreffen, ob sich tatsächlich pauschal sagen lässt, dass Sara „die Heilige“ und Marwood „die Böse“ ist?
Ziel dieser Hausarbeit ist keine tiefenpsychologische Charakteranalyse, sondern es soll die Frage geklärt werden, welche Gegensätze Sara und Marwood kennzeichnen und wo Gemeinsamkeiten vorhanden sind. Die Vorgehensweise ist eine Gegenüberstellung charakterlicher Unterschiede unter Einbezug der Inszenierung des Stücks, der Sprache und der Rollenfigur, welche die beiden Frauen jeweils innehaben. Gemeinsamkeiten, versteckt oder sichtbar, sollen dabei aufgedeckt werden.
Als Vorlage für diese Arbeit dient die Reclam-Ausgabe „G.E. Lessing. Miss Sara Sampson.“ von 2003. Zitierte Textstellen aus dem Primärtext sind kursiv und, wenn wörtlich übernommen, in Anführungszeichen dargestellt. Die entsprechende Seitenzahl in der Reclam-Ausgabe ist in Klammern dahintergesetzt.
2. Inszenierung
Der Charakter der Figuren erschließt sich auf zweierlei Weise: Implizit durch ihr Verhalten und ihre Handlungen.1 Dabei ergibt sich das Wissen über die Eigenart eines Menschen daraus, dass man ihn und sein Verhalten beobachtet, oder daraus, dass jemand über ihn redet und ihn dadurch beschreibt.2 Hinzu tritt bei Theaterfiguren noch ihr persönlicher Sprachstil und die ihnen jeweils zugedachte Rollenfigur um sich ein möglichst vollständiges Bild machen zu können. Im Folgenden wird deshalb zunächst einmal analysiert, wie die Abfolge der Auftritte von Sara und Marwood die Beurteilung ihres Charakters beeinflusst, wie ihre Art zu sprechen Rückschlüsse auf ihr Wesen gibt und welche traditionelle Rollenfigur ihnen eigentlich zugeschrieben ist.
2.1 Die Leistung der Abfolge der Auftritte für die Charakterisierung
2.1.1 Der erste Auftritt
Das Geschehens mäßige Auftreten der beiden Frauenfiguren hat erheblichen Einfluss auf das erste Urteil über Sara und Marwood. Über beide Frauen wird schon vor ihrem tatsächlichen Erscheinen berichtet und somit eine richtungsweisende Vorstellung über sie hervorgerufen, mit welcher der Leser dann voreingenommen den anschließenden persönlichen Auftritt der beiden Frauen erlebt.
Während von Sara durch den Diener Waitwell in den höchsten Tönen gesprochen wird, „Das beste, schönste, unschuldigste Kind, das unter der Sonne gelebt hat,...“ (5) , erfährt man von Marwood nur Schlechtes. Norton, der Diener ihres ehemaligen Liebhabers Mellefont bezeichnet sie beispielsweise als böses Weibsbild, mit dem der Umgang strafbar sei (9).
Im Anschluss an diese erste Fremddarstellung wird uns dann zunächst Sara als durch und durch tugendhaftes Wesen, was sich an ihrem Gespräch mit Mellefont ablesen lässt, persönlich vorgeführt. Obwohl sie Qualen erleidet, weil dieser sie über die geplante Hochzeit im Ungewissen lässt, liebt sie ihn bedingungslos. „Ich, an ihrer Liebe zweifeln? Nein,...“ (11), „...,ich bin in meinem Herzen die Ihrige und werde es ewig sein.“ (13), „Sie sollen mich, wenn sie nicht wollen, für ihre Gattin nicht erklären dürfen; Sie sollen mich erklären können, für was sie wollen.“ (14). Man erhält durch diese Eigendarstellung den Eindruck, einer selbstlosen, aufopferungsvollen Frau gegenüber zu stehen, die der Inbegriff des religiösen Glaubens und absoluter Tugendhaftigkeit zu sein scheint, was nicht zuletzt durch ihre christlichen Vorstellungen verstärkt wird, z.B.: „Klagen sie den Himmel nicht an! Er hat die Einbildungen in unserer Gewalt gelassen. Sie richten sich nach unseren Taten, und wenn diese unsern Pflichten und der Tugend gemäß sind, so dienen die sie begleitenden Einbildungen zur Vermehrung unserer Ruhe und unseres Vergnügens..., ein einziger Segen, der von einem Friedensboten im Namen ewiger Güte auf uns gelegt wird,...“ (12).
Bevor nun auch Marwood zum ersten Mal auftritt, eilen ihr erneut negative Fremdurteile voraus, diesmal aus Sicht Mellefonts, der mit Anschuldigungen nicht geizt. „Eine buhlerische Marwood führte mich in ihren Stricken...“ (17), „Ich war mit dem Laster zu vertraut geworden,...“ (17), „Welche Furie, welcher Satan,...[...] Frevlerin! Du entheiligst Namen, die nur der Tugend geweiht sind!“ (18).
Ihr persönlicher Auftritt lässt Marwood zunächst jedoch auch in keinem besseren Licht erscheinen. Listig, durchtrieben, vorausschauend und berechnend stellt sich Marwood dem Publikum dar, während sie sich auf das Treffen mit Mellefont vorbereitet. „Der Verräter! Doch gemach! Zornig muss ich durchaus nicht werden. Nachsicht, Liebe, Bitten sind die einzigen Waffen, die ich wider ihn gebrauchen darf, wo ich anders seine schwache Seite recht kenne.“ (20). Auch schauspielerischen Fähigkeiten lassen sich vermuten, die sie im Zuge ihrer Verstellung einsetzt. „Wie soll ich ihn empfangen? Was soll ich sagen? Welche Miene soll ich annehmen? Ist diese ruhig genug?“ (22). Gleichsam auffallend ist hier bereits auch ihre Emotionalität und Leidenschaft, die häufig ihr Handeln und Reden bestimmt, was später noch genauer gezeigt wird. „Wenn er sich dagegen verhärten sollte? So werde ich nicht zürnen - ich werde rasen. Ich fühle es, Hannah; und wollte es lieber schon jetzt.“ (20).
Die Inszenierung des ersten Auftritts zeigt, dass der Blick unweigerlich in eine bestimmte Richtung gelenkt werden soll, nämlich von der unschuldigen, tugendhaften und selbstlosen Sara, über Negativpropaganda hin zur intriganten, sich verstellenden Marwood. Inwiefern dieses charakterliche Bild von den beiden Frauen in den weiteren Auftritten aufrecht erhalten bleibt soll im Folgenden aufgezeigt werden.
2.1.2 Die weiteren Auftritte
Tabellarisch werden hier die weiteren Auftritte von Sara und Marwood dargestellt und Charakterzüge im Kontext der jeweiligen szenischen Darstellung aufgezeigt. Veränderungen, oder aber die Bestätigung des entstandenen Charakterbilds durch den ersten Auftritt, sollen dadurch erkennbar werden. Auf explizite Textbelege wird an dieser Stelle verzichtet, da die aufgeführten Charakterzüge aus der Betrachtung des Gesamtinhalts des jeweiligen Auftritts interpretiert und festgestellt wurden und sich nicht direkt an einer Textstelle ablesen lassen.
Sara
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Es zeigt sich bei Sara letztlich eine „Dauerbestätigung“ ihres tugendhaften Wesens. Sie bricht zu keinem Zeitpunkt aus dem Schema des unschuldigen, frommen Mädchens aus. Sara überrascht mit ihrem Verhalten nicht, ihre eigene Tugendlehre, sowie ihr zurückhaltendes Wesen prägen und leiten stets ihr Verhalten und halten dadurch auch weitgehend das Bild aufrecht, welches der Zuschauer durch ihren ersten Auftritt von ihr bekommen hat. Es lassen sich, wie oben aufgezeigt, in Bezug auf den ersten Auftritt, im Verlauf des Stücks zwar noch weitere Charakterzüge erkennen, diese können allerdings alle vor dem Hintergrund der Tugendhaftigkeit betrachtet und in den Rahmen dieser eingeordnet werden.
Bei Marwood zeigt sich dieses durchgängig gleiche Charakterbild nicht, wie im Folgenden dargestellt wird.
Marwood
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Vor dem Hintergrund des ersten Auftritts kommt es in 2,V zunächst zu einer Irritation, da sich Marwood hier plötzlich ehrlich und unverstellt zeigt. Diese Irritation führt im weiteren Verlauf der Auftritte zu einer gewissen Unsicherheit beim Publikum, da selten deutlich wird, wo sie sich verstellt und wo sie die Wahrheit spricht. Man erlebt eine ständige Mischung aus Trug und Ehrlichkeit, oft wird ihre Verstellung erst hinterher aufgedeckt. Zudem ist ihr Charakterbild viel komplexer strukturiert, als es der erste Auftritt vermuten lässt, in dem sie schlicht als „böses Weibsbild“ vorgeführt wird. Dennoch zeigt sich insgesamt eine Bestätigung des negativen Charakterbilds. Allerdings müssen Marwoods Charakterzüge im Kontext ihres Schicksals und des Geschehens betrachtet werden um angemessen beurteilt und dadurch relativiert werden zu können.
2.2 Sprache
„Die expressive Funktion des Ausdrucks, die auf den Sprecher einer Replik zurückverweist, ...[ist] von großer Bedeutung, da die Konkretisierung einer Figur durch die Wahl ihrer Redegegenstände, durch ihr sprachliches Verhalten und durch ihren Sprachstil zu den wichtigsten Techniken der Figurencharakterisierung im Drama gehört.“3 Die Inszenierung der Figurenrede verdeutlicht den Charakter von Sara und Marwood sehr eindrucksvoll, wie sich im Folgenden zeigen wird.
Was und wie Personen im Drama reden, ist durch sehr verschiedene ineinandergreifende Faktoren bedingt. Dazu gehören 1. die Ziele der Redenden, 2. die umgebende Situation, 3. die Umstände der Verständigung, 4. das persönliche Verhältnis der Gesprächspartner und 5. der individuelle Denk- und Äußerungsstil jedes Redenden und seine augenblickliche seelische Verfassung.4 Bei Sara und Marwood lassen sich diese Faktoren zusammenfassend folgendermaßen beschreiben: Marwood hat das Ziel Mellefont zurückzugewinnen, in ihrer momentanen Situation scheint dies jedoch unmöglich, da einerseits Sara als Mellefonts Geliebte im Weg steht und andererseits Mellefont an Marwood kein Interesse mehr zu haben scheint. Da Sara und Mellefont zudem im Begriff sind, bald zu heiraten, scheint Marwood die Zeit ‚davon zu laufen’. Sara dagegen verfolgt das Ziel Mellefont im Heimatland zu ehelichen und wünscht sich zudem die Versöhnung mit ihrem geliebten Vater, was zunächst nicht gemeinsam realisierbar scheint. Ihr tugendhaftes Denken einerseits und ihre Liebe für Mellefont andererseits lassen deshalb auf eine eher zerrissene, verzweifelte innere Verfassung deuten. In Anbetracht dieser Umstände könnte man bei Marwood ein wohl eher kämpferisches Sprachverhalten erwarten, während Saras Sprachstil mehr leidend und bittend sein dürfte. Beide Vermutungen werden, wie im Weiteren zu sehen sein wird, bestätigt.
[...]
1 Vgl. Pfister, Das Drama, S.261.
2 Vgl. Asmuth, Einführung in die Dramenanalyse, S.85.
3 Vgl. Pfister, Das Drama, S.156.
4 Vgl. Asmuth, Einführung in die Dramenanalyse, S.62.
- Arbeit zitieren
- Melanie Konrad (Autor:in), 2005, Frauenfiguren in Lessings "Miss Sara Sampson" - Sara und Marwood - Zwei völlige Gegensätze?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43935
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