Leseprobe
Inhaltsverzeichnis:
1. Einführung
2. Der Inhalt der Novelle
3. Gedanken über Erdbeben und Gottesstrafe
4. Wie der Glaube die emotionalen Zustände des Menschen ausnutzt? Anhand der Novelle
5. Vergleich mit Lisabonner Beben – das Erdbeben als Theophanietopos
6. Kants Philosophie in Kleists Novelle
7. Zusammenfassung
Gerade vor einigen Tagen hat die Erde gebebt. Über hunderttausend Menschen sind in einem Moment aus der Welt verschwunden. Dreihundert Jahre hat es so eine Erderschütterung nicht gegeben. Was soll sich ein durchschnittlicher Mensch, der das alles im Fernseher erlebt, denken? Letztendlich begleiten die Naturkatastrophen den Menschen, seitdem es Leben gibt. Und die immerwährende Frage lautet: Oh, Gott, warum?! In diesem Moment machen wir uns keine Gedenken darüber, warum genau diese Frage, diejenige ist, die am häufigsten zu hören ist.
Dieses universelle Thema bewegt Heinrich von Kleist in seiner Novelle „Erdbeben in Chili“. Die Erzählung fängt mit einem Erdbeben an, das die Stadt St. Jago in Trümmern und Asche legt, aber zwei Menschen, Josephe und Jeronimo, das Leben rettet. Die Novize Josephe wird von ihrem Vater in ein Kloster geschickt, da sie mit dem Hauslehrer, Jeronimo, in Verliebtheit fällt. Somit will Asteron, Josephes Vater, die verbotene Liebe zerstören. Der Kontakt wird aber heimlich aufgenommen und zu Fronleichnamsfest wird das uneheliche Kind, Philipp, auf die Welt gebracht. Dieser Skandal führt die beiden vors Gericht. Josephe soll verbrannt werden und Jeronimo landet im Gefängnis, wo er den Selbstmord begehen will. Das Erdbeben verleiht den Verliebten die Freiheit. In dem ganzen Durcheinander finden sich die beiden und Josephe rettet den Sohn aus dem brennenden Kloster. Sie lernen Don Fernando, Donna Elvire und deren Kind kennen und schließen sich die neuen Freunde ins Herz. Um sich für das noch mal gegebene Leben bei Gott zu bedanken, geht das Liebespaar in die Kirche. Der Prediger erklärt aber das Erdbeben, als eine Strafe Gottes und spricht die Namen, den zwei Unglücklichen, aus. Die Menschenmenge erkennt Josephe und Jeronimo und schlägt sie tot. Infolge eines Fehlers wird statt Philipp, Don Fernandos Sohn ermordet.[1]
„Ist das Erdbeben blindwütende Naturkatastrophe, die wahllos vernichtet und wahllos verschont? Oder steht es vielleicht noch in einem Zusammenhang mit einem geheimen, aber für die Menschen undurchschaubaren Willen Gottes? Ist es etwa noch als apokalyptisches Gericht über die Sünden dieser Gesellschaft gemeint, jedoch nicht ohne Erbarmen für die todgeweihten Liebenden?“[2] - diese Fragen muss ich stellen, weil ich mich in meiner Arbeit mit dieser Thematik auseinandersetzen will.
Manchmal passieren schreckliche Sachen. Grausame, erschütternde. Keiner weiß, was man sich in solchen Momenten denken soll. Ist das die Gottesstrafe für unsere Sünden? Oder die ewigen Rechte der Natur, die uns trotzt der hochentwickelten Technik immer wieder überrascht?
Vor Jahrhunderten verdummten ägyptische Priester das Volk. Sie konnten astronomische Erscheinungen und das Wetter voraussehen z.B. das Sonnenfinsternis, die Flut des Nils. Indem die Priester genau die Daten dieser Ereignisse wussten und diese entsprechend interpretierten, jagten sie dem untertänigen Volk die Angst ein. Generell führte das zur solchen Relation: das Volk ist untreu, die Kassen der Tempel sind leer, die Götter verlangen Opfer. Danach folgte als Symptom Gotteszorn ein Zeichen am Himmel oder eine Naturkatastrophe. Die Menschen sind von der Natur her beschränkt und wenn man ihnen einen Trug des Wissens gibt, ist es leicht sie zu manipulieren. Trotzt aller vergangenen Jahrhunderte, trotzt des politischen und religiösen Systemwechsels, trotzt der gesellschaftlichen und sexuellen Revolutionen, hat sich sehr wenig darin geändert.
Im Jahr 1997 stand Wroclaw unter Wasser. So eine Flut hat es in unserer Geschichte nicht gegeben. War das ein Zufall? Das katholische „Radio Maryja“ war anderer Meinung: Die Flut sollte eine Strafe Gottes für unsere Sünden sein. Im Frühling 2000 haben strömende Regen Lawinen von Schmutz und Kot verursacht, die tausende von Menschen umgebracht haben. Während einer Predigt sagte der Erzbischof Caracas Msgr. I. Velasco, dass das eine Strafe für die Sünden ist. Letztes Jahr die Erderschütterung auf Sizilien. In der Schule kommen 25 kleine Kinder um. In einer katholischen Wochenzeitung schrieb der Feuilletonist Jerzy Pawlas, dass in San Guliano di Puglia die Erde gebebt hat, weil die Kinder statt zu lernen, sich auf das Halloween Fest vorbereitet haben.[3] Und was passierte in Kleists Novelle in 1647 in St. Jago? Nach einem Orgelvorspiel redete der Dominikanerprediger mit „Lob, Preis und Dank seine zitternden, vom Chorhemde weit umflossenen Hände hoch gen Himmel erhebend, daß noch Menschen seien, auf diesem, in Trümmer zerfallenden Teile der Welt, fähig, zu Gott empor zu stammeln“.[4] Er erklärt das Erdbeben als einen „bloßen Vorboten“ des Jüngsten Gerichts und setzt die Naturkatastrophe in einen Zusammenhang mit der „Sittenverderbnis der Stadt“, besonders aber dem sündigen Handeln der beiden Verliebten. Seine „heilige“ Interpretation des wuchtigen Geschehens als Fehlverhalten, argumentiert er mit einer Assoziation der biblischen Strafgerichte von Sodom und Gomorrha. Nicht nur den beiden Verliebten schiebt er die Schuld in die Schuhe, sondern auch die Stadt trägt eine Teilschuld an den Ereignissen, indem sie für die Schonung, die das Verhalten der beiden auf der Welt gefunden hat, verantwortlich ist. Die Strafpredigt der Chorherren ist deutlich in der alttestamentarischen Tradition sichtbar, nach der Gott um einzelner Sünder wegen, eine ganze Bevölkerung vernichten kann. Das Resultat dieser Predigt war verheerend.[5]
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[1] Vgl. http://www.goethe.de/it/mai/klassik/deerdbeb.htm
[2] Von Wiese, Benno: Die Deutsche Novelle von Goethe bis Kafka., Düsseldorf 1968. S. 59.
[3] Vgl. http://forum.wprost.pl/ar/?O=258501&NZ=2
[4] http://gutenberg.spiegel.de/kleist/erdbeben/chili.htm
[5] Vgl. http://www.tobias-bott.de/Rezeption.htm