Der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht erfreut sich kontinuierlicher Beliebtheit bei Deutschlehrern, denen die geleitete freie Schreibentfaltung der Schüler am Herzen liegt. Dieser Unterrichtsentwurf stellt eine „lyrische Variation“ desselben dar: Erarbeitet werden mit den Schülern eigene Barocksonette. Der Entwurf wird von Arbeitsergebnissen der Schüler und einer kritischen Evaluation abgerundet. Darüber hinaus bietet die Arbeit auch eine Zusammenfassung der Kompetenzen, die Literaturunterricht nach Gerhard Haas vermitteln soll.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Vorstellung des Konzepts
3. Ausgewählte Schülerarbeiten
4. Evaluation des Konzepts vor dem Kompetenzenhorizont
4.1 Literarische Kompetenz
4.2 Emotive Kompetenz
4.3 Kreative Kompetenz
4.4 Emanzipatorische Kompetenz
4.5 Projektionskompetenz
4.6 Ästhetische Kompetenz
4.7 Kritische Kompetenz
5. Schluss
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts hatte in Zittau der deutsche Schriftsteller und Pädagoge Christian Weise das Amt des Gymnasialdirektors inne. Ein wichtiger Teil der literarischen Ausbildung unter seiner Leitung bestand in einer bemerkenswerten Disziplin: dem regelgetreuen Verfassen von dramatischen Texten nach dem Vorbild zeitgenössischer (barocker) Dichter. Zu diesem Zweck führte er das Deutsche – statt des damals obligatorischen Lateinischen – als Unterrichtssprache ein.
Während der Geniekult des achtzehnten Jahrhunderts lyrische Schöpfungen aus dem Bereich des Handwerks im aristotelischen Sinne (ποίησις) und damit aus der schulischen Ausbildung drängte, war es im neunzehnten Jahrhundert der Siegeszug der Literaturwissenschaft mit ihrer Fokussierung auf analytische Verfahren, der einer Entfaltung kreativer Schreibdidaktik wenig Raum ließ: Ein Text müsse „wie ein Leichnam seciert [sic]“ werden, so die Ansicht eines Pädagoge des Jahres 1839.[1] Bis heute scheint mir eine Leichenschau die angemessene Analogie zur Tätigkeit in vielen Deutschstunden zu sein. Doch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hielt das kreative Schreiben durch reformatorische Theoretiker wie Otto Karstädt (Dem Dichter nach! Schaffende Poesiestunden, Langensalza 1913) erneut Einzug in die Mauern der Erziehungsinstitute.
Diese und noch andere Pädagogen sind die Väter und Urväter des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts (HPL), wie er Ende der achtziger Jahre in Deutschland populär wurde. Und an sie knüpfte ich an, als ich eine „schaffende Poesiestunde“ für eine achte Klasse eines Gymnasiums in Nürnberg erstellte. Ziel dieser Arbeit ist es, den didaktischen Nutzen und Nachteil meines Konzepts – und gleichsam des kreativen lyrischen Schreibens im Deutschunterricht in summa – vor dem Hintergrund der sieben Kompetenzen[2], die Literaturunterricht nach Haas vermitteln soll, zu reflektieren und kritisch zu bewerten. Die Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung ist insofern zwingend, als sich mein Konzept von den „geläufigen“ Methoden des HPL deutlich unterscheidet.[3] Am Ende soll feststehen, ob das Novalis-Motto meiner Arbeit in Haas’ Sinne abgewandelt werden könne: „Es ist leichter, Gedichte zu verstehen, indem man Gedichte macht [Hervorhebung n. i. O.].“[4]
2. Vorstellung des Konzepts
Mit meiner Deutschklasse behandelte ich zu diesem Zeitpunkt das Thema Barock. So bot es sich an, eine Aufgabe zum kreativen Schreiben im Rahmen eines handlungs- und produktionsorientierten Deutschunterrichts nach dem Konzept von Gerhard Haas durchzuführen.
Nach der Besprechung der formalen und inhaltlichen Kriterien zur Gestaltung eines Sonetts begaben wir uns in den Cramer-Klett-Park am Nürnberger Rathenauplatz. Dort hatte ich vorab an verschiedene Baumstämme je zwei Blättern mit gegensätzlichen Begriffen wie Leben und Tod, Liebe und Hass, Krieg und Frieden usw. mitsamt einem passenden assoziativen Bild aus der Kunstgeschichte geheftet.
Die Schüler sollten sich nun einen Baum aussuchen, sich (ein wunderbar romantisches Klischee verkörpernd) mit Stift und Papier daruntersetzen und die jeweiligen Polaritäten in Form eines regelgetreuen Sonetts selbständig verarbeiten. Inspiration boten poetische Schlagwörter aus originalen Barockdichtungen, die auf herumliegende Laubblätter geschrieben waren und mit denen die Schüler ihr Werk schmücken konnten.
Die Schüler fühlten sich angesprochen und waren motiviert in ihre Arbeit vertieft. So sind viele inhaltlich und formal sehr schöne Dichtungen entstanden, von denen Sie auf den nächsten Seiten eine Auswahl betrachten können.
3. Ausgewählte Schülerarbeiten
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
4. Evaluation des Konzepts
vor dem Kompetenzenhorizont
4.1 Literarische Kompetenz
An erster Stelle steht die literarische Kompetenz als „die Fähigkeit, mit einem Text Kontakt aufzunehmen und eine […] emotional-affektive oder kognitive Verbindung mit ihm einzugehen“[5]. Die sechs weiteren gleichsam abstrakt umreißend, ist diese erste Kompetenz so allgemein formuliert, dass man wohl schwerlich eine Unterrichtsmethode findet, durch die sie nicht in irgendeiner Hinsicht gefördert würde.
In Bezug auf die meine sei gesagt, dass die emotional-affektive Verbindung zu einem selbst verfassten Text schon per se gegeben ist. In einer kognitiv-literarischen Transferleistung führt sie aber auch zum verbesserten Verständnis und zur größeren Identifikationspotenz im Umgang mit fremden Texten; darüber hinaus ist die Gattung, in der die Schüler ihren Text verfassen sollten, schon an sich eine Fremderfahrung: Es war für manche Schüler das erste Mal, dass sie einen Text in ein so strenges Mieder wie das des Metrums und der Versfaktur zwängen mussten.
4.2 Emotive Kompetenz
Unter der emotiven Kompetenz versteht Haas „die Fähigkeit und zugestandene Freiheit, im Zusammenhang von Lektüre Gefühle zu zeigen, […] emotionale Spannung zu genießen und sich identifikatorisch mit dem fiktionalen Geschehen zu verbinden“.
Aus den Gedichten der Schüler ist oft eine hohe emotionale Identifikation mit den behandelten Polaritäten – besonders „Leben und Tod“ und „Liebe und Hass“ – herauszulesen. Insofern halte ich die Methode für geeignet, die emotive Kompetenz der Schüler zu stärken. Wenn man „am eigenen Leib“ die Erfahrung gemacht hat, dass ein literarischer Text Ausdruck von persönlichen Gefühlen und „emotionalen Spannungen“ sein kann, erkennt man diesen Ausdruck auch in fremden Texten besser. Einen Beweis hierfür bietet bereits die Auseinandersetzung der Schüler mit den Texten ihrer Mitschüler.
Man möchte nun einwenden, dass sich einige Schüler durch die Vortragssituation vor der Klasse gehemmt oder bloßgestellt fühlten und so gerade keine Emotionen zulassen könnten. In meiner Klasse war das allerdings nicht der Fall; das gute Klassenklima und die angenehme Umgebung der Gedichtsproduktion trugen hierzu wohl einen wesentlichen Teil bei.
4.3 Kreative Kompetenz
Durch die kreative Kompetenz sollen Schüler in der Lage sein, „auf Texte aktiv-produktiv-handelnd zu antworten“.
Die Aufgabenstellung der Methode ist meines Erachtens im hohen Maße geeignet, die Kreativität der Schüler zu wecken und zu kanalisieren. Dies beweisen die sehr originellen und engagiert ausgeführten Ergebnisse.
4.4 Emanzipatorische Kompetenz
Die emanzipatorische Kompetenz soll ermöglichen, „sowohl bei der Wahl der Texte wie bei der Entscheidung über die Form des Umgangs mit ihnen mitzuwirken“ als auch „aus einer bestimmten Lage/Situation/Stimmung heraus Lesen als Form der Distanzierung vom Alltäglichen […]“ und „von bestimmten Interessenlagen […] als Mittel der Information zu benutzen“.
Hierzu scheint die Methode auf den ersten Blick ungeeignet zu sein, da sich die Schüler auf die Produktion einer vorgegebenen Textsorte fokussieren mussten; insofern wurde ihnen eine „emanzipatorische“ Auswahl nicht gestattet. Jedoch zeigte sich, dass die Aufgabe einige Schüler auch über diese Stunde hinaus für die Produktion freier lyrischer „Gebrauchstexte“ (Glückwunsch-Gedichte o. Ä.) begeisterte. Dieser intrinsisch motivierte Prozess ist Ausdruck einer emanzipatorischen Kompetenz, die ich zum Teil auf das Projekt zurückführe.
4.5 Projektionskompetenz
Die Projektionskompetenz befähigt dazu, „literarische Texte als Impuls und Antrieb für die Übertragung in reale Situationen und Erfahrungen einzusetzen, aber ebenso lesend den eigenen Wirklichkeitsraum zu übersteigen“.
Da Gedichte per se eine alternative Wirklichkeit schaffen und durch einen Bruch mit der alltäglichen Weltbetrachtung gekennzeichnet sind, ist die Methode für die Kompetenzausbildung in der ersten Hinsicht durchaus ungeeignet, in der zweiten jedoch exemplarisch für die – im Wechselprozess aus Lesen und Schreiben konstituierte – Fähigkeit zur Realitätsexpansion.
4.6 Ästhetische Kompetenz
Ästhetische Kompetenz umfasst die Befähigung, „einen Text als poetologische Struktur zu sehen, seine Form zu analysieren […] sowie in seiner Funktion einzuschätzen“.
Hier sehe ich eine große Stärke der Methode: Durch das eigenständige Verfassen formalen Kriterien entsprechender Texte wird diese Kunst erst zu schätzen gelernt und in ihrer Regelmäßigkeit verinnerlicht. Ein vorangehender analytischer Unterricht wird durch die Methode vertieft und bleibt, indem er mit einem Erlebnis und einer besonderen Umgebung in Verbindung gebracht wird, länger im Gedächtnis haften.
4.7 Kritische Kompetenz
Zuletzt führt Haas die kritische Kompetenz an – die Fähigkeit, einen Text „von ideologiekritischen, politischen, sozialen oder ethischen Gesichtspunkten aus kritisch zu befragen […] als auch seine Form ästhetisch zu werten und zu beurteilen“.
Als Lehrperson stand ich vor der Entscheidung, ob ich die Schülerarbeiten nach formalen, ästhetischen und inhaltlichen Kriterien benoten sollte. Unter Berücksichtigung des genannten Kompetenzaspekts entschied ich mich dafür. Die konstruktiven Rückmeldungen zu den Gedichten gaben den Schülern Anlass zur Selbstkritik – was ja bekanntlich die schwerste Form der Kritik ist. Indem die Schüler die ästhetisch-formalen Mängel ihrer Arbeit (z. B schiefe Sprachbilder, mangelnder Rhythmus, fehlende Stringenz der Gedankenführung) reflektierten, schärften sie auch ihr Urteil über lyrische Texte im Allgemeinen. Dies zeigt sich auch daran, dass die Schüler die Stärken und Schwächen der Gedichte ihrer Mitschüler sofort bemerkten – freilich ohne dabei eine persönliche Abwertung einfließen zu lassen.
Als Gegenargument wäre vom Standpunkt des Konstruktivismus aus einzuwenden, dass die Kriterien, nach denen ein Gedicht als „gut“ oder „schlecht“ bewertet wird, zum Teil traditionell-kanonisch, zum Teil subjektivistisch-biographisch konstituiert und in summa objektiv nicht begründbar seien. Vom pädagogischen Blickwinkel aus könnte hingegen auf die Gefahr der Demotivation der Schüler hinwiesen werden („Ich kann so was einfach nicht!“), wodurch diese sich von einer kritischen Kompetenz eher entfernten („Ich verstehe nicht, warum ein Gedicht schlechter sein soll als ein anderes!)“. Diese Kurzarbeit ist nicht der Ort, um auf philosophische Fragestellungen einzugehen; so nehmen wir einfach an, dass es möglich und sinnvoll ist, Literatur nach ästhetischen Kriterien zu bewerten. Eingedenk des zweiten Punktes kann ich zu meiner Rechtfertigung sagen, dass ich in meiner Arbeit mit dieser Klasse stets eine positive Auswirkung von ehrlicher, kritischer Rückmeldung erlebt habe. Der Ehrgeiz dieser Schüler wird dadurch eher geweckt als getrübt.
Zuletzt: Für die Befähigung, einen Text von „ideologiekritischen“ Gesichtspunkten aus zu befragen, ist mein Konzept weder gedacht noch geeignet.
5. Schluss
Wenngleich einer vertieften Abwägung der methodischen Vor- und Nachteile noch einiges hinzuzufügen wäre, lassen wir es, verschuldet durch den geringen Platz[6], hierbei bewenden.
Bleibt nur noch Novalis’ Ausspruch im Haas’schen Gewand. Ist es leichter, Gedichte zu verstehen, indem man Gedichte macht ? Vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen mit der Methode – freilich eine wenig repräsentative, aber im Rahmen meiner Möglichkeiten die einzig mögliche – sowie der Erörterungen in diesem Aufsatz darf ich dem meine vollste Zustimmung aussprechen.
Literaturverzeichnis
Haas, Gerhard: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. Seelze 72007 [1997]
Winzer, Hans-Joachim: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht: ein Überblick. Oldenburg 1993
Waldmann, Günter: Produktiver Umgang mit Lyrik. Baltmannsweiler 152016
[1] Adolph Diesterweg: Praktischer Lehrgang für den Unterricht in der deutschen Sprache. Crefeld 31839, S. 20 (zitiert nach: Gerhard Haas, Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. Seelze 72007 [1997], S. 31; im Folgenden wird diese Monographie mit dem Kürzel HPL bezeichnet)
[2] Vgl. Haas: HPL, S. 35–37
[3] Die Methoden des HPL, wie ihn Haas in seiner Monographie entwirft, sind im Wesentlichen weniger komplex und nicht genuin schöpferisch. Ich nenne hier exemplarisch die „Zeilenkombination als Form produktiven Verstehens“ (S. 56ff.), das Schreiben von „Parallelgedichten“ (S. 69ff.) und die Verwendung von „Schriftstärke oder Schriftart als Mittel und Form der indirekten Interpretation“ (S. 122ff.).
[4] Haas: HPL, S. 55
[5] Hier und im Folgenden: Haas: HPL, S. 35–37
[6] (Der jetzt schon überschritten wurde.)
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