Helmut Schmidts "spitzer Stein". Eine Untersuchung der alveolaren s-Realisierungen vor Plosiven anhand von Interviews


Hausarbeit, 2016

30 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhalt

1. Einleitung

2. Methodik

3. Interview aus dem Jahr 1965
3.1. Interview aus dem Jahr 1966
3.2. Interview aus dem Jahr 1989
3.3. Interview aus dem Jahr 1997
3.4. Interview aus dem Jahr 2015

4. Fazit: Feststellung Auers und das Beispiel „Helmut Schmidt“
4.1. Fazit: Ausspracheveränderung im Laufe der Zeit
4.2 Fazit: Gründe für die unregelmäßige Verwendung des Merkmals

5. Quellenverzeichnis

6. Anhang

1. Einleitung

Am 23. November fand zu Ehren Helmut Schmidts ein Staatsakt im Hamburger Michel statt. Schmidt starb 13 Tage zuvor im Alter von 96 Jahren. Familie, Freunde und Politiker aus aller Welt erwiesen Helmut Schmidt an diesem Tag die letzte Ehre.[1] Darunter auch Olaf Scholz, Erster Bürgermeister von Hamburg. In seiner Rede ehrt Scholz nicht nur den großen Politiker Schmidt, den weltbekannten Staatsmann und den fleißigen Publizisten, sondern eben auch den einfachen Mann aus Hamburg:

„Meine Damen und Herren, von Helmut Schmidt haben wir auch immer wieder aufs Neue gelernt, wie wichtig Heimat ist. Für ihn hieß diese Heimat Hamburg. Als Politiker und Publizist hat Helmut Schmidt Deutschland, Europa und die Welt geprägt. Zu Hause war er aber hier in der Freien und Hansestadt, kulturell, intellektuell und persönlich. Natürlich konnte und wollte er seine Heimatstadt nicht verleugnen, zu deutlich hörte man seine Herkunft, wenn er im Bundestag das Wort ergriff. Die hamburgische Schnoddrigkeit aus der man die Jugend in Barmbek heraushören konnte, gehörte ebenso zu ihm wie die natürliche Eleganz des freiheitsliebenden hanseatischen Bürgers, der auch über den spitzen Stein stolpern konnte.“[2]

Helmut Schmidt war für vieles bekannt. Neben seinen politischen Tätigkeiten, seinem unerschöpflichen Willen das Weltgeschehen zu kommentieren und seiner Menthol-Zigarette eben auch dafür, dass er auch häufiger den „spitzen Stein“ alveolar realisierte, worauf auch Olaf Scholz in seiner Rede verwies. Die Verbreitung der Realisierung s vor p,t erstreckt sich über weite Teile des norddeutschen Sprachraumes.[3] Peter Auer führt die alveolare s-Realisierung jedoch explizit als ein Merkmal der Hamburger Stadtsprache ein.[4] Er beschreibt zunächst, dass die nicht-palatalisierte Version des anlautenden /s/ „überhaupt nur im Harmonie- und Integrationsmilieu in erwähnenswertem Umfang“[5] vorkommt. Mit Bezug auf den Soziologen Gerhard Schulze skizziert Auer das Harmoniemilieu wie folgt:

„ältere Personen mit geringer Bildung, Nähe zum Trivialschema, Distanz zum Spannungs- und Hochkulturschema, ältere Arbeiter und Verkäuferinnen/Rentner, Genußschema ,Gemütlichkeit‘, Streben nach Geborgenheit, Einfachheit und Ordnung […]“[6]

Das Integrationsmilieu hingegen wird folgendermaßen charakterisiert: „ältere Personen mit mittlerer Bildung, mittlere Angestellte und Beamte, Genußschema ‚Gemütlichkeit und Kontemplation‘, Streben nach Konformität […]“[7]. Jedoch kann Helmut Schmidt nicht in einer dieser beiden Kategorien verortet werden. Er erfüllt hingegen die Kriterien des Niveaumilieus:[8]

„ältere, gebildete Personen mit Nähe zum Hochkultur- und Distanz zum Spannungsschema, gehobene Berufsgruppen, Genußschema ,Kontemplation‘, hierarchische, rangorientierte Perspektive […].“[9]

Somit wird zunächst ein Widerspruch deutlich, da Schmidt, wie bereits angedeutet, dafür bekannt ist, dass er gelegentlich die alveolare Variante realisiert, aber eben nicht zu einem der dazu typischen Milieus gehört. Auer problematisiert dahingehend jedoch, dass es fraglich ist, „ob die Milieueinstufung die beste Erklärung für die mangelnde /s/-Palatalisierung ist.“[10] Er kommt zu dem Schluss, dass die regionale Form offenbar sowohl kennzeichnend für höheres Lebensalter aber auch gleichzeitig für das Harmoniemilieu ist.[11] Es könnte also von einer gegenseitigen Bedingung gesprochen werden. Kritisch fügt Auer ebenfalls hinzu, dass es keine Gewährspersonen aus dem Niveaumilieu im Alter von über 70 Jahren gegebene hätte.[12] Die Frage nach der Milieuabhängigkeit ist also nicht ohne weiteres bewiesen. Auch Auer zieht das Beispiel „Helmut Schmidt“ heran, um auf die Besonderheit und Problematik dieses Merkmals zu verweisen. Die Arbeit wird an den eben genannten und problematischen Aspekten anknüpfen. Es kann lediglich vermutet werden, warum Helmut Schmidt über den „spitzen Stein stolpert“, obwohl er nicht in eines der dafür typischen Milieus passt – wobei wie angemerkt, nicht eindeutig geklärt werden kann, inwiefern das Milieu neben dem Alter einen Einflussfaktor darstellt. Hauptaugenmerk der Arbeit soll jedoch auf folgender Feststellung Auers liegen: „die einzelnen Gewährspersonen ‚stolpern‘ entweder über den ‚spitzen Stein‘ – dann zu annähernd 100% -, oder sie tun es nicht.“[13] Die für diese Arbeit erhobenen Daten legen nahe, dass das Beispiel „Helmut Schmidt“ auch hier nicht dieser Erwartung entspricht. Ziel der Arbeit ist es demzufolge zu klären, was der Grund für diese scheinbare Unregelmäßigkeit ist. Möglicherweise hängen die beiden Aspekte zusammen: Die Tatsache, dass Schmidt nach Auer zu einem für dieses Merkmal untypischen Milieu gehört als auch das hohe Alter. Die Analyse der Daten soll versuchen dies zu klären. Zuvor soll sowohl das methodische Vorgehen der Datenerhebung als auch der weitere Verlauf der Arbeit erläutert werden.

2. Methodik

Es wurden aus insgesamt fünf Interviews mit Helmut Schmidt Daten erhoben. In allen Interviews handelt es sich um klassische Zwiegespräche, die mit Kameras aufgezeichnet wurden, bei keinem der Interviews waren Zuschauer involviert oder anwesend. Damit ist zunächst eine Vergleichbarkeit der Sprechersituation sichergestellt, denn nur so können mögliche Veränderungen bei der Aussprache auch wirklich als solche identifiziert werden. Die Interviews stammen aus den Jahren 1965, 1966, 1989, 1997 und 2015. Die zeitlichen Abstände zwischen den Interviews sind in diesem Fall unregelmäßig. Zum einen ist es schwer möglich, Interviews mit stets gleichen zeitlichen Abständen zu wählen, da das Internet (Mediatheken und YouTube) nur eine begrenzte Auswahl zur Verfügung stellt. Zum anderen müssen die eben genannten Kriterien auf die Sprachzeugnisse Schmidts zutreffen, was wiederum den Korpus an möglichen Interviews verkleinert. Die zeitlichen Abstände sind jedoch so gewählt, dass eventuelle sprachliche Veränderungen plausibel dargestellt werden können, mit Ausnahme der Interviews aus dem Jahr 1965 und 1966, welche einen geringen zeitlichen Abstand zueinander haben. Das Interview aus dem Jahr 1965 ist eines der frühesten, wenn nicht sogar das früheste Fernsehinterview, was im Internet zu finden ist, weswegen es ebenfalls in die Untersuchung mit einfließt – es kann in diesem Fall lediglich als Ergänzung angesehen werden.

Das kürzeste Interview ist lediglich wenige Minuten lang, das längste deutlich über eine Stunde. Um den Umfang bei den längeren Interviews zu verringern, wurden jeweils zwei Stichproben (ca. 10 Minuten) innerhalb eines Interviews genommen. Eine Stichprobe zu Beginn des Interviews sowie eine am Ende. Es ließ sich häufig feststellen, dass zum Ende des Interviews die alveolare Variante häufiger realisiert wurde, als zu Beginn. Welche Gründe es dafür geben könnte, wird im weiteren Verlauf der Arbeit versucht zu erklären. Beide Stichproben eines Interviews werden jeweils zunächst einzeln, anschließend zusammen ausgewertet. Die Repräsentativität der Stichproben muss an dieser Stelle kritisch hinterfragt werden und wird bei der weiteren Untersuchung berücksichtig. Aber auch das gesamte Unterfangen der Hausarbeit darf nicht vorbehaltlos als repräsentativ aufgefasst werden.

In chronologischer Reihenfolge werden in den folgenden Kapiteln die erhobenen Daten der Interviews ausgewertet. Dabei werden sowohl die jeweiligen Interviewsituationen beschrieben als auch die jeweilige Tätigkeit Schmidts, die er zu den verschiedenen Zeitpunkten ausübte. Die erhobenen Daten sollen also zunächst eng am Kontext des Interviews ausgewertet werden. Zum Ende hin soll, sofern vorhanden und belegbar, die Ausspracheveränderung Schmidts im Laufe der Zeit beschrieben werden. Im Zuge dessen wird sich zeigen, inwiefern die bereits angeführten Feststellungen Auers zutreffen beziehungsweise nicht zutreffen und warum dies so sein könnte.

Belege mit der Graphemfolge <sp> und <st> im Wortanlaut sowie im Morphemanlaut nach Präfixen wurden berücksichtigt.[14] Das Lehnwort „Staat“ wurde ebenfalls mit als Beleg angeführt. Die Eigennamen „Stockholm“ und „Strauß“ (Franz Josef Strauß, Politiker), welche durchaus als Beleg in Betracht kämen, wurden mit Vorbehalt in die Untersuchung mit aufgenommen.

Genauere Informationen zu den aufgezeichneten Interviews (Metadaten, Quellenangaben, Zeitangaben für die Stichproben, Beleglisten) werden im Anhang dieser Arbeit bereitgestellt.

3. Interview aus dem Jahr 1965

Im Folgenden soll nun das Interview aus dem Jahr 1965 genauer betrachtet werden. Wie bereits am Anfang deutlich gemacht wurde, ist es eines der frühesten Aufzeichnungen von Helmut Schmidt. Schmidt ist zu diesem Zeitpunkt 47 Jahre alt. Ein Jahr zuvor wurde er in die zehnköpfige Regierungsmannschaft Willy Brandts für die Bundestagswahlen 1965 aufgenommen. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Schmidt also erneut Mitglied des Bundestages.[15] Der Name der Sendung sowie Sender des Beitrags werden mit dem Videoausschnitt nicht deutlich.

Die Gesamtlänge des Videos beträgt ca. 8 Minuten. Die tatsächliche Interviewzeit beträgt jedoch nur ca. 5 Minuten. Ziel des Beitrags ist es, ein Portrait von Helmut Schmidt zu erstellen, dementsprechend werden neben dem Interview auch noch andere und für die Arbeit uninteressante Sequenzen gezeigt. Helmut Schmidt wird als Repräsentant seiner Vaterstadt Hamburg dargestellt. Das Interview findet in einem Büro Schmidts statt. Die Themen sind unter Anderem die Faszination Schmidts an der Politik, aber auch sein persönlicher Weg in die Politik. Auch wird auf die rhetorische Begabung Schmidts eingegangen. Insgesamt gestaltet sich das Interview eher persönlich, da auch Schmidt viele private und subjektive Sichtweisen darlegt.

Von den insgesamt 10 Belegen realisiert Schmidt zwei alveolar: „steckt“ und „Beispiel“. In Prozentzahlen ausgedrückt bedeutet das, dass Schmidt hier zu 20 Prozent die alveolare Variante realisiert.[16] Ein möglicher Einfluss des Interviewers zugunsten der alveolaren Variante kann ausgeschlossen werden, da er selber kein einziges Mal eine alveolare Variante realisiert. Aus dem Kontext des Interviews heraus lässt sich also nicht erklären, warum Schmidt ausgerechnet bei den eben genannten Belegen die alveolare Variante realisiert.

Die alveolare Realisierung erscheint also zunächst recht willkürlich. Jedoch widerspricht die Auswertung bereits der These, dass die alveolare Variante zu annähernd 100 Prozent oder eben gar nicht realisiert wird. Dass alveolare Varianten jedoch überhaupt realisiert werden scheint mit Blick auf den Zeitpunkt nicht ungewöhnlich, die Häufigkeit hingegen schon: Mit Bezug auf den Pfeffer-Korpus verdeutlicht eine Karte des NOSAs, dass in Hamburg die Häufigkeit der alveolaren s-Realisierungen bei den Gewährspersonen bei über 90 Prozent lag.[17] Die Pfeffer-Daten stammen aus dem Jahr 1961, das Interview aus dem Jahr 1965. Ob möglicherweise eine „Unterdrückung“ der Variable in der Interviewsituation stattgefunden hat, kann zu diesem Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden. Es wäre denkbar, dass die standardisierte Variante vorgezogen worden ist, da Schmidt sich seines öffentlichen Auftritts sehr bewusst war. Das Interview ist recht kurz und könnte somit als wenig aussagekräftig anerkannt werden. Dementsprechend wird nun im folgenden Kapitel das Interview aus dem Jahr 1966 hinsichtlich des Merkmals genauer analysiert. Das Interview ist deutlich länger, der zeitliche Abstand ist zudem gering, sodass sich zeigen lassen wird, inwiefern die bis hierhin gemachten Beobachtungen bestätigt werden können.

3.1. Interview aus dem Jahr 1966

Das zweite Interview stammt aus der langjährigen Sendung „Zur Person“ mit Günter Gaus. Die Sendung startete im Jahr 1963 und wurde auf verschiedenen Kanälen mit anderen Namen in den folgenden Jahren immer wieder fortgesetzt. Gaus selber war ein „engagierter und hochverehrter Journalist, Publizist, Diplomat und Politker.“[18] Insbesondere wurden Politiker von Gaus interviewt, darunter auch Strauß, Adenauer und Erhard. Die Gesamtlänge des Interviews beträgt rund eine Stunde. Wie bereits erwähnt, wurde eine Stichprobe zu Beginn und eine am Ende des Interviews genommen. Die Interviewsituation gestaltet sich ähnlich wie jene aus dem Jahr 1965. Beide Personen sitzen sich gegenüber, ein Publikum ist nicht involviert. Schmidts persönliche Situation hat sich im Jahr 1966 nicht wesentlich verändert. Im Vergleich mit dem ersten Interview gestalten sich die Themen der ersten Stichprobe etwas formaler und vom Inhalt politischer: Schmidts Rückkehr in die Opposition des Bundestages, Gründe für den Misserfolg der SPD und Vorbehalte gegenüber der CDU. Bei der zweiten Stichprobe wird wiederum stärker Schmidts persönliche Meinung eingefordert. So beurteilt Helmut Schmidt den Politiker Franz Josef Strauß (CSU) und beschreibt den risikobehafteten Beruf eines Politikers. Dies könnte eventuell ein Grund sein, warum Schmidt innerhalb der ersten Stichprobe gut 12 Prozent der Belege alveolar realisiert, in der zweiten jedoch 22 Prozent. Die Prozentwerte sind gut vergleichbar, da beide Stichproben 17 (1. Stichprobe) beziehungsweise 18 (2. Stichprobe) Belege hergeben. Für beide Stichproben zusammen ergibt sich ein Mittelwert von rund 17 Prozent, was durchaus mit den 22 Prozent aus dem vorherigen Interview aus dem Jahr 1965 zu vergleichen ist.[19] Auffällig ist dennoch der nicht unerhebliche Unterschied zwischen den Prozentzahlen der beiden Stichproben. Dafür könnte es mehrere Erklärungen geben. Zum einen wäre es denkbar, dass nach einer gewissen Zeit des Interviews, sich beide Parteien aufeinander einstellen konnten, sodass der allgemeine „Wohlfühlfaktor“ angestiegen ist. Objektiv lässt sich das jedoch nicht belegen. Das Aufgreifen von persönlicheren Themen könnte jedoch ein Indiz dafür sein. Hinzu kommt, ein zugegebenermaßen etwas spekulativer Grund, die Zigarette. In den ersten 18 Minuten greift Helmut Schmidt kein einziges Mal zur Zigarette, die Stichprobe bezieht sich auf die ersten 10 Minuten. In der zweiten hingegen schon. Bei 3 der insgesamt 4 alveolaren Realisierungen in der zweiten Stichprobe hat Schmidt eine Zigarette in der Hand. Es kann zumindest davon ausgegangen werden, dass der „Wohlfühlfaktor“ durch eine Zigarette steigt und so die alveolaren Realisierungen häufiger vorkommen. Die Prämisse ist an dieser Stelle allerdings, dass Schmidt in diesem Interview das Merkmal unterdrückt, wofür es jedoch keine Belege gibt. Ein wahrscheinlicherer Grund ist jedoch, dass Günter Gaus, der selber 100 Prozent der Belege alveolar realisiert[20] und damit die These Auers bestätigt, Schmidts Aussprache im Laufe der Interviews beeinflusst hat. Ein Beispiel belegt dies besonders deutlich, in dem Schmidt die Aussprache von Gaus übernimmt, als er ein Wort von Gaus direkt aufgreift:[21]

Gaus: „Als sie vor der Wahl st anden.“

Schmidt: „Ja, ich st and gar nicht vor der Wahl, für mich gab es keine Wahl.“

Das Wort „ st and“ wird von Gaus alveolar realisiert und von Schmidt unmittelbar danach aufgegriffen und ebenfalls alveolar realisiert. Eines der darauf folgenden Worte, nämlich „selbstver st ändlich“ wird von Schmidt jedoch wieder palatal realisiert, das kurz darauf folgende Wort „ st ark“ jedoch wieder alveolar. Was hieraus deutlich wird ist zumindest, dass Schmidt sich vom Interviewer beeinflussen lässt, in welchem Ausmaß ist jedoch nicht zu klären. Insgesamt lässt sich jedoch, wie auch zuvor, nicht die These bestätigen, dass die Sprecher entweder zu 100% oder gar nicht alveolar realisieren. Auch hier scheinen die alveolaren Realisierungen recht willkürlich – wobei mögliche Gründe angeführt worden sind, was Schmidt dazu veranlasst haben könnte, s vor p,t alveolar zu realisieren. Jedoch muss dabei die Prämisse beachtet werden, nämlich dass Schmidt das Merkmal unterdrückt, wofür es keine eindeutigen Belege gibt – zumal nur eine Gesprächssituation in dieser Hausarbeit behandelt wird. Besonders auffällig ist zudem, dass Günter Gaus ebenfalls im Niveaumilieu[22] verortet werden kann und die These Auers bestätigt – wobei hier angemerkt werden muss, dass sich Auers Feststellungen lediglich auf den Bereich Hamburg beziehen. Der Unterschied zwischen Schmidt und Gaus bezüglich der alveolaren Realisierungen ist jedoch stark, da Gaus erheblich häufiger – zu annähernd 100 Prozent – das Merkmal realisiert.[23] Anders als Schmidt wurde Gaus nicht in Hamburg, sondern in Braunschweig geboren und war 11 Jahre jünger. Auch für Braunschweig legen die Daten des Pfeffer-Korpus‘ nahe, dass im Jahr 1961 die Häufigkeit von alveolaren s-Realisierungen bei über 90 bis 100 Prozent lag. Zunächst verdeutlicht diese Beobachtung noch einmal, dass Helmut Schmidt scheinbar eine Ausnahme hinsichtlich des Gebrauchs dieses Merkmals darstellt. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird an diese Beobachtungen erneut angeknüpft.

3.2. Interview aus dem Jahr 1989

Das dritte Interview mit Helmut Schmidt, mit welchen sich im Folgenden beschäftigt werden soll, wurde im Jahr 1989 erstausgestrahlt. Es ist im Rahmen der Interview Reihe des ZDFs „Zeugen des Jahrhunderts“ entstanden und ist ungefähr eine Stunde lang.[24] In diesem Format wurden und werden Personen der Zeitgeschichte von wechselnden Gesprächspartnern befragt. In diesem Fall hat der Journalist Klaus Bresser das Interview mit Helmut Schmidt geführt. Auch hier findet das Interview in einem Büro statt, vermutlich ein Büro Schmidts, genau belegen lässt sich dies jedoch nicht. Schmidt ist zu diesem Zeitpunkt bereits 71 Jahre alt. Seine aktive Kanzlerzeit von 1974 bis 1982 liegt ebenfalls hinter ihm. Schmidt war ab 1983 Mitherausgeber von der Wochenzeitung „Die Zeit“ und blieb es bis zu seinem Tod.[25]

Die Themen beziehen sich innerhalb der ersten Stichprobe auf die politische Lage in Deutschland und die damit verbundene Wiedervereinigung, so Schmidt: „Ich habe nie gedacht, dass ich das noch erleben würde, ich bin jetzt 71 Jahre alt, aber im Augenblick scheint es beinahe möglich, dass ich es noch erlebe.“[26] Des Weiteren geht Schmidt kurz auf seine Jugend im Nationalsozialismus ein. Die Themen innerhalb der zweiten Stichprobe beziehen sich auf die Entscheidung des NATO-Doppelbeschluss‘ sowie auf allgemeine Fähigkeiten und Pflichten eines guten Staatslenkers. Alle Themenbereiche sind mehr oder weniger politisch, es gibt keine nennenswerten Beobachtungen. Im Vergleich zu den bisher behandelten Interviews ist jedoch auffällig, dass sich die Prozentzahl an alveolaren s-Realisierungen erheblich verringert hat. Die erste Stichprobe belegt, dass von den 12 Belegen, 0 Prozent alveolar realisiert worden sind. Die These Auers kann in diesem Fall bestätigt werden. In der zweiten Stichprobe hingegen wurden von den insgesamt 27 Belegen lediglich 2 alveolar realisiert. Im Verhältnis sind das 7,4 Prozent. Für beide Stichproben zusammen ergibt das einen Mittelwert von ungefähren 5,1 Prozent.[27] Aus zusammengenommen 39 Belegen lediglich 2 alveolar zu realisieren, erscheint recht wenig. Es ist aber auch davon auszugehen, dass im gesamten Verlauf des Interviews weiter vereinzelte Belege mit alveolarer Realisierung gefunden werden könnten. Somit ist es nicht ganz eindeutig, inwiefern Auers These hier als bestätigt angesehen werden kann. Die Auswertungen tendieren zumindest dazu, der These Auers zu entsprechen: „die einzelnen Gewährspersonen ,stolpern‘ entweder über den ,spitzen Stein‘ – dann zu annähernd 100% -, oder sie tun es nicht.“ Da Auer das Wort „annähernd“ verwendet, kann davon ausgegangen werden, dass bei häufigem Gebrauch alveolarer Realsierungen kleinere Abweichungen denkbar sind. Der Zusatz „oder sie tun es nicht“ legt jedoch nicht nahe, dass sporadischer Gebrauch mit inbegriffen ist, wie es scheinbar in diesem Interview der Fall ist. Somit kann lediglich von einer Tendenz gesprochen werden – die Tendenz dazu, die Feststellung zu bestätigen.

[...]


[1] Vgl. Hamburg und die Welt verneigen sich. Staatsakt für Helmut Schmidt. Auf: tagesschau.de, unter: https://www.tagesschau.de/inland/staatsakt-schmidt-105.html (abgerufen am 01.04.2016).

[2] Scholz, Olaf: Rede vom 31.11.2015 anlässlich des Todes von Helmut Schmidt. Auf: YouTube, unter: https://www.youtube.com/watch?v=zhF-QvcTOV4, 12:22 - 13:12 (abgerufen am 29.03.2016).

[3] Vgl. Elmentaler, Michael; Rosenberg, Peter (2015): Norddeutscher Sprachatlas (NOSA). Band 1: Regiolektale Sprachlagen. Unter der Mitarbeit von Andresen, Liv; Ehlers, Klaas-Hinrich; Eichhorn, Kristin; Langhanke, Robert; Reuter, Hannah; Scharioth, Claudia; Wilcken, Viola, S. 335.

[4] Vgl. Auer, Peter (1998): Hamburger Phonologie. Eine variationslinguistische Skizze zur Stadtsprache der Hansestadt heute, S. 11. Unter: http://paul.igl.uni-freiburg.de/auer/userfiles/downloads/Hamburger%20Phonologie.pdf (abgerufen am 29.03.2016).

[5] Auer: Hamburger Phonologie, S. 11-12.

[6] Auer: Hamburger Phonologie, S.5.

[7] Auer: Hamburger Phonologe, S. 5.

[8] Vgl. Biografie: Helmut Schmidt. Auf: Lebendiges Museum Online, unter: https://www.hdg.de/lemo/biografie/helmut-schmidt.html (abgerufen am 31.03.2016).

[9] Auer: Hamburger Phonologie, S. 5.

[10] Auer: Hamburger Phonologie, S. 12.

[11] Vgl. Auer: Hamburger Phonologie, S. 12-13.

[12] Vgl. Auer: Hamburger Phonologie, S. 13.

[13] Auer: Hamburger Phonologie, S. 12.

[14] Vgl. NOSA, S. 336.

[15] Vgl. Biografie: Helmut Schmidt. Auf: Lebendiges Museum Online, unter: https://www.hdg.de/lemo/biografie/helmut-schmidt.html (abgerufen am 31.03.2016).

[16] Vgl. Anhang, S. 19.

[17] Vgl. NOSA, S. 338.

[18] Biografie: Günter Gaus. Auf: Rundfunk Berlin-Brandenburg Online, unter: http://www.rbb-online.de/zurperson/die_sendung/guenther_gaus.html (abgerufen am 29.03.2016).

[19] Vgl. Anhang, S. 20-21.

[20] Vgl. Anhang, S. 22.

[21] Zur Person: Günter Gaus im Gespräch mit Helmut Schmidt. Auf: YouTube, unter: https://www.youtube.com/watch?v=x2xL0ZFaSFc, 8:11 – 8:16 (abgerufen am 30.03.2016).

[22] Vgl. Biographie: Günter Gaus. Auf: Rundfunk Berlin-Brandenburg Online, unter: http://www.rbb-online.de/zurperson/die_sendung/guenther_gaus.html (abgerufen am 29.03.106).

[23] Vgl. Anhang, S. 22.

[24] Vgl. Zeugen des Jahrhunderts im ZDF: Auf: zdf.de, unter: http://www.zdf.de/zeugen-des-jahrhunderts/zeugen-des-jahrhunderts-32549462.html (abgerufen am 30.03.2016).

[25] Vgl. Chronik: Die Zeit. Auf: Zeit Online, unter: http://www.zeit-verlagsgruppe.de/unternehmen/chronik/ (abgerufen am 30.03.2016).

[26] Zeugen des Jahrhunderts im ZDF: Zeitzeuge Helmut Schmidt. Auf: YouTube, unter: https://www.youtube.com/watch?v=7O4nwop240Q , 6:17 – 6:30 (abgerufen am 30.03.2016).

[27] Vgl. Anhang, S. 23-24.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Helmut Schmidts "spitzer Stein". Eine Untersuchung der alveolaren s-Realisierungen vor Plosiven anhand von Interviews
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Germanistisches Seminar)
Veranstaltung
Sprachdynamik in Norddeutschland
Note
1,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
30
Katalognummer
V444196
ISBN (eBook)
9783668811768
ISBN (Buch)
9783668811775
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Ausführliche Informationen zu der Datengrundlage werden im Anhang bereitgestellt. Neben den Beleglisten mit entsprechenden Zeitangaben der Interviews zählen dazu ebenfalls die Metadaten über Helmut Schmidt sowie die Quellenangaben der Interviews.
Schlagworte
Helmut Schmidt, Dialekt, spitzer Stein, Norddeutschland, Plattdeutsch, Niederdeutsch, alveolare /s/-Realisierung, Hamburg, Altkanzler, Interview, Standardsprache, Sprachdynamik, s-Laut, Plosiv
Arbeit zitieren
Lennard Bräsen (Autor:in), 2016, Helmut Schmidts "spitzer Stein". Eine Untersuchung der alveolaren s-Realisierungen vor Plosiven anhand von Interviews, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/444196

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