Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffliche und theoretische Grundlagen: Goffmans Rollen-Theorie
2.1. Der Untersuchungsgegenstand: Was ist BDSM überhaupt?
2.1.1. BDSM als Szene
2.1.2. Die Fetisch-Party
2.2. Bisheriger Stand der Forschung zur BDSM-Szene
3. Empirische Untersuchung der BDSM-Szene im Club „Grande Opera“
4. Betrachtung und Analyse von Interaktion auf Fetisch-Partys unter rollentheoretischen Gesichtspunkten
4.1. Das dichotome Ordnungssystem der BDSM-Szene: Top und Bottom
4.2. Weitere Rollen auf Partys der BDSM-Szene
4.3. Die Spiel-Interaktion unter rollentheoretischen Gesichtspunkten
4.4. Schutz des Selbst und des Anderen in der BDSM-Szene: BDSM- Praktiken als Spiel
5. Fazit und Ausblick
Glossar
Literaturverzeichnis
Internet-Quellen
Weiterführende Literatur
Weiterführende Internetseiten
1. Einleitung
BDSM (was für ‘Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism’ steht), ist ein Themengebiet verschiedener sexueller Neigungen, welche mit Macht und Gewalt in Verbindung stehen. Der bekannteste und wohl am häufigsten diskutierte Themenbereich des BDSM ist der Sadomasochismus. Sadomasochismus wird wissenschaftlich-medizinisch gesehen mit einer psychischen Störung der sexuellen Devianz gleichgesetzt. In der „Internationalen statistischen Klassifikation der Krankhei- ten und verwandter Gesundheitsprobleme“ ist Sadomasochismus als Persönlichkeits- und Verhaltensstörung gelistet (siehe ICD [Onl6]).1 Allerdings stelle ich als Verfasserin dieser Thesis in Frage, dass Sadomasochismus lediglich eine medizinische oder sexuelle Kategorie darstellt. Sadomasochismus, SM oder BDSM, bedeutet bei näherer Betrach- tung eindeutig mehr als das: Es ist ein soziales und interaktionsrelevantes Phänomen und damit auch Thema der Sozialwissenschaften.
Aufbauend auf den gemeinsamen speziellen sexuellen Vorlieben hat sich vielerorts eine SM-Szene mit subkulturellen Zügen entwickelt. Es gibt spezielle Clubs, Stammti- sche und Interessengemeinschaften. SM ist auch für die Gesamtgesellschaft kein frem- des Phänomen mehr, sondern spiegelt sich unter anderem in Medien und Ästhetik wi- der.2 Bisher wurde SM jedoch als wissenschaftliches Thema nur wenig untersucht, ob- wohl es ein sehr großes Feld möglicher sozialwissenschaftlicher Analysen bietet.
Bereits während meiner ersten Begegnungen mit dieser Szene galt mein Interesse den sozialen Interaktionen in Fetisch-Clubs, deren Ablauf, Aufbau und Organisation. Es stellte sich mir die Frage, wie der dortige Umgang miteinander trotz des direkten Be- zugs zu Macht, Ungleichheit und Gewalt so reibungslos und ohne Schäden für die Teil- nehmer möglich ist. Darum habe ich mich eingehender mit diesem Thema beschäftigt.
Meine ethnographischen Beobachtungen erfolgten auf mehreren Veranstaltungen im SM-Club ‚Grande Opera‘. Zusätzlich zu meinem eigenen empirischen Material nehme ich in meiner Arbeit Bezug auf die bereits bestehende Literatur von Norbert Elb (2006)3 und Staci Newmahr (2001)4, welche ebenfalls die SM-Szene thematisieren. Eine Studie der kompletten SM-Szene ist mir im Rahmen dieser Arbeit leider nicht möglich. Darum beschränke ich mich darauf, den Teil der SM-Szene, wie er auf speziel-len Veranstaltungen (Fetisch-Partys) in sogenannten Fetisch-Clubs ausgelebt wird, nä-her zu beschreiben und zu analysieren. Zu anderen Teilen des Phänomens, wie zum Beispiel BDSM-Stammtischen, kommerziellem SM, SM im Internet oder im privaten Rahmen, kann ich keine Aussagen treffen.5
In der vorliegenden Arbeit verbinde ich das gewonnene empirische Material über die BDSM-Szene mit dem theoretischen Modell von Erving Goffman zum Rollenverhalten in Interaktionen. Mein Ziel dabei ist, BDSM als soziales Phänomen zu definieren und aufzuzeigen, welche stereotypen Rollentypen die Interaktion im BDSM-Kontext be- stimmen sowie welche sozialen, räumlichen und zeitlichen Grenzen den Rahmen für die Interaktion setzen.
Wie sind Interaktionen während der Fetisch-Party aufgebaut? Welche Rollen gibt es, welchen Regeln unterliegen diese und welche Funktion erfüllen sie? Dies ist hier be- sonders an dem Punkt interessant, an dem die SM-Szene deutlich von der Mainstream- Gesellschaft6 abweicht: Während in der Mainstream-Gesellschaft allgemeingültige Werte und Normen vor Gewalt und verletzendem Verhalten schützen, da diese tabui- siert sind, findet sich ein vergleichbares Reglement in der BDSM-Szene so nicht. Da die ‚normalen‘ Tabu-Grenzen aufgehoben sind, entsteht die Begrenzung und Regulierung von Gewalt anders: Hier ist es extrem wichtig, seine Rolle und die daran geknüpften Erwartungen zu kennen und ihnen zu entsprechen, um Gefahr für sich und andere zu vermeiden. So zeigt sich, dass auch - und gerade dort - in gesellschaftlich devianten Bereichen wie der BDSM-Szene rollenentsprechendes Verhalten die Grundlage einer funktionierenden Interaktion darstellt.
Den Einstieg meiner Arbeit bilden eine Erläuterung der theoretischen Grundlagen nach Goffman sowie eine Beschreibung der BDSM-Szene im Allgemeinen und der Fe- tisch-Party im Speziellen. Zudem skizziere ich in einem kurzen Abriss den bisherigen Stand der soziologischen Forschung zum Thema SM und BDSM. Im nächsten Teil gebe ich Informationen dazu, wie ich meine empirischen Daten erhoben und ausgewertet habe. Der Hauptteil der Thesis befasst sich mit den verschiedenen Rollentypen, die in BDSM-basierten Interaktionen anzutreffen sind; in diesem Zusammenhang zeige ich unter anderem auf, welche Anforderungen an die Rollenträger gestellt werden und wel- che Funktion die jeweiligen Rollen für die Interaktion erfüllen. Des Weiteren untersu- che ich, durch welche Sinnkonstruktionen, Rahmungen und Strukturen eine legitime positive Verbindung zwischen Erotik und Gewalt hergestellt wird. Das letzte Kapitel fasst die Schlussfolgerungen der Analyse zusammen und bietet einen Ausblick auf mög- liche weitere Diskussionspunkte zu BDSM als einem wissenschaftlichen Thema.
2. Begriffliche und theoretische Grundlagen: Goffmans Rollen-Theorie
Erving Goffman beschreibt in seinem Werk „Wir alle spielen Theater“ eine bestimm- te soziologische Perspektive auf Interaktionen, deren Grundzüge laut dem Autor für jedes soziale Gefüge in westlichen Gesellschaften Gültigkeit besitzen (Goffman 2007: 3): Dies ist die dramaturgische Perspektive (Goffman 2007: 219). Er benutzt hierfür das Begriffssystem der Theaterwelt, um die Struktur sozialer Begegnungen, also sozialer Interaktion, zu beschreiben und zu analysieren (Goffman 2007: 232). Diese fasse ich im Folgenden kurz zusammen.
Interaktionen definiert Goffman als den wechselseitigen Einfluss von Individuen un- tereinander auf ihre Handlungen während ihrer unmittelbaren physischen Anwesenheit (Goffman 2007: 18). Personen müssen in Interaktion durch gezielte oder auch unbeab- sichtigte Darstellung Informationen austauschen, um einen Arbeitskonsens über die aktuelle Situation und damit über die Beschaffenheit ihrer Wirklichkeit herzustellen (Porto 2001: 199). Diese Informationen über den Einzelnen tragen dazu bei, die Situati- on eindeutig zu definieren, sodass die Teilnehmer ermitteln können, was von ihnen er- wartet wird und was sie wiederum erwarten können (Goffman 2007: 5), um daraus ihr Handeln zu bestimmen.
Dieser Eindruck von der Wirklichkeit, den eine Darstellung erweckt, kann durch Missgeschicke oder Fehler zerstört werden (Goffman 2007: 52). Wenn die Vorausset- zungen oder Informationen, auf denen die Reaktionen der Beteiligten basierten, hinfäl- lig werden, zum Beispiel durch eine falsche oder irreführende Darstellung eines Teil- nehmers, verliert die Situation und damit die Interaktion ihre Definition (Goffman 2007: 15). Die Handelnden müssen dann den Fehler korrigieren und die Situation neu definie- ren.
Die Gesamttätigkeit eines Teilnehmers an einer bestimmten Situation welche dazu dient, die anderen Teilnehmer in irgendeiner Weise zu beeinflussen, definiert Goffman als die ‚Darstellung‘ (Goffman 2007: 18). In der Darstellung des Einzelnen werden ge- wisse der Interaktion dienliche Dinge betont und unpassende verschleiert (Goffman 2007: 62). Eine ‚Rolle‘ ist dabei das vorherbestimmte Handlungsmuster, welches sich während einer Darstellung entfaltet und auch bei anderen, gleichartigen Gelegenheiten vorgeführt werden kann (Goffman 2007: 18). An solch eine Rolle sind bestimmte (Handlungs-)Erwartungen geknüpft, die vom Publikum, also der aktuellen Bezugsgrup- pe des Darstellers, an den Darsteller der Rolle gerichtet werden (AG Soziologie 1999: 25-28). Eine Rolle kann zusammenfassend als ein Komplex von Verhaltenserwartungen beschrieben werden, welcher unabhängig vom Einzelnen konzipiert ist (Endruweit/Tromsdorff 1989: 547). Die Erwartungen verschiedener Bezugsgruppen an eine Rolle können sich widersprechen; es handelt sich dann um einen Intrarollenkonflikt (AG Soziologie 1999: 28). Eine Rolle umfasst in der Regel nicht die ganze Person eines Darstellers, sondern ist räumlich und/oder zeitlich begrenzt (Goffman 2007: 46). Es kann sich auch ein Konflikt zwischen verschiedenen Rollen einer Person ergeben, ein sogenannter Interrollenkonflikt (AG Soziologie 1999: 28). Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die Darstellungen verschiedener Rollen einer Person sich widersprechen.
Das standardisierte Ausdrucksrepertoire, das genutzt wird, um bestimmte Situationen für das Publikum einer Vorstellung zu bestimmen, nennt Goffman die ‚Fassade‘ (Goff- man 2007: 23). Fassaden werden vom Darsteller passend zur Rolle gewählt; für etab- lierte soziale Rollen gibt es bestimmte, bereits institutionalisierte Fassaden (Goffman 2007: 28). Einen Teil der Fassade stellt das Bühnenbild beziehungsweise die Region: Dies ist ein Ort, der bis zu einem gewissen Grad durch Wahrnehmungsschranken be- grenzt ist; diese Schranken können räumlich/physisch oder zeitlich sein (Goffman 2007: 99f). Auch die bestimmte räumliche Anordnung des Bühnenbildes oder die szenischen Komponenten können für eine Darstellung notwendig sein, sodass manche Rollen nur in einem ganz bestimmten Bühnenbild dargestellt werden können (Goffman 2007: 23).
Den Ausdruck ‚Ensemble‘ nutzt Goffman für jede Gruppe von Individuen, die ge- meinsam eine bestimmte Definition einer Situation/Rolle aufrecht erhalten (Goffman 2007: 75). Denn die Definition einer Situation wird zwar jeweils vom Einzelnen ent- worfen, ist meist aber auch integraler Bestandteil einer Darstellung, die durch die Zu- sammenarbeit mehrerer Teilnehmer geschaffen und gestützt wird (Goffman 2007: 73). Ein Ensemblemitglied ist eine Person, auf deren Mitarbeit man bei der Darstellung einer bestimmten Situation angewiesen ist (Goffman 2007: 78). Die Ensemblemitglieder können dabei aber verschiedene Rollen innehaben (Goffman 2007: 93). Ein Ensemble hat untereinander meist spezielle Signale, mit denen es eine Interaktion unauffällig len- ken kann (vgl. Goffman 2007: 162-169). Interaktion ist laut Goffman häufig ein Dialog zwischen zwei Ensembles: Das Ensemble der Darsteller auf der einen und das Ensemble der Zuschauer auf der anderen Seite (Goffman 2007: 86, 221). Einzelpersonen können dabei als Ein-Mann-Ensembles angesehen werden. Das Ensemble der Darsteller ist in der Regel dasjenige, das die Kontrolle über das Bühnenbild innehat oder mehr zur Interaktion beiträgt (Goffman 2007: 86).
Das Bühnenbild beziehungsweise die Region in der eine bestimmte Interaktion statt- findet, ist gleichzeitig auch die Vorderbühne der Darstellung (Goffman 2007: 100). Als ‚Vorderbühne‘ definiert Goffman den gesamten Bereich, in welchem der Darsteller für das Publikum sichtbar oder hörbar bleibt, also dort, wo er sich an bestimmte Höflich- keitsregeln halten und den Anstand wahren muss und seine Rolle beibehält (Goffman 2007: 100). Die ‚Hinterbühne‘ wiederum ist der zu einer Vorstellung gehörige Ort, an dem der durch die Darstellung hervorgerufene Eindruck bewusst wiederlegt wird oder werden kann (Goffman 2007: 104); auf der Hinterbühne ist es gestattet, aus der Rolle zu fallen (Goffman 2007: 105). Vorder- und Hinterbühne können räumlich oder zeitlich voneinander getrennt sein und müssen immer in Bezug auf die zugehörige Darstellung betrachtet werden, da sie nicht unabhängig von ihr existieren (Goffman 2007: 117). Beim Übergang eines Darstellers von der Vorder- zur Hinterbühne und umgekehrt kann man feststellen, auf welche Weise der dargestellte Rollencharakter ab- oder angelegt wird (Goffman 2007: 112). Die Kontrolle über die Vorder- und Hinterbühne ist essenti- eller Teil einer erfolgreichen Darstellung. Das Publikum muss von der Hinterbühne fern gehalten werden, um den Realitätscharakter der Darstellung nicht zu gefährden, wenn es der Rolle widersprechende Handlungen sähe (Goffman 2007: 106). Bei Interrollenkon- flikten kann es auch nötig sein, die Kontrolle über die Vorderbühne auszuüben und da- mit das Publikum beziehungsweise die verschiedenen Bezugsgruppen zu trennen, damit das jeweilige Publikum nicht an der Darstellung der Rolle zweifelt (Goffman 2007: 126).
2.1. Der Untersuchungsgegenstand: Was ist BDSM überhaupt?
Sadomasochismus ist, wie bereits in der Einleitung erwähnt, eine Sammelbezeich- nung für eine Gruppe sexueller Vorlieben. Der Begriff setzt sich zusammen aus ‘Sadis- mus’ nach dem französischen Schriftsteller Donatien-Alfonse-Francois Marquis de Sa- de, und ‘Masochismus’, nach dem österreichischen Schriftsteller Leopold Ritter von Sacher-Masoch (Sodermanns 2016: 22). Sadomasochismus ist definiert als das Erlangen von sexueller Lust und Befriedigung durch das Zufügen (Sadismus) oder Erleiden (Ma- sochismus) von Schmerzen, Pein und/oder Qual (Sodermanns 2016: 22). Nach der „In- ternationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheits- probleme“ (kurz ICD) der Weltgesundheitsorganisation WHO handelt es sich bei Sa- domasochismus um eine Störung der Sexualpräferenz (ICD 2017 [Onl6]). 7 8 Moderner und umfassender als der Begriff Sadomasochismus ist das neuere Akro-nym ‘BDSM’ für die Vielfalt von Neigungen, die eng mit Sadomasochismus verknüpft sind. Es setzt sich aus den Begriffen ‘Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism’ zusammen. Dies steht nicht mehr nur für den Genuss von Schmerz (zufügen), sondern auch für Fesselungen, das Spiel mit Befehl und Gehorsam sowie Dominanz und Unterwerfung. Der Begriff Sadomasochismus/SM ist traditionel-ler und bisher noch etablierter (sowohl innerhalb der BDSM-Szene als auch in der Ge-samtgesellschaft), und inkludiert in seinem umgangssprachlichen Gebrauch in der Regel die unter BDSM zusammengefassten Handlungen, auch wenn diese nicht Teil der ei-gentlichen Definition des Begriffes sind.
Generell bildet die Basis all dieser Spielarten von BDSM die Gemeinsamkeit, dass sich die Beteiligten freiwillig in ein Machtgefälle begeben. BDSM kann als einver- nehmlicher, meist sexueller Machtaustausch zwischen zwei oder mehreren Personen definiert werden (Elb 2006: 104). Der sogenannte ‚Bottom‘, der passive oder devote Teilnehmer, gibt für einen bestimmten Zeitraum seine persönliche Autonomie auf und überträgt diese auf den ‚Top‘, den aktiven und bestimmenden Teilnehmer. Beide sollen daraus einen Lustgewinn erzielen. BDSM muss dabei nicht zwingend explizit sexuell sein, steht aber grundsätzlich mit Erotik in enger Verbindung. Das besondere an BDSM ist die große Bedeutung von Macht, Hierarchie und Gewalt sowie Fetischen9, die Ent- sprechendes symbolisieren (Elb 2006: 36; Sigusch 2013: 368). Die mit BDSM verbun- denen symbolischen Gefühlskonstrukte wie zum Beispiel Macht- und Ohnmachtsgefüh- le kann man als eine Art immateriellen Fetischbetrachten (vgl. Elb 2006: 163). Auf- grund der Offenheit der SM-Kultur werden dort nicht selten auch andere Fetische ausgelebt, wie beispielsweise Fußfetische, Latexfetische und Ähnliche, diese sind an sich jedoch kein Teil der BDSM-Sexualität.
Das sexuelle Verhalten im BDSM unterscheidet sich von ‘normaler’ Sexualität. Es geht hier nicht um die Synchronizität des Erlebens der Beteiligten, wie es dem gesell- schaftlichen Idealbild von Sexualität entspricht, im Sinne von gleichzeitigem Anstieg der Erregung und möglichst auch zeitgleichem Orgasmus, sondern bei BDSM handelt es sich um ein asynchrones sexuelles Verhalten ( Elb 2006: 36; Sigusch 2013: 368). SM ist also ein spezielles sexuelles Verhalten, bei dem es um die Erzeugung spezifischer Empfindungen geht (Elb 2006: 41). Es geht dabei nicht zwangsläufig um physischen Schmerz, vielmehr stehen symbolische Kommunikation beziehungsweise die symboli- schen Inszenierungen von Schmerz und/oder Dominanz im Vordergrund (Harten 1995: 206).
BDSM-praktizierende Menschen nennen sich selbst ‘BDSMler’, ‘BDSMer’, ‘SMler’, ‘SMer’, ‘Sadomasos’ oder ‘Sadomasochisten’. Eine BDSM-Aktivität zweier oder mehrerer Teilnehmer wird als ‘Spiel’ bezeichnet, als ‘Session’ oder auch als ‘Scening’ (Sodermanns 2016: 27). Im Gegensatz dazu werden Nicht-Szeneangehörige von BDSMern auch als ‘Stinos’ (für Stinknormale) oder ‘Vanillas’ bezeichnet.
Im Folgenden erfolgt keine Auseinandersetzung mit der eingangs genannten medizinischen Definition von (BD)SM, sondern mit dem sozialen Phänomen BDSM. Harten nennt dies den „subkulturell gebundenen Sadomasochismus“ (Harten 1995: 205), ich verwende im weiteren Verlauf meiner Arbeit den Begriff ‚BDSM-Szene‘.
2.1.1. BDSM als Szene
Da BDSM für die meisten Anhänger keine alles umspannende und lebensumfassende Bewegung darstellt, lässt sich von BDSM nicht als reine Subkultur sprechen. Die Viel- falt und Pluralität der Lebenspraxen, die nebeneinander existieren und zwischen denen gewechselt werden kann, ist heute nahezu unüberschaubar geworden und ‘echte’, der Definition entsprechende Subkulturen finden sich nur noch sehr wenige. Der passendere Begriff ist deshalb die ‘Szene’, welche beim BDSM allerdings durchaus subkulturelle Züge aufweist. Der Begriff ‘Subkultur’ wird zur Definition von Gruppierungen als Teil eines größeren kulturellen Ganzen mit eigenen Normen, Bedürfnissen oder Verhaltens- weisen genutzt, deren Werte und Normen von der Gesamtkultur der sie angehören ab- weichen; also geschlossene gesellschaftliche Teilkulturen, wie zum Beispiel die Gruppe der Drogenkonsumenten, Rechtsradikalen oder Angehörigen krimineller Netzwerke (vgl. Endruweit/Tromsdorff 1989: 711). Für Gruppen spezifischer sexueller Orientie- rung, wie Homosexuelle oder BDSMer, wird zwar häufig der Begriff Subkultur ver- wendet, jedoch haben bei den genannten Gruppen in der Regel die Normen der Haupt- kultur nach wie vor eine wichtige Bedeutung, wenn auch nicht in allen Aspekten ihres Lebens. Die Beteiligten leben meist durch Familie, Beruf und andere gesellschaftliche Bezüge innerhalb der Mainstream-Gesellschaft (vgl. Hitzler/Niederbacher 2005: 24). Eine Szene hingegen beschreibt ein lockeres Netzwerk von Personen, welche sich über einen gemeinsamen Aspekt des Lebens vergemeinschaften (Hitzler/Niederbacher 2005: 18, 30). Im Falle der BDSM-Szene ist der thematische Rahmen der Aspekt der gemein- samen sexuellen Vorlieben. Szenen sind freiwillig durch den Einzelnen wähl- und betretbar und umfassen nicht alle Lebensbereiche, sondern das Engagement in der Sze- ne ist meist zeitlich beschränkt (Hitzler/Niederbacher 2005: 21). Die Akteure agieren in Gruppen, welche über eine Organisationselite mit anderen Gruppen kommunizieren und vernetzt sind, die sich alle als Teil der Szene definieren (Hitzler/Niederbacher 2005: 25f). So kennen sich zwar nicht alle Akteure einer Szene persönlich, konstituieren aber durch die kommunikative Erzeugung von Gemeinsamkeiten wie Symbole und Rituale, typische Einstellungen und Verhaltensweisen ein ‚Wir-Gefühl‘ und damit das Gefühl der Szenezugehörigkeit (Hitzler/Niederbacher 2005: 21, 23, 25). Bei formellen oder in- formellen Treffen, von Hitzler Erlebnis-Elemente genannt, manifestiert und reproduziert sich die Kultur der Szene und es etabliert sich das subjektive Gefühl der Zugehörigkeit zur Szene (Hitzler/Niederbacher 2005: 31, 35). Die Akteure stehen in einem losen Ver- bund zueinander, die Grenzen nach außen sind im Gegensatz zu Subkulturen in Szenen unscharf und durchlässig (Hitzler/Niederbacher 2005: 18, 24).
Die Grundlage der BDSM-Szene ist das Credo ‘safe, sane and consensual’, kurz SSC(Sodermanns 2016: 13).10 Es beinhaltet die Verpflichtung, die Gefahr einer unge- wollten körperlichen und seelischen Verletzung11 des Anderen so gering wie möglich zu halten, selbst im Vollbesitz geistiger Kräfte sowie volljährig zu sein und nur unter Zustimmung aller Beteiligten zu agieren (Sodermanns 2016: 13-15). Diese Freiwilligkeit und das gegenseitige Einverständnis soll BDSM rechtlich und ethisch von Kriminalität und möglichem Missbrauch abgrenzen.
Die BDSM-Szene entwickelte sich in Deutschland seit den 80er Jahren durch Gesprächskreise, Projekte und Magazine zum Thema BDSM (Sigusch 2013: 366). Seither entwickelte und differenzierte sich die Szene fortlaufend, es entstanden Stammtische, Beratungsmöglichkeiten und SM-Events sowie entsprechende Lokationen. Im Jahr 2003 gründete sich die Bundesvereinigung Sadomasochismus BVSM e. V.
Die BDSM-Szene steht jedem mit authentischem Interesse offen, unabhängig von sozialer Schicht, Beruf, Nationalität oder sexueller Neigung (Elb 2006: 104). Schaulustige oder andere Nicht-BDSMer sind jedoch nicht erwünscht.
Die Außenfassade des Clubs ist unauffällig, nur ein Schild weist auf den Ein- gang hin. Die Tür ist verschlossen, um zur Kasse zu gelangen, muss geklingelt werden. Als ich gegen 22.30 Uhr den Club betrete befinden sich dort bereits rund 200 Personen. Was sofort auffällt, ist der Altersschnitt und die Kleidung der Gäs- te. Der Großteil der Anwesenden ist etwa zwischen 30 und 45 Jahre alt, deutlich geringer ist der Anteil Personen unter 30 Jahren - der Altersschnitt liegt somit deutlich höher als in ‘normalen’ Clubs oder Ausgeh-Locations. Der Männeranteil scheint etwas höher zu sein als der Frauenanteil. Vorwiegend handelt es sich au- genscheinlich um Paare; einzelne Frauen sind nur wenige unterwegs. Die meisten tragen schwarze Kleidung, vornehmlich in Lack, Leder, Latex oder Netz. Der Kleidungsstil selbst fächert von edel in Abendkleid und Herren-Anzug bis hin zu offen freizügig oder nackt. Insbesondere die Frauen zeigen viel Haut, in Dessous, Korsetts oder spezieller ‘Fetish-wear’, die zum Beispiel den Busen oder Po unbe- deckt lässt.
Obwohl die BDSM-Szene grundsätzlich nahezu jedem offen steht, lassen sich über den Hauptteil der Beteiligten spezifische Aussagen treffen. Das Alter der meisten BDSM-Anhänger liegt zwischen 30 und 55 Jahren. Dies lässt sich damit erklären, dass sich bei vielen Personen erst in einem etwas fortgeschrittenen Alter die eigene Sexuali- tät gefestigt hat und die spezifischen sozialen Kompetenzen, die zur Teilnahme an BDSM nötig sind, in jüngeren Altersgruppen noch nicht so stark ausgeprägt sind (Elb 2006: 82-85). In der Szene herrscht ein Männerüberschuss, den Norbert Elb damit er- klärt, dass Frauen es leichter haben, unabhängig von und außerhalb der Szene entspre- chende Partner zu finden und BDSM-analoge Verhaltensweisen zu praktizieren (Elb 2006: 85). Männer sind zur Partnerfindung also mehr auf die Szene angewiesen. New- mahr stellte bei ihren Untersuchungen fest, dass viele BDSMer auch in anderen gesell schaftlichen Bereichen Außenseiter oder Nonkonformisten sind; sie nennt zum Beispiel Übergewichtige, besonders schmächtige Männer, sogenannte ‘geeks’, also Intellektuelle und Hochbegabte, oder sozial inkompetente Menschen (Newmahr 2001: 23-36). Diese Feststellung deckt sich allerdings nicht mit meinen eigenen Beobachtungen, wobei länderspezifische Unterschiede ebenso möglich sind wie eine diesbezügliche Veränderung der Szene während der letzten 15 Jahre.
Wie bereits im vorherigen Kapitel erwähnt, kommt es in der BDSM-Szene häufig zu Überschneidungen mit anderen Szenen. So sind Angehörige der Homosexuellen-Szene, der Swinger-Szene oder Liebhaber spezieller Fetische nicht selten auch auf BDSMVeranstaltungen anzutreffen. Besonders hoch ist die gemeinsame Schnittmenge mit der Gothic-Szene (Newmahr 2001: 38), sodass sogar spezielle Gothic-BDSM- Veranstaltungen angeboten werden.
In Kleidung und Schmuck gibt es in der BDSM-Szene eine gewisse Symbolik und dazu informelle sowie oft auch formelle Regeln. Durch die in Clubs und auf Veranstal- tungen üblichen Dresscodes kommt spezielle freizügige Fetisch-Kleidung häufig zum Einsatz, ebenso wie die Stoffe Lack, Leder oder Latex. Auch körperlich einschränkende Kleidung wie Korsetts (bei Frauen wie bei Männern) oder Ganzkörper-Anzüge werden gerne getragen. Schwarze Kleidung soll eine dunkle oder geheimnisvolle Aura inszenie- ren. Durch die Wahl der Outfits und deren gesellschaftliche Konnotationen werden Identitäten, Rollen und Körper in der BDSM-Kultur konstruiert (Schuhmann 2011: 198). Auf die Notwendigkeit dieser ‘Sichtbarmachung’ der Identitäten gehe ich zu ei- nem späteren Zeitpunkt genauer ein (siehe Kapitel 4). Eine besondere Bedeutung hat der ‘Ring der O’, der oft an einem Halsband oder Ring getragen wird, und eine Veran- lagung als Bottom symbolisiert. Er findet sich heutzutage jedoch auch in der Gothic- Szene wieder. BDSM-Motive haben sich in der gesellschaftlichen Ästhetik durch Mode, Musik und Film in den letzten Jahren ausgebreitet und werden häufig nicht mehr be- wusst mit BDSM in Verbindung gebracht, ein Beispiel dafür sind Intimpiercings. Au- ßerhalb eines als SM-/BDSM-definierten Kontextes können sich BDSMer in der Regel nicht eindeutig als solche erkennen (Elb 2006: 59), denn selbst sichtbar getragene Sym- bole müssen heutzutage keine tatsächliche Zugehörigkeit zur Szene bedeuten, sondern können auch nur modisches Accessoire darstellen.
Die SM-Szene in Clubs entwickelte sich vornehmlich aufgrund der dadurch erlang- ten Erleichterung der Partnersuche und dem durch Kontakte möglichen Informations- austausch (Elb 2006: 85). Da BDSMer außerhalb der Szene schwer bis gar nicht zu identifizieren sind, war und ist es für ihre Anhänger nicht leicht, Gleichgesinnte zu fin- den. Die BDSM-Szene schafft mit Treffen und Veranstaltungen einen sichtbaren sozia- len Raum, der für Kontakte und Kontaktversuche zu Gleichgesinnten zur Verfügung steht und über den Vorzug verfügt, dass sich Erklärungen hinsichtlich der Tatsache, dass man selbst BDSM praktiziert, erübrigen (Elb 2006: 114) - es kann allgemein da- von ausgegangen werden, dass, wer sich innerhalb der Szene bewegt, ihr auch angehört und das Interesse an BDSM teilt.
2.1.2. Die Fetisch-Party
Vielen BDSMern ist es nicht möglich, alle ihre Vorlieben in den eigenen privaten Räumen auszuleben. Viele Praktiken erfordern ein entsprechendes Equipment wie zum Beispiel Käfige, Deckenhaken, ein Andreaskreuz oder einen gynäkologischen Stuhl, und damit einhergehend entsprechend Platz, um diese Geräte sicher aufzustellen und zu nutzen. Auch eine eventuell entstehende Lärmbelästigung durch BDSM-Spiele kann zu einem schlechten Verhältnis mit den Nachbarn führen. Sogenannte SM- oder Fetisch- Clubs wie der von mir untersuchte Club „Grande Opera“ bieten den BDSMern darum eine Anlaufstelle, um ihre Neigungen gefahrlos auszuleben. Dies geschieht dort durch Stammtische, Workshops, Partys oder spezielle Events. Ich möchte hier nur auf die Charakteristika von Fetisch-Partys in SM-Clubs näher eingehen, da ich nur solche be- sucht und beobachtet habe.
Veranstaltungen in SM-Clubs haben einen Szene-konstituierenden Charakter, da sich dort Gleichgesinnte treffen und austauschen können und sich damit gegenseitig in ihrer Szene-Zugehörigkeit bestätigen (Schuhmann 2011: 196). Es geht, insbesondere auf Fetisch-Partys, darum, sich vor Anderen bewusst als szenezugehörig zu präsentieren und gesehen zu werden - sowie im Gegenzug die Anderen als szenezugehörig wahrzunehmen und einander durch Akzeptanz als BDSMer zu bestätigen.
[...]
1 Vollständiger Originaltext des ICD-Eintrags siehe Fußnote Vier.
2 Beispiele hierfür sind unter anderem die Mode-Fotografie von Helmut Newton mit BDSM-Motiven; in der internationalen Literatur z. B. die Dornröschen-Trilogie von Anne Rice oder die Trilogie Shades of grey von E. L. James. Zahlreiche Lieder bekannter Musiker wie Depeche Mode („Master and Servant“, „In Your Room“), Die Ärzte („Bitte bitte“, „Sweet Gwendoline“), Ma- donna („Erotica“), Rihanna („S&M“) und weiterer Künstler spielen auf BDSM an; auch in ver- schiedenen international erfolgreichen Filmen geht es um BDSM-Beziehungen, wie etwa in „9 ½ Wochen“ oder „Secretary“.
3 Elb, Norbert, 2006, SM-Sexualität: Selbstorganisation einer sexuellen Subkultur, Gießen: Psychosozial- Verlag
4 Newmahr, Staci, 2001, Playing on the Edge, Bloomington: Indiana University Press
5 Weiterführende Literatur zu diesen Themengebieten: Siehe Literaturverzeichnis im Anhang.
6 Mainstream-Gesellschaft meint hier die Kultur der großen Mehrheit, welche im Gegensatz zu Subkultu- ren steht.
7 Originaltext ICD-10-GM F65.5: „Es werden sexuelle Aktivitäten mit Zufügung von Schmerzen, Ernied- rigung oder Fesseln bevorzugt. Wenn die betroffene Person diese Art der Stimulation erleidet, handelt es sich um Masochismus; wenn sie sie jemand anderem zufügt, um Sadismus. Oft emp- findet die betroffene Person sowohl bei masochistischen als auch sadistischen Aktivitäten sexu- elle Erregung.“ (siehe ICD 2017 [Onl6])
8 Von verschiedenen SM-Organisationen wird diese Klassifikation zum Teil erfolgreich versucht aus der ICD zu entfernen. Die BDSM-Szene möchte sich von medizinischer Stigmatisierung als Krank- heit distanzieren. Volkmar Sigusch spricht von der ICD-Diagnose als „unangemessen und unge- recht“ (Sigusch 2013: 367). Unter dem Namen „revise F65“ versucht ein norwegisches Komitee, international die ICD-Einträge ändern zu lassen. In Dänemark wurde dies bereits erfolgreich durchgesetzt (siehe Revise F65[Onl8]).
9 Fetisch bedeutet, durch eine bestimmte Handlung, ein bestimmtes Material oder ein bestimmtes Objekt wird ein sexueller Reiz beim Fetischisten ausgelöst (vgl. Sodermanns 2016: 33). BDSM kann verschiedene Fetische beinhalten, wie zum Beispiel Schmerz oder Erniedrigung.
10 Weniger verbreitet ist der Verhaltenskodex ‚RACK‘, welches für „risk-aware sensual kink“ steht. Hier wird im Gegensatz zu SSC die Eigenverantwortung der Beteiligten stärker betont als der Sicher- heitsaspekt (vgl. Newmahr 2001: 147).
11 Als Verletzung oder Schaden wird angesehen, was dauerhafte Folgen für die Beteiligten hat oder gegen den Willen eines Beteiligten zugefügt wurde. Unbeabsichtigte Unfälle werden in der Regel nicht als Verletzung des Verhaltenskodex angesehen, solange sie nicht grob fahrlässig verursacht wur- den.