Marcel Beyers "Flughunde". Analyse der Beziehung zwischen Karnau und Helga unter Berücksichtigung des Motivs der Stimme


Hausarbeit, 2010

14 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Analyse der Beziehung zwischen Karnau und Helga unter Berücksichtigung des Motivs der Stimme
1 Vorstellung der verwendeten Methode
2 Vorstellungen der Personen
2.1 Hermann Karnau
2.2 Helga
2.3 Die Beziehung zwischen Karnau und Helga
3 Die Bedeutung der Stimme in der Beziehung

III. Fazit

IV. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

„Eine Stimme fällt in die Stille des Morgengrauens ein.“1

Mit diesen Worten beginnt Marcel Beyers Roman Flughunde. Schon der erste Satz lässt erahnen, dass das Motiv der Stimme nicht unerheblich ist, es zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch. Für die beiden Hauptpersonen Hermann Karnau und Helga ist die Stimme von großer Bedeutung, jedoch für jeden auf eine andere Art und Weise. Welche Rolle das Motiv der Stimme explizit in der Beziehung zwischen Karnau und Helga spielt, soll in dieser Arbeit herausgefunden werden.

Hierzu wird in dem ersten Kapitel zunächst die literaturwissenschaftliche Methode der Psychoanalyse vorgestellt. Es soll ebenfalls veranschaulicht werden, welche Problematik diese Methode mit sich bringt. Das zweite Kapitel widmet sich intensiv den Personen Hermann Karnau und Helga. Sie werden dem Leser vorgestellt, einige ausgesuchte Textstellen versuchen die Charaktere der Figuren dem Leser näher zu bringen. Hierbei soll das Augenmerk auf den Bezügen der Personen zur Stimme liegen. Die Analyse der Figuren erfolgt unter Anwendung der Methode der Psychoanalyse. Kapitel 2.3 widmet sich der Beziehung zwischen Karnau und Helga. Eine Analyse ausgewählter Textstellen soll herausarbeiten, was diese Beziehung so besonders macht. Im darauf folgenden 3. Kapitel wird dann die Bedeutung der Stimme in dieser Beziehung untersucht. Hierbei liegt das Augenmerk zum einen auf der Bedeutung für menschliche Beziehungen im Allgemeinen und zum anderen für die Beziehung zwischen den beiden Romanfiguren. Ein abschließendes Fazit wird die ausgearbeiteten Erkenntnisse dieser Arbeit zusammenfassen und deutlich machen, welche Fragen diese Arbeit nicht beantworten konnte.

II. Analyse der Beziehung zwischen Karnau und Helga unter Berücksichtigung des Motivs der Stimme

1 Vorstellung der verwendeten Methode

Wenn sich die Literaturwissenschaft der Stimme zuwendet, wird in der Regel die Methode der Erzähltheorie verwendet. Sie beschäftigt sich mit der Stimme des Erzählers, dem Akt des Erzählens und beantwortet unter anderem die Frage Wer spricht?.2 Die vorliegende Arbeit wird sich Marcel Beyers Roman Flughunde explizit nicht mit der Methode der Erzähltheorie nähern. Für die Analyse der Bedeutung der Stimme in der Beziehung zwischen den beiden Hauptpersonen Hermann Karnau und Helga wird eine andere Methode verwendet, die Psychoanalyse. Sie wurde von Sigmund Freud begründet und ist ein Verfahren, mit dem schon Freud selbst das Verhalten literarischer Figuren wie Hamlet zu erklären versuchte.3 Sie wurde unter anderem von Jacques Lacan weiterentwickelt. Als klassische Psychoanalyse werden jedoch die Ausarbeitungen Freuds bezeichnet, auf die sich diese Arbeit konzentrieren wird.

Die Psychoanalyse ist eine äußerst umfassende Methode, die auf Grund des Umfangs der Arbeit nicht gänzlich vorgestellt werden kann. Thomas Anz hat in seinem Handbuch Literaturwissenschaft eine Zusammenfassung gegeben, die gut darstellt, womit sich die Psychoanalyse nach Freud beschäftigt:

„Die Freud’sche Psychoanalyse ist ein umfassendes Theoriegebäude, das ein Modell des Aufbaus und der Wirkung des psychischen Apparats (der >Seele<), Thesen zur Individualentwicklung, Erklärungsansätze für menschliches Verhalten und menschliche Hervorbringungen (u.a. Träume, Handlungen, Kunstwerke), eine ausgeprägte Psychopathologie sowie Therapiemodelle beinhaltet.“4

Nur kurz angesprochen werden soll die wohl bekannteste Theorie des Dr. Freud zur menschlichen Seele und seine Aufteilung dieser in drei Hauptkomponenten: das Es, welches als Träger der Triebe und des Unbewussten fungiert, das Ich, welches als das Zentrum willensgesteuerter Aktivität bezeichnet wird und das Über-Ich, welches sich als letztes entwickelt und als das Gewissen wahrgenommen wird.5 Laut Anz gehört zum Kernbestand der Psychoanalyse: „[…] die Auffassung, dass sich das Verhalten einer Person nicht umfassend erklären lässt, wenn man lediglich berücksichtigt, was der Person selbst bewusst ist.“6

Das Unbewusste ist einer der beiden Pfeiler der Psychoanalyse, mit dem sich Freud zeit seines Lebens beschäftigte. Der zweite ist die Sexualität, deren Bedeutung für menschliche Handlungen erst durch Freud entdeckt wurde. Hierbei gilt die Theorie einer kindlichen Sexualität als eine der umstrittensten.7

Wie lässt sich die Psychoanalyse nun auf literarische Texte anwenden? Walter Schönau unterscheidet hierzu in seinem Buch Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft mehrere Deutungsverfahren, die zu einer psycho-analytischen Textinterpretation führen.8 Für diese Arbeit ist die literarische Figurenanalyse von größter Bedeutung. Hierbei wird eine fiktive Person so analysiert, als wäre sie eine reale Person. Kritiker bemängeln dies, sie behaupten: „[…] man übersehe den fiktionalen Status dieser Gestalten und setze sich allzu rasch über den Unterschied mit Menschen von Fleisch und Blut hinweg.“9 Es sollte bei der Analyse einer fiktiven Person nicht der Umstand ihrer Entstehung vernachlässigt werden, sie wurde von dem Autor zu einem bestimmten Zweck erschaffen und steht im Kontext eines Textes. „Die Figurenanalyse ist immer eine Phantasie-Analyse, eine Analyse der Gegenübertragung, der virtuellen Objektbeziehungen zu den fiktionalen Figuren, die im Akt des Lesens angeknüpft werden.“10 Dieser Gedanke Schönaus dient der Autorin als Ausgangslage für die in Kapitel zwei folgende Analyse der Personen Karnau und Helga.

Die Psychoanalyse ist seit ihrer Entstehung umstritten. Die Kritik ist vielseitig, als besonders fragwürdig erweist sich die mangelnde Überprüfbarkeit psycho-analytischer Textinterpretationen. Denn charakteristisch für eine psychoanalytische Hypothese ist, dass sie sich nicht „[…] durch einen bloßen Blick in den Text oder die bloße Befragung des Autors überprüfen lässt.“11 Dass die Psychoanalyse trotzdem als Methode ihre Gültigkeit haben sollte, wird auch von Walter Schönau bestätigt: „Ganz allgemein läßt sich sagen, daß viele Einwände zwar berechtigt sind, […] daß aber eine Methode als solche noch nicht verurteil ist, wenn sie nicht optimal oder nur partiell angewandt wird.“12 Die Psychoanalyse ist also eine Methode mit Ecken und Kanten, die sich zwar auf literarische Texte anwenden lässt, deren Ergebnisse jedoch nicht immer nachvollziehbar und daher manchmal fragwürdig sind. Sie ist dennoch eine anerkannte literatur-wissenschaftliche Methode und wird in den folgenden Kapiteln ihre Anwendung finden.

2 Vorstellungen der Personen

In Marcel Beyers Roman Flughunde berichten zwei Hauptpersonen abwechselnd aus ihrer Perspektive über verschiedene Erlebnisse: Hermann Karnau und Helga. Im Folgenden sollen die beiden kurz vorgestellt werden, ausgesuchte Textstellen dienen dazu, einen Einblick in den Charakter der Personen zu bekommen. Im Fokus steht hierbei die Beziehung der Personen zu der Stimme.

2.1 Hermann Karnau

Hermann Karnau ist zu Beginn des Buches ein junger Mann Ende Zwanzig13 und von Beruf Akustiker.14 Über sein Äußeres wird nichts geschrieben. Dass er in einer unordentlichen Wohnung mit zwei Zimmern lebt15, eine Haushälterin und keine eigene Frau hat, erfahren wir von Helga16, der zweiten Hauptperson, die in dem folgenden Kapitel eingehender vorgestellt wird.

Wenn Karnau17 etwas über sich preisgibt, dann hat es meist einen Bezug zu dem beherrschenden Thema in seinem Leben: Stimme. Von sich selbst behauptet er, dass er ein Mensch sei, über den es nichts zu berichten gäbe18 und doch gibt er an einigen Stellen im Buch einen tiefen Einblick in sein Inneres. So vergleicht er sich zum Beispiel mit seinem Hund Coco und behauptet, dass er immer wach wäre und alles registrieren würde.19 Er scheitert jedoch nach eigener Aussage an Gesten und Mimik und kann seine eigene Stimme nicht wahrnehmen.20 Karnau geht sogar so weit zu sagen, dass er den Klang seiner eigenen Stimme als abstoßend empfindet. Er redet von einem Stimmfehler und bricht Gespräche ab, wenn ihm der unangenehme Klang seiner Stimme bewusst wird.21 Karnaus Verhalten gleicht aus Sicht der Psychoanalyse einer Hysterie. Diese ist durch Symptome gekennzeichnet, die auf Grund einer psychischen Anspannung auftreten, die durch traumatische Ereignisse ausgelöst wurden.22 In Karnaus Fall ist das Symptom die Scham vor der eigenen Stimme, die zur Verweigerung des Sprechens führt und durch ein traumatisches Erlebnis in seiner Kindheit ausgelöst wurde. Als Kind hörte er seine Stimme zum ersten Mal von einer Tonwalze abgespielt. Nachdem er sie zunächst nicht erkennen konnte, empfand er sie als abscheulich und wollte sie nie wieder hören.23 Dass Karnaus Sprachstörungen etwas mit seiner psychischen Verfassung zu tun haben, erklären die Sprachtherapeuten so: „Hier scheint es noch etwas zu geben, was die Stimme beeinflußt. Dieses „Etwas“ liegt in der psycho-mentalen Seite der Person, die die Funktion eines Organs behindern kann.“24 Ein anderer Ausdruck für die psycho-mentale Seite einer Person ist Seele. Karnau hat sich mit dem Zusammenhang von Stimme und Seele auseinander gesetzt. Er sagt: „Kein Wunder, daß man jenes ungreifbare Etwas, das Seele genannt wird, in der menschlichen Stimme zu orten meint. Geformter Atem, Hauch: Das, was den Menschen ausmacht.“25 Es ist also die Stimme, die einen Menschen ausmacht, die sein Inneres (seine Seele) mit seinen Mitmenschen verbindet und ihn zu dem werden lässt, der er ist. Doch was macht einen Menschen aus, der nicht spricht und seine eigenen Stimme verabscheut? Ein Mensch wie Karnau, ein Mensch ohne Stimme, ist gleichzeitig auch ein Mensch ohne Seele. Trotzdem oder gerade deswegen beschäftigt er sich intensiv mit der Stimme und der Erforschung ihres Ursprungs. Er will eine Landkarte der menschlichen Laute erstellen und wird hierfür zum Forscher. Karnau reduziert die Menschen auf Schallquellen, er ist bereit, bis ans Äußerste zu gehen, um jeden Ton aufzuzeichnen und somit eine vollständige Karte zu erhalten.26 Im Dienste der Nazis experimentiert Karnau schließlich an lebenden Menschen. „Um den Ursprung der Stimme im Körper, den Sitz der Seele zu orten, zerstört er beide.“27 Karnau wird zu einem skrupellosen Nazi-Verbrecher, dem es an Menschlichkeit zu fehlen scheint und der die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse über die Rechte und die Würde anderer Menschen stellt.

[...]


1 Beyer 1996, S. 9

2 Vgl. Martinez/Scheffel 2007, S. 68

3 Vgl. Anz 2007, S. 317

4 derselbe, S. 318

5 Vgl. Anz 2007, S. 318

6 ebenda

7 Vgl. Berg 2005, S. 10f.

8 Vgl. Schönau 1991, S. 92ff.

9 derselbe, S. 103

10 derselbe, S. 105

11 Anz 2007, S. 323

12 Schönau 1991, S. 112

13 Vgl. Beyer 1996, S. 18

14 Vgl. derselbe, S. 14

15 Vgl. derselbe, S. 47

16 Vgl. derselbe, S.38

17 Für die bessere Lesbarkeit wird Hermann Karnau im Folgenden nur Karnau genannt.

18 Vgl. Beyer 1996, S. 16

19 Vgl. derselbe, S. 17

20 Vgl. Beyer 1996, S. 18

21 Vgl. derselbe, S. 59

22 Vgl. Berg 2005, S. 6

23 Vgl. Beyer 1996, S. 58f.

24 Vgl. Stengel/Strauch 1996, S. 14

25 Vgl. Beyer 1996, S. 21

26 Vgl. derselbe, S. 29

27 Bekes 1999, S. 63

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Marcel Beyers "Flughunde". Analyse der Beziehung zwischen Karnau und Helga unter Berücksichtigung des Motivs der Stimme
Hochschule
Leuphana Universität Lüneburg
Note
1,7
Autor
Jahr
2010
Seiten
14
Katalognummer
V445561
ISBN (eBook)
9783668861756
ISBN (Buch)
9783668861763
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Literatur, Literaturanalyse, Marcel Beyer, Flughunde, Stimme, Gegenwartsliteratur, Deutsche Literatur
Arbeit zitieren
Rebecca Bräutigam (Autor:in), 2010, Marcel Beyers "Flughunde". Analyse der Beziehung zwischen Karnau und Helga unter Berücksichtigung des Motivs der Stimme, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/445561

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