Politische Protestsongs der 1970er-Jahre. Eine Reaktion auf eine als zunehmend repressiv empfundene Gesellschaftsstruktur

Die Geschichte und das Liedgut von "Ton Steine Scherben"


Bachelorarbeit, 2018

43 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Protestsong - Ursprung und der Versuch einer Definition

3. Bundesrepublik Deutschland im Wandel
3.1. Gesellschaftlicher Wandel und Studentenproteste seit Mitte der 60er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland
3.2. Die Musik der Revolte
3.3. Entstehung der Ton Steine Scherben Ende der 60er Jahre

4. Entstehung der RAF und Bewegung 2. Juni
4.1. Benno Ohnesorg
4.2. Rudi Dutschke
4.3. ״Keine Machtfür Niemand" und die RAF

5. Flausbesetzerbewegung
5.1. Gründe und Protagonisten der Flausbesetzerbewegung in der Bundesrepublik Deutschland
5.2. Rauch-Flaus-Song

6. Protestsongs im Geschichtsunterricht

7. Fazit

8. Literaturverzeichnis

?Im Süden, im Osten, im Westen, im Norden, es sind überall dieselben, die uns ermorden. In jeder Stadt und in jedem Land, schreibt die Parole an jede Wand. Schreibt die Parole an jede Wand. Keine Macht für Niemand! Keine Macht für Niemand.[1]

1. Einleitung

?Musik kann zur gemeinsamen Waffe werden, wenn du auf der Seite der Leute stehst, für die du die Musik machst“[2], hieß es bereits in einer 1970 veröffentlichten Selbst­darstellung der Band Ton Steine Scherben. Und diese Waffe wurde sich bereits wäh­rend der 68er Bewegung zunutze gemacht, im späteren Verlauf der siebziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland wiedergefunden und genau diese Waffe ist es auch, die als Symbol von Szenen genutzt wurde, die sich bis zu den achtziger Jahren formiert hatten. Doch welchen Stellenwert hat diese Waffe in den verschiedenen gesellschaft­liehen Ereignissen, die sich in den letzten 50 Jahren in der Bundesrepublik Deutsch­land ergeben haben? Die Musik und auch die verschiedenen Musikrichtungen, die während der Zeit ihren Einzug in die Bundesrepublik Deutschland fanden, waren ste­tiger Wegbegleiter dieser Ereignisse. Sie wurde für die verschiedensten Zwecke in­strumentalisiert und von den verschiedensten Menschen gehört. Der (politische) Pro­testsong stach bei all dem jedoch hervor. Er übermittelt bestimmte Intentionen, infor­miert über Sachlagen und dient als Sprachrohr für eine ganze Generation, in dem er offen und schonungslos gesellschaftliche Veränderungen, soziale Gegebenheiten und menschliche Ungerechtigkeiten thematisiert und besingt. Die Stadentenrevolte von 1968 wurde begleitet durch die, gerade erst von Amerika nach Deutschland gekom­mene, Beats-Musik. Für jede Subkultur gab es ein musikalisches Subgenre. Die lang­haarigen ?Gammler“[3], die kein Interesse in materielle Werte legten und in den Tag hinein lebten, fanden ihr Gefallen an der Folk- und Beatmusik, die vor allem durch das 1969 stattfindende Woodstock-Festival ein gewisses Maß an Bekanntheit erlangte. In der demonstrierenden und hausbesetzenden Jugendkultur, die sich seit den 68er Re­volten in Deutschland manifestierte, war es vor allem die Band Ton Steine Scherben, die durch ihre einfachen musikalischen Mittel, den Nerv der Zeit getroffen haben und somit vielen der Jugendlichen als Sprachrohr dient.[4] Allgemein war die Musik ein wichtiges Ausdrucksmittel für die verschiedensten Jugendkultaren die sich seit den Studentenrevolten bildeten. ?In a country suffering from a schizophrenic lack of na­tional identity, these musicians voiced the feelings of a generation that felt it had little say in the establishment of their system of government after World War II“.[5] Für die meisten war Musik jedoch nur ein Konsumgut, welches jederzeit zur Verfügung steht und eine angenehme Freizeitbeschäftigung darstellt.[6] Und all diese musikalischen Er­scheinungen haben eines gemeinsam, häufig sind sie als Reflex auf eine als zuneh­mend repressiv empfundene Gesellschaftsstruktur entstanden. Von dem frühen Pro­testsong ?Eve of Destruction“ von Barry McGuire, bis hin zu dem vermeintlichen Kampflied der Roten Armee Fraktion ?Keine Macht für Niemand“, geschrieben und komponiert von den Ton Steine Scherben.

In der Folgenden Arbeit wird zunächst der Ursprung des Protestsongs erörtert und an­schließend eine Definition erarbeitet. Anschließend wird untersucht, welchen Wandel die Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren durchlebt hat. Beson­ders hervorzuheben sind hier die Studentenrevolten 1968 und wie die Musik als poli­tisches Medium ihren Einzug in die Bunderepublik erhielt. Dieses Kapitel wird dazu genutzt, die Band Ton Steine Scherben, die sich nach dem Ende der 68er Revolte ge­gründet hat, einzuführen und ihren Stellenwert für das linke Spektrum der Jugendkul­turen zu erörtern. Durch die Auseinandersetzung mit der Band Ton Steine Scherben werden jedoch einige Fragen bezüglich paramilitärischer Organisationen aufgeworfen, die unter Kapitel 4. genauer betrachtet werden. Einige dieser Frage sind, wer die Rote Armee Fraktion und die Bewegung 2. Juni waren, welche Ereignisse dazu geführt ha­ben, dass sich diese Gruppierungen formiert haben und inwiefern sie versuchten, die Musik der Ton Steine Scherben zu instrumentalisieren. Prägend für die späten siebzi­ger Jahre und frühen achtziger Jahre war die Hausbesetzerbewegung. Auch dieses The­menspektrum wurde von den Scherben aufgegriffen und in einem Song verarbeitet. Ton Steine Scherben ist somit die Band, die sich im Bereich der deutschsprachigen Protestsongs in den letzten 50 Jahren am meisten Gehör verschafft haben und durch ihre Musik die meisten gesellschaftlichen Veränderungen nach der 68er Revolte rezi­piert haben. Im letzten Kapitel wird es einen kurzen Exkurs in die Fachdidaktik Ge­schichte geben, in dem der Frage danach, ob solche Protestsongs als Medium im Ge­schichtsunterricht geeignet sind, nachgegangen wird. Abschließend wird ein Resümee gezogen, ob die politischen Protestsongs der 1970er Jahre tatsächlich als Reflex auf eine als zunehmend repressiv empfundene Gesellschaftsstruktur gesehen werden kön­nen, explizit anhand des Liedguts der Ton Steine Scherben.

2. Der Protestsong - Ursprung und der Versuch einer Definition

Musik gilt seit jeher als Sprachrohr der Gesellschaft, als massentaugliches Konsumgut, welches jederzeit verfügbar ist und als Freizeitbeschäftigung angesehen wird. Weniger wird sie als ein Mittel der politischen Bildung angesehen,[7] was jedoch durch die vor­liegende Arbeit widerlegt werden soll. Denn Musik kann noch viel mehr. Musik dient als überlieferte historische Quelle von Mentalitäten, Stimmungen und Ereignissen. In ihr finden Sozial- und Alltagsgeschichte einen Ort des Ausdrucks.[8] Darüber hinaus kann die Musik auch als ,Waffe’ fungieren, ?a psychological form of warfare that moves society to think critically about itself and the trajectory of its descent“[9]. Sie wird als Medium von Protest und Missgunst genutzt und um die enthaltene Botschaft ver­breiten zu können. Verschiedene Ideologien finden ihren Ausdruck durch sie und die Musik wird zum Werkzeug für Proteste, Ereignisse und Kritik. Wenn man die Musik als Sprachrohr einer gesellschaftlichen oder politischen Situation ansieht, dann ent­steht schnell das Argument, dass ?die Neue Musik einen Ausdruck unserer Zeit dar­stelle oder daß[sic! ] die instrumentale Tanzsuite ein typischer Ausdruck des höfischen Zeitalters sei“[10]. Würde man die Musik einer bestimmten Zeit als Ausdruck für eine andere Zeit nutzen wollen, entsteht der Eindruck, dass dies ,unwahr’ wirkt.[11] Schaut man sich die Gattungsgeschichte des Liedes an, findet man neben dem Protestlied, um welches es sich in dieser Arbeit überwiegend handelt, auch weitere bestimmende Lied­gattungen. Diese sind beispielsweise das Klagelied, das Stimmungslied oder auch die Propagandalieder, welche überwiegend zum nationalen Liedgut des 19. Jahrhunderts gezählt werden können, für die Arbeiterbewegung oder auch die NS-Zeit einen be­zeichnenden Aspekt tragen. Das Protestlied lässt sich von diesen weiteren Gattungen abgrenzen, in dem es thematisch eine zeitgenössische Wertung enthält. Die Themen, die sich in den Protestsongs wiederfinden lassen, scheinen nahezu unerschöpflich, ebenso wie die Konflikte, Probleme und Ereignisse, die in einem gesellschaftlichen Zusammenleben entstehen.[12]

Erstmals wurde diese Form in der Revolutionszeit 1848/49 populär und später erst stellten sich die Liedermacher der sechziger bis achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts in diese Tradition.[13] Schaut man sich nun die Entwicklung des Protestsongs während der sechziger Jahre an, lässt diese sich als einen Reflex auf einzelne Stationen und Ereignisse darstellen. Gerade wenn man verschiedene Ausgangspositionen und Wi­derstände der sechziger Jahre umreißt, dann stößt man auf unzählige literarische und nicht-literarische Protestbewegungen. Die kritische Auseinandersetzung mit Sachver­halten in Form des Protestlieds ist unter der Etikette der Song- und Protestsongbewe­gung dieser Zeit zu betrachten.[14] Gleichzeitig verstärkt sich in den sechziger Jahren die Neigung, dass die Rockmusik, gerade wegen ihrer Körperbetontheit, sowie der überwiegend gesellschaftskritischen und politischen Themenwahl zu nutzen, um eine Nähe zur meist jugenddominierten und politischen Protestbewegung zu schaffen. Die bewusste Definition der Rockmusik als politisches Medium ist jedoch eher in den sieb­ziger bis achtziger Jahren zu finden. Hier entstehen erstmals auch musikdominierte Bewegungen, wie beispielsweise ,Rock gegen Rechts‘.[15] Impulse, die durch die Pro­testsongbewegung aufgenommen wurden, gingen überwiegend von Studentinnen aus. Diese wurden als Angehörige einer progressiven Intelligenz angesehen und diese Tatsache lässt sich mitunter auch in den politischen Liedern dieser Zeit wiederfinden. Ein zu vertretender Individualismus der Schreiber spiegelt sich in den Texten wieder und somit wird versucht, sich gegen die Anonymisierung im Massenlied zu behaup- ten.[16] Die Entstehung der deutschen Protestsongbewegung lässt sich auf verschiedene Faktoren zurückführen, sie ?entsteht aus einer Bewußtseinslage[sic!] von Künstlern, in der sich die Enttäuschung über die be­stehende Gesellschaft mit der Hoffnung mischt, die bestehende Gesellschaft doch noch innerhalb ihres vorgegebenen Rahmens verändern zu können. Aus dem Amtsantritt des Präsidenten Kennedy mit seinen vielen leeren Versprechungen entwickelte sich gleichsam als im System bleibende Ne­gation die Bürgerrechtsbewegung, die zur Geburtsstunde des Protestsongs wird. Ebenso wird eine andere im System bleibende Negation des Godesberger Programms zum Nährboden des deutschen Protestsongs: die Ostermarschbewegung“[17].

Die Protestsongbewegung verfolgt vor allem das Ziel, die besungenen Sachverhalte gesellschaftstauglich zu machen. Es sollen nicht nur die Bürgerinnen angesprochen und erreicht werden, die in Kreisen verkehren, in welchen kritische Literatur bereits vorhanden ist und genutzt wird, es sollen vor allem die Bürgerinnen erreicht werden, die der Literatur fern standen oder nahezu ausgeschlossen waren.[18] Grenzt man die Protestsongbewegung nun weiter noch auf die siebzieger Jahre ein, dann setzt sich hier die Auffassung durch, dass die (politische) Popmusik in der Bundesrepublik Deutsch­land eher als ein gesellschaftliches und nicht als ein musikalisches Phänomen gewertet werden kann.[19]

Dadurch, dass die Musik nicht nur eine große Reichweite hat, sondern auch emotional zugänglich und beeinflussend ist, ist sie anfällig für Missbrauch und Manipulation. Die ideologische Unverfanglichkeit von Musik wird in verschiedene Richtungen und ideologische Ausprägungen genutzt.[20] ?Musik lenkt nicht nur ab vom realen Miß- stand[sic!]: sie stimmt auch versöhnlich gegenüber ihm“[21]. Musik hat die Eigenschaft versöhnlich zu stimmen, Euphorie hervorzurufen und Sachverhalte schönzufarben. Dies ist eng verbunden mit der Gefahr, dass Rezipienten durch diese Eigenschaften verblendet werden, beinah gelähmt scheinen und die Musik dazu missbraucht wird, die vorherrschenden kritischen Einwände einzuschläfem.[22] Viele Musiker dieser Zeit, darunter auch Hans Werner Henze, haben es sich zur Aufgabe gemacht, durch ihre Musik ein Sprachrohr des Klassenkampfes herzustellen und Situationen dieses Kamp­fes zu vermitteln. Zu den behandelten Themen gehören überwiegend die Probleme und Wünsche, wie auch die Ängste des Individuums im Klassenkampf und dessen utopi- sehe Vorstellungen und Erwartungen.[23]

In den siebziger und achtziger Jahren wurde zudem eine spezielle Art der musikali­sehen Zusammenkunft populär und fand besonderen Anklang in den Kreisen der poli­tisch linken Rezipienten: das politisch initiierte Konzert. Gerade dadurch, dass die Konzerte dieser Zeit oftmals eng an eine politische Intention geknüpft waren, hatten sie für das Publikum eine bestimmte Funktion. Auf diesen politischen Konzerten wurde wortlos ein Solidaritätsgefühl geschaffen, es ließen sich leicht Kontakte zu Gel- ichgesinnten knüpfen und die Rezipienten, hier also das Publikum, wurde durch die oftmals plakative Musik in ihren politischen Ansichten und in ihrem politischen En­gagement gestärkt. Darüber hinaus galten diese Konzerte häufig auch als Diskussions­forum für Gleichgesinnte und erfüllten bei den Rezipienten weitere individuelle Funk­tionen und emotionale Wirkungen.[24]

3. Bundesrepublik Deutschland im Wandel

Um die politischen Protestsongs der 1970er Jahre genauer erörtern und bestinmien zu können, wogegen oder wofür diese sich richten, muss man sich mit dem Wandel in der Bundesrepublik Deutschland seit Anfang der 60er Jahre auseinandersetzen. Unter­schiedlichste Faktoren wirkten darauf ein, dass die Bundesrepublik vor allem von der jüngeren Bevölkerung (überwiegend Studentinnen und Schülerinnen) als repressiv empfunden wurde. Seit Mitte der 60er Jahre manifestierte sich zudem ein Generati- onskonflikt[25] und ausgehend von der amerikanischen Studentenrevolte begannen ver­mehrt auch deutsche Stadierende auf die Straße zu gehen und sich durch Demonstra­tionen und andere Aktionen gegen die führenden Kräfte aufzulehnen.[26] Bereits zu der Hochphase der Studentenprotestbewegung 1968 spielte die Musik eine entscheidende Rolle. Die Beatmusik wurde populär, in der Bundesrepublik Deutschland fand der amerikanische und britische Rock’n’Roll Einzug und die Hippie-Bewegung und ihre politischen Inhalte der populären Musik bildeten eine Anhängerschaft.[27]

,,Und es war die Musik, die zu einer wichtigen Ausdracksform des Protestes wurde[...]: Ich war schon immer der Meinung, dass der Kern der 68er die Musik war, mit der viele Phäno­mene der 68er zu erklären sind. Es gibt allerdings nicht DEN Titel und es gibt nicht die EINE Erfahrung oder das EINE Erlebnis, das das und das ansgelöst hat “-[28] Die große Stadentenprotestbewegung zerfiel zu Beginn der 70er Jahre. Die SDS löste sich 1970 auf, die APO zerfiel, die 68er Bewegung war am Ende angekommen. Was zurückblieb, waren kleinere Splittergruppen, die entweder zum Konzept der Stadtgue­rilla übergingen oder auf anderen Wegen versuchten ihre politischen Ziele weiter zu verfolgen.[29] Und eine Band Namens Ton Steine Scherben, welche sich Anfang der 70er Jahre gründete und den revolutionären Geist der 68er Bewegung auch darüber hinaus auf ihren Konzerten zum Ausdruck brachten. Anfangs waren die Ton Steine Scherben vor allem das Sprachrohr der (nach wie vor) demonstrierenden und hausbe­setzenden Jugendlichen,[30] später wurden sie häufig auch zu den Unterstützem der Ro­ten Armee Fraktion und anderen politischen Bewegungen gezählt.

3.1. Gesellschaftlicher Wandel und Studentenproteste seit Mitte der 60er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland

Die Protestwelle, die Anfang der 60er Jahre durch Deutschland rollte, hatte verschie­dene Ursprünge. Viele Faktoren, sowohl politischer als auch gesellschaftlichen Natur, trafen aufeinander und verursachten Widerstand und eine kritische Betrachtung der Umstände in der Bevölkerung. Parallel zu den Unruhen in der Bevölkerung wurde in den Reihen der Studierenden ein Hochschulverband besonders behebt, der Sozialisti- sehe Deutsche Studentenbund, kurz SDS. Kaum ein anderer Zusammenschluss fand in diesen Jahren mehr Zulauf unter der jüngeren Bevölkerung. Eng verknüpft mit die­sem SDS, war im weiteren Verlauf auch die Entwicklung der deutschen Studentenre- volte.[31]

In der Politik wird die Notstandsgesetzgebung diskutiert, eine Reglung, die im Notfall, beispielsweise im Falle einer notwendigen Verteidigung, sowie im Falle von inneren Unruhen und Katastrophen, eintreten soll. Die Souveränität der Bundesrepublik soll durch diese Gesetzgebung bewahrt werden. Jedoch lösten die Diskussionen um diese Notstandsgesetzgebung vehementen Protest innerhalb der Bevölkerung aus. Ausge­hend von der SDS und dem Kuratorium ,Notstand der Demokratie’ kam es zu vielen Unruhen und Protesten. Den Höhepunkt der Diskussionen um die Notstandsgesetzge­bung erreichte die Bundesrepublik im Mai 1968, was zur Auswirkung hatte, dass die SPD sich zu einer parlamentarischen Unterstützung entschloss und die, im Zuge der Diskussionen eingeführten, Einschränkungen der Grundrechte zurückgenommen wur- den.[32]

Parallel zu den Protesten und Diskussionen um die Notstandsgesetzgebung entwickel­ten sich in Berlin eine weitreichendere Studentenprotestbewegung, inspiriert von der vorangegangenen amerikanischen Stadentenprotestbewegung. An der amerikanischen Universität Berkeley kam es aufgrund einer Fehlentscheidung des Rektorats zu ersten Protestbewegungen. Es wurden vom Rektorat Klapptische in der Universität entfernt und verboten, die von den Studierenden genutzt wurden, um Anstecknadeln und Zeit­schriften zu verkaufen, um damit die Civil-rights-Bewegung der Südstaaten finanziell zu unterstützen. Daraus resultierte eine ?Riesenrevolte und [diese] endete mit einem Erfolg der Studenten“.[33] Angetrieben von dem beeindruckenden amerikanischen Ge­schehnissen und deren Erfolge, formierten sich an der Freien Universität Berlin erste politisch initiierte Gruppen, die prompt das Wintersemester 65/66 zum Vietnam-Se­mester ernannten, um an den Vietnamkrieg zu gedenken und diesen kritisch zu reflek- tieren.[34] Eng verbunden mit den politischen Aktionen der Studierenden war der SDS. Im Sommersemester 1966 kamen zu dem, am Rande nach wie vor thematisierten, Vi­etnamkrieg und den Notstandsgesetzen noch zwei weitere Themen, die nun von den Studierenden kritisch betrachtet wurden: die Zwangsexmatrikulation und die Studien­reform. Unter der Zwangsexmatrikulation ist zu verstehen: ?Zwangsexmatrikulation wurde es genannt in der Kampfsprache der Studenten, Studienzeitbeschränkung oder befristete Zulassung in der Sprache der Juristen“.[35] Und im Laufe des Sommersemes­ters, am 22. Juni 1966, kam es dann zu einer der ersten Protestveranstaltungen, seitens der Berliner Studierenden. Sie versammelten sich auf dem Rasen unter dem Sitzungs­saal des Akademischen Senats und forderten von dem Senat unter anderem die Ab­Schaffung der Zwangsexmatrikulation, die Aufhebung der Raumvergaberichtlinien vom Ende des letzten Semesters und die - ?zum ersten Mal öffentlich erhoben in der Geschichte der deutschen Universitäten“[36] - Drittelparität in den universitären Gre- mien.[37]

Zudem wurde der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) aus der SPD ausge­schlossen. Durch diesen Ausschluss des SDS empfand sich die studentische Bewegung von nun an als ?Außerparlamentarische Opposition“ (APO) gegen die Große Koalition aus SPD und CDU.[38] Im Zusammenschluss der APO manifestierte sich ein vorherr- sehender Generationskonflikt. Die Mitglieder der APO lehnten sich gegen das herr­sehende ,Establishment’, den Kapitalismus, den Konsumterror und die Gesellschafts­Ordnung der Bundesrepublik auf. Als Ziel verfolgten sie die Demokratisierung aller Bereiche und sprachen sich offen für die Einführung eines marxistischen Rätesystems aus. Sie handelten überwiegend nach den Maximen der kritischen Theorie, welche Kritik an der Leistungs- und Konsumgesellschaft übt und als Ziel eine herrschaftsfreie Gesellschaft radikal selbstbestimmter Leute verfolgt. Anfänglich waren durch die APO überwiegend friedliche Proteste an der Tagesordnung. Sie funktionierten Lehr­Veranstaltungen um (teach-ins), besetzten leerstehende Gebäude und Gelände (go-ins) und organisierten Sitzblockaden (sit-ins).[39]

Als diese Form des Protestes jedoch nicht den gewünschten Erfolg erzielte, artete das Ganze in Gewalttaten und Brandstiftungen aus. Vom ehemals friedlichen Protest blie­ben nur noch Reste übrig. Am 2. Juni 1967 kam es zu dem ersten Höhepunkt der Re­volte, welche nun ein bundesweites Ausmaß annahm. Anlass für mehrere Demonstra­tionen in Bonn, München und schließlich auch Berlin, war der Besuch des persischen Schahs Reza Pahlewi. Dieser stand wegen seiner Terrorherrschaft im Iran in scharfer Kritik.[40] Am Abend vor dem Besuch des Schahs und seiner Frau in Berlin fand eine Informationsveranstaltung im Audimax der Universität statt, in der am Ende der Ver­anstaltung dazu aufgerufen wurde, sich am folgenden Tag mittags vor dem Rathaus in Schöneberg und abends vor der Charlottenburger Oper zu versammeln und zu de- monstrieren.[41] Das tragische Ende dieser studentischen Demonstrationen am 2. Juni war der Tod eines Berliner Studenten durch den Polizisten Karl-Heinz Kurras. ?Mit diesen Schüssen des Polizeiobermeisters Karl-Heinz Kurras hatte sich tatsächlich et­was verändert“.[42] Die zunehmende Radikalisierung der Proteste wurde durch den Frei­Spruch des Polizisten Karl-Heinz Kurras angefacht. Diese Thematik greife ich in Ka- pitei 4.1. ausführlicher auf.

Am 11. April 1968 verübte ein Gegner der APO ein Attentat auf den Wortführer des Berliner SDS, Rudi Dutschke, welches in den westdeutschen Protestbewegungen wie­der zu Radikalisierungen und erneuten Protestveranstaltungen führten. Anlässlich des Dutschke-Attentats verfasste die Journalistin Ulrike Meinhof einen Artikel für die ?konkret“ mit dem Titel ?Vom Protest zum Widerstand“. Darin heißt es:

?Protest ist, wenn ich sage, das und das passt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass das, was mir nicht passt, nicht länger geschieht. Gegengewalt, wie sie an den Ostertagen praktiziert worden ist, ist nicht geeignet, Sympathien zu wecken, nicht, erschrockene Liberale auf die Seite der Außerparlamentarischen Opposition zu ziehen. Gegengewalt läuft Gefahr, zu Gewalt zu werden, wo die Brutalität der Polizei das Gesetz des Handelns bestimmt, wo ohn­mächtige Wut überlegene Rationalität ablöst, wo der paramilitärische Einsatz der Polizei mit paramilitärischen Mitteln beantwortet wird“[43].

Die Radikalisierung der Protestbewegung wird hier auf den Punkt gebracht. Später wird die BILD-Zeitung, aufgrund ihrer kritischen Berichterstattung zu den studenti- sehen Protesten als mitverantwortlich für das Attentat auf Rudi Dutschke gezählt. Dies hatte zur Folge, dass sich am 11. April 1968 eine Gruppe von protestierenden Studie­renden auf den Weg von der TU Berlin zu dem Berliner Springer-Gebäude gemacht hat. Die Proteste verliefen zu diesem Zeitpunkt weniger friedlich und Waren mit dem werfen von Pflastersteinen und Molotowcocktails verbunden. Nicht selten endeten diese Formen des Protests in Straßenschlachten zwischen den Studierenden und der Polizei.[44] Die Osterunruhen brachen in der Bundesrepublik aus und die APO ist schließlich an diesen Faktoren und Geschehnissen zerbrochen.[45] Doch nicht nur in Berlin war der gesellschaftliche Wunsch nach Veränderung und Protest zu der Zeit zu beobachten. In den frühen siebziger und achtziger Jahren entstand eine Großzahl an Bürgerinitiativen und Protestbewegungen über die ganze Republik verteilt. Zunächst beschränkte sich der jeweilige Wirkungsbereich auf lokaler Ebene, um Missstände zu beseitigen und Forderungen durchzusetzen, wie beispielsweise der Wunsch nach mehr Kindergärten oder kleineren Schulklassen. Zu späterer Zeit ist zu beobachten, dass sich diese Protestbewegungen auch überregional ansiedelten, besonders im Bereich des Umweltschutzes.[46] Eines der schwerwiegendsten Probleme der Republik war jedoch der Terrorismus, der sich Anfang der 70er Jahre durch viele Aktivitäten von fanati­schen Extremisten manifestierte. Bombenanschläge, Geiselnahmen, Entführungen und Morde waren der deutschen Berichterstattung der Nachrichtenportale nicht mehr fremd. Vermutet wird, dass die Anfänge des deutschen Terrorismus sich in der 1968er Protestbewegung finden lassen. ,Gewalt gegen Sachen’ zur Durchsetzung sozialrevo­lutionärer Ziele scheint legitim und aus den ehemals friedlichen teach-, go- und sit-ins entwächst eine radikalisierte Form des Protests und der Auflehnung gegen eine als zunehmend repressiv empfundene Gesellschaftsstruktur in der Bundesrepublik Deutschland.[47]

3.2. Die Musik der Revolte

Von Beginn der Studentenrevolte an lässt sich eine Symbiose aus Musik und Protest­bewegung beobachten. Sie wird als die Komponente gewertet, die zu einer Politisie­rung der kulturrevolutionären Strömung an der West- und Ostküste der USA führte. Gerade durch die Musik gelang es dem revolutionären Gefühl, nicht nur in den USA Fuß zu fassen, sondern sich darüber hinaus auch weiter nach Mexiko, Japan, Italien, Polen, Tschechoslowakei, Frankreich und Deutschland zu verbreiten.[48]

[...]


[1] Text: Rio Reiser, R. P. S. Lanrue, http://www.riolyrics.de/song/id:125 , letzter Zugriff: 12.03.18, 11:29 Uhr.

[2] Sichtermann, Kai/ Johler, Jens/ Stahl, Christian: Keine Macht für Niemand. Die Geschichte der Ton Steine Scherben. Berlin, 2003. s. 53.

[3] Vgl. Gäsche, Daniel: Born to be wild oder Die 68er und die Musik. Leipzig, 2008. s. 72.

[4] Vgl. Böning, Holger: Der Traum von einer Sache. Aufstieg und Fall der Utopien im politischen Lied der Bundesrepublik und der DDR. Bremen, 2004. s. 126f.

[5] Putnam, Michael T.: Music as a Weapon. Reactions and Responses to RAF Terrorism in the Music of Ton Steine Scherben and their Successors in Post-9/11 Music, in: Popular music and society 32,5 (2009), s. 595-606. s. 601.

[6] Vgl. Canaris, Ute: Musik//Politik. Texte und Projekte zur Musik im politischen Kontext. Bochum, 2005. s. 22f.

[7] Vgl. Canaris: Musik//P01itik. s. 22f.

[8] Vgl. Sauer, Michael: Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. Seelze, 2007. s. 231.

[9] Putnam: Music as a Weapon, s. 600.

[10] Kneif, Tibor: Ästhetischer Anspruch und Ideologiegehalt im Musikalischen Kunstwerk, in: Stephan, Rudolf [Hg.]: Über Musik und Politik. Neun Beiträge. Mainz, 1971. s. 88

[11] Vgl. Ders. s. 88

[12] Vgl. Sievritts, Manfred: Lied - Song - Chanson, Band 2. Politisch Lied, ein garstig Lied? Materialheft zu Musikdidaktik Grundband 1. Wiesbaden, 1984. s. 5.

[13] Vgl. Sauer: Geschichte unterrichten, s. 23 lf.

[14] Vgl. Riha, Karl: Moritat, Bänkelsong, Protestballade. Zur Geschichte des engagierten Liedes in Deutschland. Frankfurt am Main, 1975. s. 123f.

[15] Vgl. Meyer, Ulrich: Rockmusik zwischen Emanzipation und Regression, in: Schoenebeck, Mechthild von/Brandhorst, Jürgen/Gerke, H. Joachim (Hrsg.): Politik und gesellschaftlicher Wertewandel im Spie­gel populärer Musik. Essen, 1992. s. 150ff.

[16] Vgl. Riha: Moritat, Bänkelsong, Protestballade, s. 124.

[17] Riha: Moritat, Bänkelsong, Protestballade, s. 124f.

[18] Vgl. Ders. s. 28.

[19] Vgl. Schoenebeck, Mechthild von: Politische Inhalte populärer Musik, in: Schoenebeck, Mechthild von/Brandhorst, Jürgen/Gerke, H. Joachim (Hrsg.): Politik und gesellschaftlicher Wertewandel im Spie­gel populärer Musik. Essen, 1992. s. 33.

[20] Vgl. Kneif: Ästhetischer Anspruch und Ideologiegehalt im Musikalischen Kunstwerk, s. 89.

[21] Ders. S. 91.

[22] Vgl. Ders. S. 91.

[23] Vgl. Henze, Hans Werner: Musik u8nd Politik. Schriften und Gespräche 1955-1984. München, 1984. s 167.

[24] Vgl. Karger, Inge: Politische Musik und naive Musiktherapie. Eine Untersuchung zum Erleben poli­tischer Konzerte in den 80er Jahren am Beispiel von Aufführungen des szenischen Oratoriums Prole­tenpassion der Polit-Rock-Gruppe Schmetterlinge. Oldenburg, 2000. s. 34f.

[25] Vgl. Pötzsch, Horst: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart. Die Entwicklung der beiden deutschen Staaten. München, 1998. s. 153.

[26] Vgl. Wesel, Uwe: Die verspielte Revolution. 1968 und die Folgen. München, 2002. s. 18f.

[27] Vgl. Schoenebeck: Politische Inhalte populärer Musik, s. 24.

[28] Gäsche: Born to be wild. s. 19.

[29] Vgl. Gäsche: Born to be wild. s. 133.

[30] Vgl. Boning: Der Traum von einer Sache, s. 125.

[31] Vgl. Wesel: Die verspielte Revolution, s. 17.

[32] Vgl. Pötzsch: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart, s. 152f.

[33] Wesel: Die verspielte Revolution, s. 18f.

[34] Vgl. Ders. s. 21.

[35] Wesel: Die verspielte Revolution, s. 23.

[36] Ders. s. 27.

[37] Vgl. Ders. s. 25ff..

[38] Vgl. Pötzsch: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart, s. 153, und Wesel: Die verspielte Revolution, s. 31.

[39] Vgl. Pötzsch: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart, s. 153f.

[40] Vgl. Wesel: Die verspielte Revolution, s. 49.

[41] Vgl. Ders. s. 50.

[42] Ders. s. 51.

[43] Aust, Stefan: Der Baader Meinhof Komplex. Hamburg, 1987. s. 68.

[44] Vgl. Aust: Der Baader Meinhof Komplex, s. 66f.

[45] Vgl. Pötzsch: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart, s. 153ff.

[46] Vgl. Ders. s. 190.

[47] Vgl. Ders. s. 191f.

[48] Vgl. Gäsche: Bom to be wild. s. 82.

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Politische Protestsongs der 1970er-Jahre. Eine Reaktion auf eine als zunehmend repressiv empfundene Gesellschaftsstruktur
Untertitel
Die Geschichte und das Liedgut von "Ton Steine Scherben"
Hochschule
Universität Bielefeld
Note
1,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
43
Katalognummer
V445713
ISBN (eBook)
9783668821811
ISBN (Buch)
9783668821828
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Didaktik, 68er, 1970, RAF, Protestsongs, Bundesrepublik Deutschland, Studentenprotest, Ton Steine Scherben, Geschichtsunterricht
Arbeit zitieren
Julia Paar (Autor:in), 2018, Politische Protestsongs der 1970er-Jahre. Eine Reaktion auf eine als zunehmend repressiv empfundene Gesellschaftsstruktur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/445713

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