Der Turmbau zu Babel. Exegese zu Genesis 11,1–9


Bachelorarbeit, 2015

51 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Hebräischer Text mit textkritischem Apparat
2.1. Der Text der BHS
2.2. Innere und äußere Textkritik
2.3. Übersetzung

3. Textanalyse
3.1. Hinführung
3.2. Textoberfläche
3.3. Texttiefenstruktur
3.4. Textpragmatik

4. Gattungskritik
4.1. Hinführung
4.2. Der Turmbau als Sage
4.3. Sitz im Leben
4.4. Autor, Hörer und Leser

5. Traditionskritik und –geschichte
5.1. Hinführung
5.2. Bedeutungsklärung von ‚qedem’
5.3. Was wird mit ‚bavel’ und ‚schinar’ bezeichnet?
5.4. Betrachtung des Ausdrucks ‚aseh schem’
5.5. Funktion von ‚het-lamet-lamet’ im Kontext der Urgeschichte

6. Literargeschichte – Geschichte des Textes
6.1. Hinführung
6.2. Stellung in der Urgeschichte
6.3. Literargeschichtliche Forschungslinien
6.4. Homogenität des Textes und Schichtung
6.5. Außerisraelitische Quellen
6.6. Babel-Ätiologie
6.7. Zeitliche Einordnung

7. Ökonomische Exegese

8. Gesamtinterpretation

9. Literaturverzeichnis

10. Anhang
10.1. Anhang ./1 – Satzanalyse
10.2. Angang ./2 – Satzformationsanalyse

1. Einleitung

Die Perikope Genesis 11,1–9 trägt üblicherweise den Titel „Turmbau zu Babel“. Von der Textlänge her betrachtet, ist der Turmbau nicht der zentrale Aspekt, jedoch wurde bereits in der frühjüdischen Literatur dem Turm mehr Aufmerksamkeit zu Teil.1 Und das, obwohl der Turmbau nur eines und noch nicht mal das Hauptmotiv des Textes ist. Jedoch hat er in der Rezeptionsgeschichte einen großen Stellenwert eingenommen, was nicht zuletzt auch durch die Umsetzungen der Thematik in der Bildenden Kunst sichtbar wird. In der Perikope geht es neben dem Turmbau noch um die sogenannte „babylonische Sprachverwirrung“ und auch um die Zerstreuung der Völker, also die Diaspora.

Durch die Geschichte werden mehrere Aspekte beleuchtet und es wird versucht, eine Erklärung zu geben. Einerseits die bis dahin einheitliche Menschheit, die sich nun zerstreut. Wir haben den Aspekt des Größenwahns der Menschen, die ein Bauwerk errichten wollen, das bis zum Himmel reicht, um sich damit einen Namen zu machen. Und wir haben den Aspekt des Zusammenhalts der Menschen, die sich gegen die Zerstreuung wehren. Gott greift mit seinem Handeln ein, verwirrt die Sprache der Menschen, sodass sie sich nicht mehr verständigen können und der Bau eingestellt werden muss.

So jedenfalls die üblichen exegetischen Erkenntnisse zu Gen 11,1–9. Kann man aber etwas anderes aus dem Text herauslesen? Gibt es eventuell einen anderen Fokus? Was will uns also dieser Text mitteilen? Soll damit nur erklärt werden, wie es zu den verschiedenen Sprachen auf der Welt gekommen ist? Und auch, wie aus einem Menschenpaar so unterschiedliche Völker entstehen konnten, die sich heute nicht mehr untereinander verständigen können? Oder soll der Name Babel erklärt werden.2 Finden wir auch hier den typisch alttestamentlichen Tun-Ergehen-Zusammenhang? Lässt sich gar mit Blick auf die jüdische Auslegungspraxis und mit Blick auf Exegeten aus dem nicht-deutschsprachigen Raum eine andere Gewichtung der Themen und Erträge finden?

Dies sind einige der Fragen, die im Laufe dieser Arbeit erhellt werden sollen. Ich habe mich dem Text schließlich noch aus einer ökonomischen Sichtweise angenähert und versuche hier Exegetisches zu Tage zu fördern, das Auswirkungen auf ökonomisches Handeln haben könnte.

2. Hebräischer Text mit textkritischem Apparat

2.1. Der Text der BHS

Zu Beginn der Arbeit soll der Text sichergestellt werden um daraus eine Arbeitsübersetzung anfertigen zu können, die die Basis für die weiteren exegetischen Schritte darstellt. Ausgangstext ist dabei der Text, wie er in der BHS zu finden ist und hier wiedergegeben werden soll:

Abbildung in dieser leseprobe nicht enthalten

2.2. Innere und äußere Textkritik

Die Bibel und somit auch die als Teil des Alten Testaments bezeichneten Bücher des Pentateuch liegen uns – leider – nicht im Original vor; es gibt keine Autographen. Man ist daher auf den Bestand überlieferter Texte angewiesen. Die hebräische Bibel weist eine lange Überlieferungsgeschichte auf. In jeder Phase der Textproduktion und Reproduktion über die vergangenen Jahrhunderte kann es zu Veränderungen, Verderbungen oder Verfälschung des Textes kommen. Diese können absichtlich erfolgen oder aber unabsichtlich. Aufgabe der Textkritik ist es, einen möglichst dem Original nahekommenden Text als Ausgangsbasis der exegetischen Arbeit zu rekonstruieren. Dies klingt einfacher als es ist, da man hier in hohem Maße auf archäologische Funde angewiesen ist. Die Rekonstruktion eines Urtextes kann daher immer nur eine Momentaufnahme sein; durch den Fund eines weiteren Papyrus oder einer weiteren Tonscherbe kann es zu Änderungen kommen. Freilich muss man zuvor den Fund einordnen und den neuen Textzeugen bewerten.3 So wie es auch im textkritischen Apparat gemacht wird. In ihm werden die bekannten anderen Lesarten als Fußnoten angeführt, der Mehrheitstext befindet sich im Haupttext. Mehrheits- und Ausgangstext für diese Arbeit ist der Masoretische Text (MT), wie er in der Biblia Hebraica Stuttgartensis (BHS) überliefert ist.4

Der textkritische Apparat der BHS ist in der vorliegenden Perikope nicht sehr ergiebig und stellt keine große Herausforderung dar. Lediglich in den Versen 1 und 8 gibt es in der Septuaginta bzw. im Samaritanus andere Lesarten:

Abbildung in dieser leseprobe nicht enthalten

Die Septuaginta (LXX) ergänzt Vers 1 nachאֲחָדִֽים‎ um πᾶσιν, also „allen“, was in der hebräischen Umschriftלְכֻלָּםentspräche. Der hebräische Text würde damit lauten:

Abbildung in dieser leseprobe nicht enthalten

Da diese Lesart nur in der LXX bezeugt und auch länger als der MT ist, dürfte es sich um eine sekundäre Version handeln, weshalb ich mit Verweis auf die lectio brevior potior bei der Version des Mehrheitstextes bleibe.

Für den 8. Vers gibt es zwei alternative Lesarten, die jeweils im Samaritanus und der Septuaginta bezeugt sind. Mit Anmerkung a wird der Vers 8 um eine nota accusativi ergänzt, sodass sich das Ende des Verses so lesen würden:

‎… Gen 11,8 לִבְנֹ֥ת את הָעִֽיר‏׃

Das mag für den Samaritanus stimmen, doch für den LXX ist das nicht stimmig, weil die griechische Sprache einen Akkusativanzeiger in diesem Sinne nicht kennt. Somit steht eigentlich nur mehr der Samaritanus gegen den masoretischen Mehrheitstext. Es ist aber Tatsache, dass der Samaritanus –ähnlich wie die LXX – häufig eine an- bzw. ausgleichende Tendenz hat. Deshalb wird die ergänzende Lesart verworfen und am MT festgehalten.5

Interessanter ist hier die zweite von LXX und Samaritanus vorgeschlagene Ergänzung mit Fußnote b umואת־המגדל, denn dieser Satzteil findet sich ebenfalls in Vers 4 (hier ohne nota accusativi) und gleichlautend in Vers 5. Aber auch diese Ergänzung des MT ist im Sinne der lectio brevior potior sekundär, weshalb sie verworfen wird. Das bewirkt aber, dass hier in Vers 8 nicht vom Turm, sondern nur von der Stadt gesprochen wird. Da aber in den VV 4 und 5 sowohl die Stadt als auch der Turm angeführt wurden, dürften LXX und Samaritanus hier die Ergänzung um den Turm vorgenommen haben, um eine Angleichung des Textes zu erreichen. Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass diese Ergänzung bei der Rekonstruktion des Ursprungstextes auszuscheiden ist.

Es bleibt somit festzuhalten, dass der aktuell vorliegende textkritische Apparat der BHS zu keiner Änderung der Lesart beiträgt, weshalb ich den Text der BHS als Endtext heranziehe.

2.3. Übersetzung

Aus der vorgenannten textkritischen Analyse ergibt sich als Arbeitsübersetzung Folgendes, wobei sich die Gliederung in Unterverse an der Gliederung gemäß der Satzformationsanalyse in Anhang ./2 orientiert:

Gen 11,1 a Es hatte aber die ganze Erde eine Sprache und die gleichen Worte.

Gen 11,2 a Als sie nun

b von Osten aufbrachen,

c fanden sie eine Tiefebene im Lande Schinar

d und blieben dort wohnen.

Gen 11,3: a Da sagten sie zueinander:

b „Auf!

c Wir wollen Ziegel machen

d und sie in der Brandstätte brennen!“

e So dienten ihnen die Ziegel als Bausteine

f und der Asphalt war der Mörtel.

Gen 11,4: a Dann sagten sie:

b „Auf!

c Wir wollen uns eine Stadt und einen Turm bauen und seine Spitze bis in den Himmel,

d und wollen uns einen Namen machen,

e damit wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen!“

Gen 11,5: a Da fuhr JHWH herab,

b um sich die Stadt und den Turm anzusehen,

c welche die Nachkommen Adams6 erbauten.

Gen 11,6: a Da sagte JHWH:

b „Siehe, es ist ein Volk und es haben alle dieselbe Sprache.

c Dies ist erst der Anfang ihres Unternehmens:

d jetzt wird ihnen nichts mehr verwehrt werden (können),

e was sie sich vornehmen

f zu machen.

Gen 11,7: a Auf!

b Wir wollen hinabfahren

c und ihre Sprache dort verwirren,

d so dass keiner mehr die Sprache des andern versteht!“

Gen 11,8: a So zerstreute sie JHWH von dort über die ganze Erde,

b so dass sie aufhörten, die Stadt

c zu bauen.

Gen 11,9: a Daher gab man der Stadt den Namen Babel;

b denn dort hat JHWH die Sprache der ganzen Erdbevölkerung verwirrt

c und sie von dort über die ganze Erde zerstreut.

3. Textanalyse

3.1. Hinführung

In der Textanalyse nimmt man den hebräischen Textes wahr und beschreibt ihn. Man versucht dabei herauszufinden, was der Text vermitteln möchte, geht dabei allerdings behutsam und vor allem analytisch vor, um keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Utzschneider/Nitsche analysieren dabei den Text nach drei unterschiedlichen Gesichtspunkten, die jeweils bestimmte Aspekte des Textes hervorheben: Zeichenebene, Inhaltsebene und Wirkungsebene.7

3.2. Textoberfläche

Bei diesem Schritt geht es darum, „die Kompositions- und Gliederungsstrukturen der Oberfläche des Textes zu ermitteln.“8 Es wird hier nach Zusammenhängen im Text gesucht, die sich alleine aus der Betrachtung des Schriftbildes ergeben. Die inhaltliche Ebene wird noch nicht betrachtet. Dabei umfasst die Textoberfläche die hör- und lesbaren Sprachzeichen, in denen der Text zusammengestellt wurde.9 Die in diesem Schritt übliche Übersetzung mit Herausarbeitung der Satzformationen findet sich im Anhang /2.

Mit Ausnahme von Vers 7 haben alle Verse mindestens eine wayyiqtol Formation, was bei einer Erzählung nicht weiter verwunderlich ist, weil das die Narrativform ist, die manches Mal aber auch die Vorzeitigkeit, also Vergangenes, ausdrücken kann.

Sowohl Vers 1 als auch Vers 2 beginnen mit einem Tempusmarker und könnten daher als je eigenständiger Beginn der Perikope gesehen werden. Vers 1 ist ein Nominalsatz, bei dem der Tempusmarker zu Beginn eigentlich nicht passt, denn üblicherweise wird damit etwas eingeleitet, quasi das Tor zu einem Handlungsraum eröffnet. Das ist hier aber nicht der Fall. Hier wird letztlich ein Zustand bezeichnet, der im Laufe der Geschichte in sein Gegenteil verwandelt wird.10

In den Versen 3, 4 und 6 wird mit einer wayyiqtol-Formation eine direkte Rede eingeleitet. Die Verse 3 und 4 zeigen anfangs Parallelen: Die direkte Rede wird mit einer Aufforderung eingeleitet und geht dann in eine yiqtol-Formation über, die nach einer Aufforderung einen Sachverhalt in yiqtol schildert und mit einer qatal-Formation endet. Während Vers 3 durch die unterschiedlichen Formationen dynamischer wirkt, ist Vers 4 einheitlicher, da er innerhalb der Rede aus der Aufforderung und nachzeitigen bzw. sachverhaltsdarstellenden Elementen besteht. Die direkte Rede macht in etwa die Hälfte des Grundtextes aus und soll die Motivation und Zielsetzungen der handelnden Personen interpretieren. So jedenfalls die Intention des Autors. Somit erhält der Text den Charakter einer „ paradigmatischen Erzählung, die an einem Beispiel grundlegende anthropologische und theologische Sachverhalte aufzeigen will“.11

Abgesehen von der direkten Rede ist Vers 7 eine Parallele zu Vers 4: Einer Aufforderung folgen drei yiqtol-Glieder. In beiden Versen wird ein nachzeitiges, also zukünftiges Geschehen ausgedrückt. Die Verse 7 und 9 sind die einzigen Verse, die asyndetisch angereiht sind. Und sie stechen auch noch heraus, weil sie als einzige nicht mit einem Verb im Narrativ (wayyiqtol) beginnen.

Obwohl es zu Redeteilen in der Perikope kommt, haben wir es hier nicht mit einer dialogischen Situation zu tun. Die Redeteile in den VV 3.4.6.7 sind keine Reden, die an einen konkreten, impliziten Empfänger gerichtet sind, sondern erklärende Reden für den Leser bzw. den ursprünglichen Hörer. Sprecher sind hierbei zuerst die Menschen (VV3.4) und danach JHWH (VV 6.7).

Die Verse 5 und 6 drücken allgemeingültige Feststellungen aus. Kenntlich ist das am vergleichsweisen häufigen Infinitiv. Der Hauptteil des Textes ist auffallend symmetrisch aufgebaut. Die V 2–4 berichten vom Handeln der Menschen, das in den VV 5–7 ein Handeln Gottes provoziert; diese beiden „Handlungsstränge“ erstrecken sich jeweils über drei Verse. Vers 1 stellt eine Feststellung dar, die gleichsam als Einleitung angesehen werden kann, wiederum symmetrisch zu V 9, der eine Art Epilog darstellt. Somit bleibt V 8 als Konsequenz der menschlichen und göttlichen Handlungen übrig. Diese grobe oberflächliche Gliederung wird in der Tiefenstrukturanalyse leicht anders aggregiert, um das Textthema12 besser herausschälen zu können.

Vers 5 könnte man als Nabe der Perikope ansehen. Bis dahin wird von den Menschen berichtet. Es reden die Menschen – wenn auch nicht dialogisch, eher in Form eines Monologs bzw. von Anweisungen. Danach handelt Gott und spricht Gott. Auch wiederum nicht dialogisch. Fraglich bleibt in Vers 7, warum JHWH hier im Plural spricht. Wer ist mit „wir“ gemeint? Könnte das gar ein christologischer Hinweis sein?13

Die Perikope wird durch die Verse 1 und 9 eingerahmt: Ein Volk mit einer Sprache14 wird zerstreut und sie sprechen mehrere Sprachen. Die Zerstreuung als göttliches Ereignis ist der Beleg dafür, dass der Mensch nichts gegen den Willen Gottes tun kann. Die (baulichen) Bemühungen zum Zusammenhalt der Gruppe widersprechen Gottes Plan. Und so zerstreut er die Menschen.

Gen 11,1–9 wird abgeschlossen durch einen Vers rein im qatal, der einerseits Vorzeitigkeit angibt, andererseits einen Sachverhalt erklärt. Von daher ist die Verwendung einer qatal Formation auffallend, weil für Sachverhaltsdarstellungen üblicherweise yiqtol Formationen verwandt werden.

3.3. Texttiefenstruktur

Bei der Analyse der Texttiefenstruktur wird der Inhalt des Textes, sowie seine Struktur untersucht. Daher wird sie von der „Thematik und deren Aufbau und Konstellation im jeweiligen Text bestimmt.“15

Es soll zuerst eine traditionelle Gliederung des Textes erfolgen:

Abbildung in dieser leseprobe nicht enthalten

Tab. 1. Textgliederung

Durch die Gliederung der Verse in fünf Propositionen und diese wiederum in drei Teilthemen wurde als Textthema „Wer Gott herausfordert wird bestraft“ herausgeschält. Es ist dies somit eine Form des im AT bestens bekannten Tun-Ergehens-Zusammenhangs. Unerheblich dafür sind der Ort und das Gebaute – ob Turm oder eine Stadt und ein Turm. Es geht darum, dass die Menschen Gott herausfordern, sich selbst zu Gott aufschwingen wollen und er sie dafür sanktioniert. Wie schon im Garten Eden beim Essen von der Frucht hat auch diese Handlung für die gesamte Menschheit Konsequenzen.

So ist jedenfalls die herrschende Meinung in der Forschung. In der Gesamtinterpretation werde ich – wie bereits in Fußnote 12 erwähnt – bewusst eine andere Sichtweise einnehmen. Ich bleibe aber in diesem Abschnitt bei den Einzelschritten in der traditionelleren Auslegungspraxis, zumal ich hier auch meine Aufgabe in einer grundsätzlichen Kollektion des aktuellen Forschungsstandes sehe.

Auffallend ist ein Wortspiel, das in Vers 9 vorkommt: Hier wird der Name der Stadt Babelבָּבֶ֔ל mit dem Verb verwirren (בָּלַ֥ל) in Verbindung gebracht. Es klingt zwar ähnlich. Und oft wird er auch vom Volksmund als vonבָּלַ֥לstammend bezeichnet, doch das ist etymologisch nicht richtig. Babel hat nichts mit Verwirrung zu tun. Man vermutet, dass es Pforte Gottes16 bedeutet, bzw. dass man es als „Tor Gottes bzw. der Götter“, wie die Babylonier bāb ili / ilī verstanden haben sollen, übersetzen könnte.17 Jedoch, die genaue Bedeutung von Babel ist nicht restlos geklärt: „Philologisch betrachtet ist die Etymologie kindlich, denn natürlich ist ‚Babel’ nicht aus dem Hebräischen zu erklären. Auch die keilschriftliche Etymologie Babil als Bab-il = Gottestor ist vielleicht nur eine semitisch-babylonische Volksetymologie des ursprünglich vielleicht gar nicht semitischen Wortes.“18 Die exakte Etymologie ist aber für die weitere Exegese nicht weiter von Belang. Die Exegeten sind sich heute einig, dass die beiden Worte nichts miteinander zu tun haben. Und dennoch hält sich der volkstümliche Erklärungsversuch auch in der Wissenschaft. Wohl deswegen, weil er auf eindringliche und leicht nachvollziehbare Art Bedeutungsschwere an den Tag legt.19 Da die Geschichte aber auf eine Mythologie zurückgeht und eine Sage als Ursprung hat, kann man damit gut leben. Man muss sich jedoch vor Augen halten, dass es sich bei dieser Analogie nicht um eine wissenschaftlich fundierte Etymologie handelt. Als Teil der Bibel, also der für Juden wie Christen Heiligen Schrift, kann man dieses Bedeutungsspiel gerade für die Volksfrömmigkeit sehr wohl stehen lassen, vor allem auch eingedenk der Tatsache, dass dadurch keine theologischen Probleme verursacht werden.

3.4. Textpragmatik

Die Textpragmatik beschäftigt sich mit den „Einstellungen und Haltungen des Sprechers zum und im Gesagten“20 sowie mit den Reaktionen der Hörer. Es geht dabei also um die Wirkung, die der Text hat, welche Emotionen er auslöst und zu welchen Handlungen er provoziert. Die Analyse im Bereich der Textpragmatik setzt man vor allem bei bestimmten Textgruppen ein: bei Psalmen, Rechts- und Weisheitstexten.21 Da es sich bei der vorliegenden Perikope um einen Erzähltext handelt, wird von diesem Analyseschritt abgesehen.

4. Gattungskritik

4.1. Hinführung

Im Allgemeinen sind Menschen dazu in der Lage, die Gattung von Texten intuitiv zu erkennen. So weiß wohl jeder Mensch, der einen Text betrachtet, ob es sich z.B. um ein Kochrezept oder eine Sterbeanzeige handelt. Diese sogenannte Gattungskompetenz ist für eine gelingende Kommunikation entscheidend, da man nur dadurch beispielsweise eine satirische Meldung von einem Tatsachenbericht unterscheiden kann. Dabei versteht man unter Gattung eine typische, sprachliche Kommunikationsweise, die dabei aber nie mit einem bestimmten Text identisch ist. Sie bildet eine Form des kollektiven Wissens einer bestimmten Kultur.22

In diesem Analyseschritt geht es darum, die sprachliche Eigenart eines Textes, seine Gattung und seinen Verwendungszusammenhang zu bestimmen.23 Die Gattungskritik (zuweilen auch Formkritik oder Formgeschichte genannt) ist untrennbar mit dem Namen Hermann Gunkel verbunden. Ihre Wurzeln reichen aber bis zu Gottfried Herder (1744–1803) zurück. Gunkel veröffentlichte 1901 seinen für die Gattungskritik wegweisenden Genesiskommentar.24 Hier stellte Gunkel seinen gattungskritischen Ansatz dar, in dem er in jeder Situation die Fragen nach dem Sprecher, dem Hörer, der Situation und der erstrebten Wirkung stellte.

4.2. Der Turmbau als Sage

Der Turmbau zu Babel ist Teil der sogenannten Urgeschichte in Genesis 1–1125 und befindet sich nach Westermann „im Übergang von urgeschichtlichem zu geschichtlichem Geschehen“.26 Geht man davon aus, dass die Urgeschichte der Menschheit, so wie sie in den entsprechenden Kapiteln der Genesis niedergeschrieben ist, zu keiner Zeit Autographen waren, so handelt es sich auch beim Turmbau zu Babel nicht um einen von Zeitzeugen niedergeschriebenen Bericht, sondern um eine über Generationen hindurch mündlich überlieferte und erst später verschriftlichte Geschichte. Die Turmbauerzählung ist also mehr als eine Erzählung: Sie ist eine Sage. Eine „Sage ist die Überlieferung solcher Kreise, die nicht zu schreiben pflegen“ wie es Gunkel27 ausführt. Irgendwann im Laufe der Geschichte werden Sagen niedergeschrieben, um Traditionen zu festigen. Auch andere Genesisexegeten kategorisieren Gen 11,1–9 als Sage. Sowohl von Rad28 als auch Gunkel kommen zu diesem Schluss; mehr noch, Gunkel hat seine Genesis-Exegese sogar mit der Überschrift „Die Sagen des Genesis“ übertitelt.29

Gunkel unterteilt die Gattung der Sagen in der Genesis in zwei Untergruppen, wobei die hier behandelte Perikope in die erste Untergruppe fällt und „von der Entstehung der Welt und den Urahnen der Menschheit, die Geschichten bis zum babylonischen Turm“ behandelt. „Schauplatz dieser Erzählungen ist die Ferne, ihre Interessensphäre die ganze Welt […]“30, was auch durch die massierte Verwendung von yiqtol-Formationen zum Ausdruck kommt. Die „Turmerzählung“, wie diese Perikope trotz aller noch zu besprechenden Uneindeutigkeit von Baumgart im Wibilex31 genannt wird, ist in das große Sagenwerk des Beginns der Bibel als Sage eingebunden32, mit der das Handeln Gottes in der Welt und vor allem das Verhalten der Menschen33 erklärt werden soll.

Die Sagen der Urgeschichte sind zwar als ein einheitlicher Korpus bekannt, jedoch sind die einzelnen Sagen vergleichsweise unabhängig. Es gibt nur einige wenige Verbindungsstücke zwischen den einzelnen Geschichten, die in späteren Redaktionen hinzugefügt wurden. Somit könnte jede Sage für sich alleine stehen und setzt keine andere voraus. Der Zusammengang zwischen den einzelnen Ursagen ist lockerer als der zwischen anderen Sagengruppen in der Genesis34. Auch die Anordnung der einzelnen Sagen innerhalb der Genesis zeugt von der Unabhängigkeit der einzelnen Perikopen. Oder wie es von Rad ausdrückt „[…] unser Erzähler hat einzelne überkommende Traditionen in großer Freiheit zu einer Urgeschichte zusammengeschmiedet, wobei er viel mehr auf die innere theologische Ausrichtung des Ganzen bedacht war als auf eine genaue Abstimmung der Einzelheiten aufeinander.“35

Als Sage ist diese Perikope somit keine naturwissenschaftliche Beschreibung, so wie es auch die ganze Genesis nicht ist. Für Seybold handelt es sich bei Gen 11,1–9 um eine ätiologische Babel-Gründungssage einer Gruppe von Nomaden, die aus dem Osten kommt, sich in der mesopotamischen Tiefebene niederlässt und deshalb eine Stadt und einen himmelhohen Turm bauen will. Doch JHWH missfällt das Vorhaben, er fährt vom Himmel herab, um zuerst zu inspizieren und dann die Sprache der Menschen zu verwirren, damit sie mit ihrem Bauvorhaben aufhören. Daher heißt die Stadt Babel, also Gemenge. Durch das Handeln wird JHWHs Urteil über die (groß-) städtische Lebensform und ihre Möglichkeiten ausgedrückt.36

Zum Thema Sagen sei noch erwähnt, dass Gott dabei immer entweder als der gnädige Helfer oder als der (gestrenge, aber gerechte) Herrscher auftreten kann.37

4.3. Sitz im Leben

Mit dem Sitz im Leben bezeichnet man „den soziokulturellen Hintergrund, in dem sprachliche Ausformungen einer Gattung (oder einer geprägten Einheit) Anwendung fanden und aus dem heraus die einzelnen Einheiten verstanden werden wollen.“38 Mit anderen Worten: Es geht um die gesellschaftliche und kulturelle Umgebung, in der sich die Gattung abspielt, wo man sie antreffen konnte. Als ätiologische Sage ist der Sitz im Leben von Gen 11,1–9 die Familienerzählung bzw. das Lagerfeuer der nomadischen Menschen des alten Orients. Sie werden die Sage abends, am Lagerfeuer sitzend, erzählt haben, um sich die Zeit zu vertreiben und um einander zu erklären, wie es dazu kommen konnte, dass sie ihre Nachbarn nicht zu verstehen vermögen und hier umherziehen müssen, anstatt an einem Ort mit derselben Sprache zu leben.

[...]


1 Baumgart, Norbert Clemens: Art. Turmbauerzählung, in: WiBiLex, 2006.

2 Vgl. von Rad, Gerhard: Das erste Buch Mose, Genesis. ATD 2-4, 10. Aufl. 1976, 112–118: 114.

3 Wobei hier der Grundsatz manuscripta ponderantur non numerantur, also die Manuskripte werden gewichtet, nicht gezählt, zu beachten ist. Entscheidend für die Relevanz eines Textes ist nicht die Anzahl der überlieferten Textzeugen, sondern ihr qualitatives Gewicht.

4 Vgl. Utzschneider, Helmut und Nitsche, Stefan Ark: Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung : Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 4. Aufl. 2014, 36–42.

5 Vgl. Rose, Christian: Nochmals: Der Turmau zu Babel. VT 54 (2), 2004. 223–238: 224.

6 בְּנֵ֥י הָאָדָֽםließe sich auch als „Menschenkinder“ übersetzen (wie es die Elberfelder tut), doch wähle ich bewusst „Nachkommen Adams“, weil dadurch der ätiologische Charakter der Perikope unterstrichen wird: Die Sprachverwirrung und Entstehung verschiedener Völker, die doch alle vom selben (ersten) Menschen abstammen. Gemäß Gesenius kannאָדָֽםsowohl als Begriff für einen einzelnen Menschen, für die Menschheit als ganzes, für Mann aber auch als Eigenname Adam verwendet werden.

7 Utzschneider, Helmut und Nitsche, Stefan Ark: Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung : Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 4. Aufl. 2014, 63f.

8 Utzschneider, Helmut und Nitsche, Stefan Ark: Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung : Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 4. Aufl. 2014, 106.

9 Utzschneider, Helmut und Nitsche, Stefan Ark: Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung : Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 4. Aufl. 2014, 69.

10 Vgl. Westermann, Claus: Genesis 11,1–9. BKAT 1, 2. Aufl. 1976, 707–740: 722.

11 Seybold, Klaus: Der Turmbau zu Babel. VT 26 (4), 1976. 453–479: 467.

12 Ich bleibe hier bei einem eher „traditionellen“ Textthema, werde aber in meiner Gesamtinterpretation einen anderen Schwerpunkt legen.

13 Vgl. Joh 1,1–5.

14 wörtlich „Lippe“

15 Utzschneider, Helmut und Nitsche, Stefan Ark: Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung : Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 4. Aufl. 2014, 72.

16 Vgl. von Rad, Gerhard: Das erste Buch Mose, Genesis. ATD 2-4, 10. Aufl. 1976, 112–118: 114.

17 Vgl. Baumgart, Norbert Clemens: Art. Turmbauerzählung, in: WiBiLex, 2006.

18 Vgl. Gunkel, Hermann: Genesis. HK I/1, 5. Aufl. 1922: 95.

19 Vgl. dazu die Ausführungen zu Babel und dem Gemenge bei Seybold, Klaus: Der Turmbau zu Babel. VT 26 (4), 1976. 453–479: 466.

20 Utzschneider, Helmut und Nitsche, Stefan Ark: Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung : Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 4. Aufl. 2014, 77.

21 Vgl. Utzschneider, Helmut und Nitsche, Stefan Ark: Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung : Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 4. Aufl. 2014, 111.

22 Vgl. Utzschneider, Helmut und Nitsche, Stefan Ark: Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung : Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 4. Aufl. 2014, 116–119.

23 Vgl. Becker, Uwe: Exegese des Alten Testaments : Ein Methoden- und Arbeitsbuch. Mohr Siebeck, Tübingen, 3. Aufl. 2011, 107.

24 Gunkel, Hermann: Genesis. HK I/1, 5. Aufl. 1922.

25 Schöpfung (Gen 1), Paradieserzählung (Gen 2–3), Kain und Abel (Gen 4), Genealogie Adam bis Noah (Gen 5), Sintflut (Gen 6–8), Gebote für Noah (Gen 9), Völkertafel (Gen 10), Turmbau zu Babel und Genealogie Sem bis Terach (Gen 11). Mit Gen 12, Abrams Erhörung des Rufs Gottes, beginnt (bis Gen 50) die Erzelternerzählung.

26 Westermann, Claus: Genesis 11,1–9. BKAT 1, 2. Aufl. 1976, 707–740: 723.

27 Gunkel, Hermann: Genesis. HK I/1, 5. Aufl. 1922: VIII.

28 Von Rad kategorisiert diese Perikope als "ätiologische Sage", also als eine erklärende Sage; vgl. von Rad, Gerhard: Das erste Buch Mose, Genesis. ATD 2-4, 10. Aufl. 1976, 112–118: 114.

29 Vgl. Gunkel, Hermann: Genesis. HK I/1, 5. Aufl. 1922: VII.

30 Gunkel, Hermann: Genesis. HK I/1, 5. Aufl. 1922: XIII.

31 Baumgart, Norbert Clemens: Art. Turmbauerzählung, in: WiBiLex, 2006.

32 Dennoch liegt sie an einer kompositorischen Sonderstelle. Es wird später noch darauf einzugehen sein.

33 Entgegen kreationistischer oder gar biblizistischer Exegeten vertrete ich die Meinung, dass mit den biblischen Sagen der Genesis nicht die Naturgesetze erklärt werden sollen und somit z.B. nicht „bewiesen“ würde, dass die Erde erst ein paar Jahrtausende alt sei. Vielmehr soll damit den Menschen auch eine Antwort gegeben werden, wie sie selbst sind. Die Sagen sollen also nicht nur das Entstehen der Welt, sondern auch das Verhalten und Wesen der Menschen erklären.

34 Vgl. Gunkel, Hermann: Genesis. HK I/1, 5. Aufl. 1922: 2.

35 von Rad, Gerhard: Das erste Buch Mose, Genesis. ATD 2-4, 10. Aufl. 1976, 112–118: 112f.

36 Vgl. Seybold, Klaus: Der Turmbau zu Babel. VT 26 (4), 1976. 453–479: 466.

37 Vgl. Gunkel, Hermann: Genesis. HK I/1, 5. Aufl. 1922: XXXVII.

38 Vieweger, Dieter: Formkritik und Formgeschichte. in: Proseminar I Altes Testament : Ein Arbeitsbuch, hg. von Siegfried Kreuzer und Dieter Vieweger, Kohlhammer, Stuttgart, 2005a, 67–79, 78.

Ende der Leseprobe aus 51 Seiten

Details

Titel
Der Turmbau zu Babel. Exegese zu Genesis 11,1–9
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Alttestamentliche Wissenschaft und Biblische Archäologie, Evangelisch-theologische Fakultät)
Veranstaltung
AT-Proseminar
Note
2
Autor
Jahr
2015
Seiten
51
Katalognummer
V446159
ISBN (eBook)
9783668838741
ISBN (Buch)
9783668838758
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die ökonomische Exegese ist ein interessanter Ansatz, der den Text auf den Kopf stellt, die im Anhang vorgenommene Satzformationsanalyse ist sehr gut. Die Frage des Zeitverhältnisses gut aufgenommen. Insgesamt handelt es sich um eine gute Arbeit, in welcher viel Literatur verarbeitet wurde und es zu eigenen Stellungnahmen gekommen ist.
Schlagworte
Textktirik, Turmbau zu Babel, Genesis, 1. Mose, Textanalyse, Gattungskritik, Traditionskritik, Literargeschichte, Ökonomische Exegese, Hebräisch, Satzformationsanalyse
Arbeit zitieren
Dietmar Böhmer (Autor:in), 2015, Der Turmbau zu Babel. Exegese zu Genesis 11,1–9, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/446159

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Titel: Der Turmbau zu Babel. Exegese zu Genesis 11,1–9



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