Seit der Wiederentdeckung im Jahre 1755 hat das Nibelungenlied eine wechselvolle Interpretationsgeschichte erlebt. Bei der Interpretation der Figuren ging man lange Zeit von fest umrissenen komponierten Charakteren aus, ihre im Text genannten Emotionen sollten Handlungsantrieb und Spiegel tiefster persönlicher Regungen sein. Dieser Interpretationsansatz stieß jedoch an seine Grenzen, denn die Figuren des Nibelungenliedes handeln bisweilen inkonsequent oder gar widersprüchlich, was sich mit der benannten Konzeption, die Protagonisten als geschlossen geformte Charaktere zu betrachten, nicht abschließend erklären ließ.
Als Gegenentwurf einer Analyse entwickelte Jan-Dirk Müller die „Nibelungische Anthropologie.“ In seiner These versucht er darzulegen, daß man einen mittelalterlichen Text wie das Nibelungenlied nicht ohne weiteres mit unserem neuzeitlichen Verständnis rezipieren könne. Unser Verständnis für Handlungsmotivationen könne bei der Analyse zu Schlüssen führen, die abseits des Verständnisses des mittelalterlichen Zeitgenossen wie auch der Konzeption des (unbekannten, aber de facto vorhandenen) Verfassers liegen.
Die Frage lautet nun, ob sich Müllers Konzept, das er schlüssig zu belegen weiß, auch auf die Nibelungenklage übertragen lässt. „Lied“ und „Klage“ sind, von zwei Ausnahmen abgesehen, den Fassungen n und k, in den komplett erhaltenen Fassungen des Nibelungenepos stets als ein einheitlicher Text überliefert. Wenn die Forschung in Bezug auf Fragen nach dem Autor, Entstehungszeitpunkt und -ort bis heute z.T. verschiedene Auffassungen vertritt, so ist sie doch weitgehend einig, dass beide Texte, Nibelungenlied und –klage, stilistisch und inhaltlich deutlich zu unterscheiden sind.
Auf den folgenden Seiten werde ich mich eingehender mit dem Konzept Jan-Dirk Müllers befassen und die Frage erörtern, ob sich sein Konzept der „Nibelungischen Anthropologie“ auch auf die Konzeption der Klage übertragen lässt. Bei der Beantwortung dürfte entscheidend sein, in welcher Beziehung/Relation „Lied“ und „Klage“ zueinander stehen.
Die Beleuchtung der Entstehungsgeschichte des Nibelungenliedes wie auch der Nibelungenklage soll Anhaltspunkte liefern für die Beantwortung der Frage, ob “Klage“ und „Lied“ möglicherweise vom gleichen Autor angefertigt wurden, oder zumindest dem gleichen Entstehungskontext entspringen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Nibelungenlied
2.1. Ursprung des Nibelungenliedes
2.2. Das Wirken des Nibelungenstoffes
2.3. Die Wiederentdeckung der Nibelungenhandschriften
2.4. Das Nibelungenlied: Hintergründe des Inhalts
3. Die Nibelungenklage
3.1. Inhalt
3.2. Ursprünge der Nibelungenklage
3.3. Die Frage nach Autor und Entstehungszeitpunkt
3.3.1. Selbstreferenz der „Klage“
3.3.2. Entstehungszeitpunkt
3.3.3. Der Kompromiß: Die Theorie der „Passauer Nibelungen-Werkstatt“
3.3.4. Die erzählerische Funktion der „Klage“ in Bezug auf das „Lied“
3.3.5. Zusammenfassung: Die Relation von Nibelungenlied und „Klage“
3.3.6. Mit welcher Intention setzt die „Klage“ das „Lied“ fort?
4. Emotionen: Einsatz und Gebrauch im Nibelungenlied
4.1. Jan-Dirk Müllers These der „Nibelungischen Anthropologie“
4.2. Werner Schröder: „Das Leid in der ‚Klage‘“
4.3. Richard Leichers Analyse der Trauerriten in der Nibelungenklage
4.4. Vergleich der Konzeptionen am Beispiel Etzels:
4.4.1. Werner Schröder:
4.4.2. Jan-Dirk Müller:
4.4.3. Richard Leicher
5. Schlußbetrachtung: Entspricht das Konzept der Emotionen in der „Klage“ der im „Lied“?
5.1. Kontinuität der Handlungsmuster
5.2. Handlungskontinuität
5.3. Trauerarbeit
5.4. „Was bleibt“
6. Literaturverzeichnis
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