Produkthaftung in Deutschland und den USA

Eine rechtsvergleichende Betrachtung


Masterarbeit, 2018

66 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

§ 1 Einführung

§ 2 Das Produkthaftungsrecht in Deutschland
A. DIE PRODUZENTENHAFTUNG NACH § 823 I BGB
I. Historische Betrachtung
1. Die Brunnensalz-Entscheidung
2. Die Hühnerpest-Entscheidung
II. Die Fehlerkategorien
1. Allgemeine deliktische Grundsätze
a) Anforderungen an das Verhalten der Hersteller
aa) Schwere der drohenden Schäden
bb) Preisgestaltung
b) Anforderungen an das Verhalten der Verwender
aa) Notwendiger Eigenschutz
bb) Offensichtlicher Fehlgebrauch
2. Konstruktionsfehler
a) Mindestmaß an Sicherheit
b) Zumutbarkeit nach dem Stand von Wissenschaft und Technik
aa) Alternativdesign
bb) Wirtschaftliche Erwägungen
3. Fabrikationsfehler
4. Instruktionsfehler
a) Grundsätzliches
b) Kreis der Verwender
c) Anforderungen an Inhalt und Gestaltung
5. Produktbeobachtungspflicht
a) Informationsbeschaffungspflicht
b) Reaktionspflichten
aa) Umstellung der Produktion
bb) Warnpflicht
cc) Rückrufpflicht
(1) Wichtige Urteile
(2) Meinungsstand in der Literatur
(3) Stellungnahme
III. Beweislastregelungen
B. DAS PRODUKTHAFTUNGSGESETZ
I. Produktfehler nach § 3 ProdHaftG
II. Beweislast nach § 1 ProdHaftG

§ 3 Das Produkthaftungsrecht in den USA
A. GRUNDZÜGE DES US-AMERIKANISCHEN ZIVILRECHTSSYSTEMS
I. Besonderheiten der Gesetze und der Rechtsprechung zum Produkthaftungsrecht
II. Rechtsquellen des US-amerikanischen Produkthaftungsrechts
III
B. HISTORISCHE BETRACHTUNG
I. MacPherson v. Buick Motor Co
II. Escola v. Coca-Cola
C. DIE FEHLERKATEGORIEN
I. design defects
II. manufacturing defects
III. failure to warn
IV. continuing duty to warn
1. post-sale duty to warn
2. duty to recall
D. BURDEN OF PROOF
I. Allgemeine Beweisgrundsätze
II. Rolle der jury

§ 4 Zusammenfassender Vergleich

§ 5 Fazit

Literaturverzeichnis

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§ 1 Einführung

Dem Produkthaftungsrecht unterfallen diejenigen Fälle, in denen ein Produkt aufgrund eines ihm innewohnenden Mangels zu einem Schaden an den Rechtsgü- tern des Produktnutzers (nachfolgend auch Verwender) führt. Der Hersteller haftet für die durch das von ihm hergestellten Produktes verursachten Schäden. Im deut- schen Recht wird der Schaden über die Anspruchsgrundlagen in den §§ 823 BGB und 1 I ProdHaftG ersetzt. Ähnliche Anspruchsgrundlagen bestehen auch im US- amerikanischen Recht. Schadensersatz erhalten die Kläger dort aus den Tatbestän- den der Fahrlässigkeitshaftung (negligence) und Gefährdungshaftung (strict liabi- lity in tort). Das US-amerikanische Produkthaftungsrecht wird in den deutschen Medien häufig thematisiert. In seinem Programm „Safari“ von 2008 berichtet Co- median Michael Mittermeier von einem Fall, in dem ein US-Amerikaner bei ein- geschaltetem Tempomat seines Wohnmobils bei voller Fahrt den Fahrersitz ver- lassen haben soll, um sich einen Kaffee zuzubereiten. Der Wagen soll sich in der Folge überschlagen haben, woraufhin der Fahrer den Hersteller des Wohnmobils verklagt haben soll, weil sich in der Bedienungsanleitung des Fahrzeugs kein Hin- weis darauf finden ließ, dass ein Tempomat nicht mit einem Autopiloten gleich zu setzen ist.1 Außerdem existieren Berichte über Katzen, die angeblich zum Trock- nen in eine Mikrowelle verfrachtet wurden. Angesichts solcher Berichte kann man den Eindruck gewinnen, das US-amerikanische Produkthaftungsrecht sei deutlich großzügiger, da solche Schadensersatzforderungen nach deutschem Recht auch in den Augen juristischer Laien vollkommen überzogen erscheinen. Die vorliegende Arbeit befasst sich aus diesem Grund mit einem Vergleich des deutschen und des US-amerikanischen Produkthaftungsrechts. Die soeben geschilderten Fälle lassen vermuten, dass der Begriff des Produktfehlers auf der anderen Seite des Atlantiks anders ausgelegt wird als hierzulande. Der Schwerpunkt liegt deswegen auf die- sem zentralen Tatbestandsmerkmal. Werden also an Joe Average möglicherweise geringere Erwartungen als an Otto Normal hinsichtlich einer gewissenhaften Pro- duktnutzung gestellt? Oder legt sogar das auf technische Präzision und Sicherheit bedachte Deutschland mehr Wert auf die Fehlerfreiheit von Produkten? Um diese Fragen zu beantworten, wird im Folgenden beleuchtet, wie der Fehlerbegriff in beiden Rechtsordnungen durch Rechtsprechung und Gesetze ausgestaltet wird. Für ein besseres Verständnis der Zusammenhänge werden außerdem die histori- sche Entwicklung sowie die Verteilung der Beweislast in beiden Rechtsordnungen dargestellt. Auf die Schutzgesetze nach § 823 II BGB wird aus Platzgründen und aufgrund der Spezialität solcher Fälle nicht eingegangen. Der Einfachheit halber wird nur die Haftung des Herstellers betrachtet. Ob daneben etwa noch Zulieferer oder Verkäufer passivlegitimiert sind, wird ebenfalls aus Platzgründen nicht ge- nauer betrachtet. Da es nur um solche Fälle geht, in denen der Hersteller für Pro- duktmängel haftet, der zumeist nicht der letzte Verkäufer in der Absatzkette ist, wird vornehmlich auf deliktische Haftungsgrundlagen einzugehen sein. Nach den gedanklich zugrunde gelegten Fällen steht der Hersteller nicht in vertraglichen Be- ziehungen zum Endkunden, sodass vertragliche Ansprüche nicht im Mittelpunkt der Betrachtung stehen und allenfalls am Rande erwähnt werden. Nach der Ana- lyse der beiden Rechtssysteme werden sie miteinander verglichen. Im darauffol- genden Fazit werden schließlich die eingangs aufgeworfenen Fragen beantwortet.

§ 2 Das Produkthaftungsrecht in Deutschland

Zunächst ist auf die Rechtslage in Deutschland einzugehen. Dabei werden im Folgenden die Produzentenhaftung nach § 823 I BGB und das Produkthaftungsgesetz mit seinen Besonderheiten beleuchtet.

A. Die Produzentenhaftung nach § 823 I BGB

Die Produzentenhaftung findet sich dogmatisch im Deliktsrecht. Ihre Tatbe- standsvoraussetzungen sind in § 823 I BGB geregelt. Sind sie erfüllt, so steht dem Geschädigten als Rechtsfolge der Ausgleich des ihm entstandenen Schadens zu. Die Norm schützt zunächst die einzeln benannten Rechtsgüter Leben, Körper, Ge- sundheit, Freiheit, Eigentum und sonstige Rechte. Anspruchsbegründend wirken dabei solche Handlungen eines anderen, durch die eines der Rechtsgüter eines an- deren verletzt werden, woraufhin diesem ein Schaden entsteht. Die sehr allgemein gehaltenen Tatbestandsvoraussetzungen wurden mit Blick auf das Produkthaf- tungsrecht durch die Rechtsprechung über einen langen Zeitraum hinweg konkre- tisiert und modifiziert. Diese Konkretisierungen sollen im Folgenden zunächst dargestellt und im Anschluss gegebenenfalls kritisch beleuchtet werden, um die deutsche Herangehensweise an die Fälle der Produkthaftung - so detailliert wie es der für diese Arbeit vorgesehene Rahmen erlaubt - abbilden zu können. Auf Grundlage der daraus gewonnenen Feststellungen erfolgt dann der Vergleich mit dem US-amerikanischen Rechtssystem.

I. Historische Betrachtung

Für ein besseres Verständnis des Haftungssystems erfolgt zunächst eine kurze Betrachtung wegweisender Urteile, in denen die Produzentenhaftung erstmalig thematisiert wurde. Maßgebend waren insbesondere die Brunnensalz-Entschei- dung des Reichsgerichts sowie die Hühnerpest-Entscheidung des BGH.

1. Die Brunnensalz-Entscheidung

Die heute geltenden Grundsätze der Produzentenhaftung wurden bereits im Jahre 1915 durch die sog. Brunnensalz-Entscheidung2 des Reichsgerichts auf den Weg gebracht. In diesem Fall erwarb die Klägerin ein Glas Brunnensalz aus einer Apotheke, welches von der Beklagten hergestellt wurde. Nach der Einnahme des Salzes erkrankte sie. Eine spätere Untersuchung ergab, dass sich in dem Salz kleine Glassplitter befunden haben, die für die Verschlechterung des Gesundheits- zustandes der Klägerin verantwortlich waren. Sie stützte ihre Klage zum einen auf vertragliche Ansprüche. Ein solches Vertragsverhältnis komme dadurch zustande, dass die Beklagte ihr Fabrikat in Originalverpackung vertreibe. Obwohl ein Zwi- schenhändler eingeschaltet wurde, seien vertragliche Beziehungen anzunehmen, da der Apotheker als Abnehmer ihr seinen Anspruch auf Gewährleistung durch den Verkauf konkludent abgetreten habe. Zum anderen stützte sie ihre Klage auf die §§ 823, 831 BGB. Die Voraussetzungen für einen Anspruch der Klägerin aus Vertrag sah das Gericht als nicht gegeben an.3 Ein Anspruch aus § 831 I 1 BGB hingegen bejahten die Richter. Die Klägerin habe hinreichend dargelegt, dass das

Glas nur im Betrieb der Beklagten in das Salz gelangt sein könne, während der Beklagten der Entlastungsbeweis (§ 831 I 2 BGB) misslungen sei.4 Diese Entscheidung ist insofern relevant, als nun feststand, dass Hersteller von Produkten Verbrauchern für Schäden deliktisch haften. Vertragliche Beziehungen sind dafür nicht notwendig. Außerdem stellt das Reichsgericht vergleichsweise hohe Anforderungen an den Entlastungsbeweis für den Hersteller.

2. Die Hühnerpest-Entscheidung

Trotz der durch das Reichsgericht angelegten Tendenzen fiel der BGH 1956 ein eher herstellerfreundliches Urteil. Die Klage eines Fahrradkäufers, der auf- grund von nicht erkenn- und vermeidbarer Materialschwäche stürzte und sich da- bei verletzte, wies der BGH mit der Begründung ab, es liege in der Natur des in- dustriellen Betriebes, dass gelegentliche Fehlleistungen in der Fabrikation nicht ausschließbar seien und auch nicht mit absoluter Sicherheit ausgeschaltet werden können.5 In der Folge wurde die aus dieser Entscheidung hervorgehende Tendenz vehement kritisiert.6 In der Folge erhöhte somit auch der BGH die Anforderungen an den Entlastungsbeweis, über den sich der Hersteller exkulpieren kann.7 Die Auseinandersetzung mit der Problematik der Produzentenhaftung in der Wissen- schaft führte letztendlich zu der wegweisenden Hühnerpest-Entscheidung des BGH im Jahr 1968.8 Der Kläger betrieb eine Hühnerfarm und hatte seine Tiere von einem Arzt gegen die Hühnerpest impfen lassen. Den dafür benötigten Impf- stoff stellte der Tierarzt selbst zur Verfügung. Diesen hatte er von dem beklagten Impfstoffwerk bezogen. Der Stoff selbst war allerdings verunreinigt, sodass be- reits wenige Tage nach der Impfung auf der Farm des Klägers dennoch die Hüh- nerpest ausbrach. In der Folge mussten über 100 Tiere notgeschlachtet werden; über 4000 Hühner verendeten insgesamt.

Die Grundsätze der Drittschadensliquidation können nach der Ansicht des BGH keine Anwendung finden. Sie kämen allenfalls in Betracht, „wenn das durch den Vertrag geschützte Interesse infolge besonderer Rechtsbeziehungen zwischen dem aus dem Vertrag berechtigten Gläubiger und dem Träger des Interesses der- gestalt auf dem Dritten verlagert ist, dass der Schaden rechtlich ihn und nicht den Gläubiger trifft“.9 Ein solcher Ausnahmefall liege hier allerdings nicht vor. Ebenso verwarf der BGH die Möglichkeit eines Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. Das Gericht konnte keine solch engen Beziehungen zwischen der Geschä- digten (der Klägerin) und dem Gläubiger (Tierarzt), wie sie für die Konstruktion eines Vertrages mit Schutzwirkungen zugunsten Dritter notwendig wären, fest- stellen.10 Ein stillschweigend geschlossener Garantievertrag komme ebenso wenig in Betracht. Darin, dass der Produzent seiner Ware „unter seinem Namen“ ver- treibt, lasse sich keine Willenserklärung dahingehend erkennen, er wolle dem Ver- braucher für die sorgfältige Herstellung einstehen.11

Der BGH sah allerdings die Voraussetzungen des § 823 I BGB als gegeben an. Problematisch war die Beweislastverteilung zwischen der Geschädigten und der Beklagten. In aller Regel hat nämlich der Geschädigte nicht nur die Kausalität zwischen Schaden und schädigendem Verhalten zu beweisen, sondern auch des- sen Verschulden. Bisher begnügte sich die Rechtsprechung bezüglich der Beweis- führung durch den Geschädigten mit dem Nachweis einer Kausalkette, die für ein Organisationsverschulden des Herstellers spricht. In den Fällen der Produzenten- haftung erlegt der BGH mit dieser Entscheidung nun aber dem Hersteller die Be- weislast dafür auf, dass ihn kein Verschulden trifft. Der Senat begründet diese rechtsfortbildende Entscheidung mit der Nähe des Herstellers zu den Abläufen des Produktionsprozesses und den Interessen der Parteien. Der Hersteller sei für sei- nen Gefahrenbereich verantwortlich, weil er ihn selbst kontrolliert. Es sei ihm ebenso zumutbar, selbst den Nachweis dafür anzutreten, dass ihn kein Verschul- den trifft. Die Entscheidung des BGH gab somit die ersten Orientierungshilfen für eine echte Produzentenhaftung in Deutschland vor, wo bisher das Szenario, für Schäden aus Warenfehlern auch ohne nachweisbares Verschulden einstehen zu müssen, kaum berücksichtigt wurde. Die im Folgenden zu untersuchenden Feh- lerkategorien entwickelten sich durch sukzessive Konkretisierung seitens der Rechtsprechung. Die Hühnerpest-Entscheidung legte somit den Grundstein für die Produzentenhaftung im deutschen Recht.

II. Die Fehlerkategorien

Da Warenhersteller ihre Produkte typischerweise auf offenen Märkten anbie- ten, treten sie damit in Beziehungen zum allgemeinen Verkehr. Im Rahmen der deliktischen Haftung für die Gefahrlosigkeit der von ihnen vertriebenen Produkte werden die einzelnen den Produzenten auferlegten Pflichten als Verkehrs siche- rungspflichten bezeichnet.12 Die Herstellung von Waren hat somit mit der im Ver- kehr erforderlichen Sorgfalt zu erfolgen.13 Die genauen Sorgfaltsmaßstäbe sollen nachfolgend näher beleuchtet werden. Die Ausgestaltung der Sorgfaltspflichten unterliegt dabei allgemeinen Grundsätzen, ganz gleich, ob Konstruktions-, Fabri- kations-, Instruktions- oder Produktbeobachtungsfehler vorliegen. Bevor diese speziellen Fehlerkategorien untersucht werden, soll deswegen zunächst ein Über- blick über die allgemeinen herstellerspezifischen Verkehrssicherungspflichten ge- geben werden.

1. Allgemeine deliktische Grundsätze

Die hierunter zu verstehenden Sorgfaltspflichten können grob als Anforderungen an das Verhalten der Hersteller auf der einen Seite und der Verwender auf der anderen Seite gefasst werden. Beide Arten von Verhaltensanforderungen gelten stets, egal welche spezielle Fehlerkategorie (Konstruktionsfehler, Fabrikationsfehler usw.) einschlägig ist.

a) Anforderungen an das Verhalten der Hersteller

Die Anforderungen an die Gefahrvermeidung bzw. -beseitigung durch den Her- steller sind zunächst abhängig von der Schwere der drohenden Schäden. Darüber hinaus wird auch der Preis des Produktes als Kriterium für die Beurteilung heran- gezogen, ob dem Hersteller die Missachtung einer Verkehrssicherungspflicht vor- zuwerfen ist.

aa) Schwere der drohenden Schäden

Zuallererst ist festzustellen, dass eine absolute und garantiefähige Sicherheit in einer vielschichtigen Produktwelt mit überaus komplizierten Herstellungs- und Vertriebsprozessen faktisch nicht erreichbar ist, weswegen absolute Sicherheit auch nicht zu gewährleisten ist.14 Die Rechtsprechung bezeichnet den Sicherheits- maßstab eines Produktes deswegen als objektiv erforderliche und objektiv zumut- bare Maßnahmen, die eine von einem Produkt ausgehende Gefahr vermeiden bzw. beseitigen können.15 Daraus folgt, dass die Anforderungen an die Sicherheit eines Produktes beträchtlich steigen, sofern bei einem Produktfehler mit schwerwiegen- den Schäden zu rechnen ist. Drohen also Schäden an Leben, Gesundheit oder kör- perlicher Unversehrtheit, hat der Hersteller eine größere Sorgfalt walten zu lassen, als wenn beispielsweise Beeinträchtigungen von Eigentum oder Besitz zu erwar- ten sind.16 Dies lässt sich anhand eines Beispiels leicht verdeutlichen: Eine Fehl- zündung eines Airbags bringt ein hohes Risiko für die körperliche Unversehrtheit, Gesundheit und in schweren Fällen möglicherweise sogar das Leben mit sich, wes- wegen die Anforderungen an einzuhaltende Sorgfaltspflichten hier vergleichs- weise hoch sind.17 Bei dem Biss in einen Kirschtaler, der möglicherweise noch einen eingebackenen Kirschkern enthält, drohe hingegen keine schwerwiegende Gesundheitsgefahr, „die um jeden Preis und mit jedem erdenklichen Aufwand ver- mieden oder beseitigt werden müsste“.18

bb) Preisgestaltung

Die Sorgfaltspflichten des Herstellers können sich ebenso in Abhängigkeit vom Preis des hergestellten Produktes ausdehnen. Dieser ist bei der Beurteilung des Sorgfaltsmaßstabes mit zu berücksichtigen.19 Ein ordentlicher Durchschnitts- mensch „investiert“ beim Kauf eines höherpreisigen Produktes auch in seine ei- gene Sicherheit. In den meisten Fällen wird er also beim Kauf eines teureren Pro-

duktes mehr Sicherheit als von einem vergleichsweise billigeren Produkt dersel- ben Produktart erwarten dürfen. Das bedeutet indes nicht, dass der Hersteller die an sein Produkt gestellten Sicherheitserwartungen praktisch auf null reduzieren darf, solange er den Preis nur klein genug hält. Eine bestimmte Basissicherheit muss in jedem Fall gewährleistet sein.20 Der Hersteller darf das Sicherheitsniveau nur insoweit absenken, als der Verbraucher die erhöhte Gefährlichkeit der Ware erkennen kann. Er kann sich dann auf den eigenen Sorgfaltsaufwand einstellen.21 Eine Standardformel lässt sich hierbei allerdings kaum festlegen, es kommt stets auf die Eigenschaften des Produktes und die angesprochenen Verkehrskreise an. In jedem Falle kommt aber dem Preis der Ware eine nicht zu verachtende Bedeu- tung zu. Ein anschauliches Beispiel bilden Pkw: Ein günstiger Kleinwagen wird in aller Regel nicht dieselben Sicherheitsstandards aufweisen wie etwa eine Li- mousine der oberen Preisklasse.22 Diese Erwägungen beruhen im Grunde auf der ökonomischen Überlegung, dass der Hersteller eine erhöhte Sicherheit seiner Pro- dukte „einpreist“. Die Verbesserung der Sicherheit ist für den Hersteller mit Kos- ten verbunden, die er teilweise auf den Käufer umlegt, der im Gegenzug auch da- rauf vertrauen können muss.23

b) Anforderungen an das Verhalten der Verwender

Die deliktische Haftung für in den Verkehr gebrachte Produkte nimmt indes auch die Verwender der hergestellten Erzeugnisse in den Blick. Allgemein wird von ihnen zweierlei erwartet: Zunächst haben sie selbst für einen verantwortungs- vollen Umgang mit den Produkten zu sorgen und Gefahren selbst einzuschätzen. Des Weiteren erlischt ein Schadensersatzanspruch bei offensichtlichem Fehlge- brauch.

aa) Notwendiger Eigenschutz

Die Verwender dürfen prinzipiell nicht erwarten, von ausschließlich sicheren Produkten umgeben zu sein und sind in gewisser Weise selbst dafür verantwort- lich, sich selbst vor Gefahren zu schützen, die von der Ware ausgehen können.

Gerade bei Produkten, mit denen typischerweise Gefahren verbunden sind, die noch dazu im Allgemeinen bekannt sind, ist der Verwender selbst in der Pflicht, das Ausmaß der Bedrohungen einzuschätzen und seine eigene Verwendungsweise an das Gefahrenpotential anzupassen. Als Beispiel lässt sich hier der Konsum von Süßigkeiten wie Schokoriegel24, Cola25 oder Lakritze26 anführen. Selbst solche Pro- dukte, die zur Abhängigkeit führen, wie etwa Zigaretten oder Alkohol, lösen im Regelfall keine Produzentenhaftung für den Hersteller aus. Zwar gehen von den beiden genannten Produktkategorien erhebliche Gefahren für die Gesundheit der Konsumenten aus, wie z.B. kardiovaskuläre Erkrankungen, Leberzirrhosen, oder ähnliches, jedoch seien diese Gefahren nach Auffassung der Rechtsprechung hin- länglich bekannt und gehören jedenfalls hinsichtlich der Kernproblematik, abge- sehen von medizinischen Details, zum Grundwissen, sodass den Verwender selbst die Pflicht zum verantwortungsvollen Konsum trifft.27 Ebenso verhält es sich bei Gefahren, deren Risiko gerade erst den Reiz ausmacht. Hier sind insbesondere Freizeiteinrichtungen wie Autoscooter zu nennen, wo die Besucher sich bewusst für das Eingehen eines kalkulierten Risikos - hier das Anrempeln anderer Fahr- zeuge - entscheiden.28

bb) Offensichtlicher Fehlgebrauch

Darüber hinaus darf der Verwender eines Produkts selbstredend keine Entschä- digung für einen offensichtlichen Fehlgebrauch des Erzeugnisses erwarten. Einem Landwirt, der die schützende Abdeckung des Motors eines Düngerstreuers ent- fernt, muss klar sein, dass er den Motor auszuschalten hat, bevor er seine Hand in die Nähe des laufenden Rührfingers bringen kann, um Verletzungen zu vermei- den.29 Ein offensichtlicher Fehlgebrauch bzw. Missbrauch liegt vor allem dann vor, wenn die vorgenommene Verwendung überhaupt nicht mehr im Rahmen der vom Hersteller eigentlich vorgesehenen Verwendung liegt. Die folgenden Bei- spiele dienen der Veranschaulichung: Bei der zweckwidrigen Verwendung von

Produkten, bei denen ein Fehlgebrauch, durch den erhebliche Körper- und Ge- sundheitsschäden zu besorgen sind und der für den Hersteller nahe liegt, muss der Hersteller vor diesen Produkten warnen. Das gilt beispielsweise für Signalrevol- ver.30 Erfolgt der Gebrauch des Produktes allerdings völlig zweckfremd und be- wusst, entfällt die Warnpflicht. So muss der Hersteller von Feuerzeuggasnachfüll- packungen nicht vor den Gefahren des „Schnüffelns“ des Gases warnen, insbe- sondere, weil hierdurch sogar erst ein Anreiz dazu geschaffen würde. Bei einem derartigen Missbrauch des Produktes als Rauschmittel ist der Produzent nicht schadensersatzpflichtig.31

Diese Erwartungen an den „gesunden Menschenverstand“ der Verwender sor- gen für einen angemessenen Ausgleich zwischen den von den Herstellern vorzu- nehmenden Sicherheitsmaßnahmen auf der einen und notwendigem Eigenschutz der Verwender auf der anderen Seite. Auf diese Weise wird verhindert, dass die Haftung der Produzenten für die von ihnen hergestellten Waren vollends uferlos wird.

2. Konstruktionsfehler

Nachfolgend werden die speziellen Fehlerkategorien genauer dargestellt. Die Analyse folgt dem zeitlichen Verlauf eines typischen Produktes angefangen bei der Konstruktion desselben bis hin zur Bereitstellung der Ware auf dem Markt. Somit sind zunächst die Konstruktionsfehler zu untersuchen. Als solche haften sie immer der gesamten Serie der Produktion an.32 Diese Produktmängel bestehen fak- tisch von Anfang an, da sie schon in der Konstruktion des Produktes selbst ange- legt sind. Im Folgenden ist somit zu untersuchen, welche Pflichten die Hersteller bereits „am Reißbrett“ treffen, um spätere Schäden zu vermeiden.

a) Mindestmaß an Sicherheit

Zunächst ist auf die bereits dargestellten allgemeinen Grundsätze zu verweisen, nach denen die Gewährleistung einer absoluten Sicherheit schon de facto unmög- lich ist (s.o. unter § 2, A., II., 1., a), aa)). Geht von einem Produkt eine gewisse

Gefährlichkeit aus und realisiert sich diese Gefahr im Einzelfall, reicht das noch nicht per se für das Vorliegen eines Konstruktionsfehlers aus; es muss vielmehr ein objektiver Mangel an Sicherheit vorliegen, den die Allgemeinheit nach der Verkehrsauffassung in dem entsprechenden Bereich für vermeidbar hält.33 Wirken für sich jeweils fehlerfreie Gegenstände zusammen, woraus eine Gefahr überhaupt erst entsteht, reicht dies für einen Konstruktionsfehler der vom Hersteller konstru- ierten Gesamtsache aus. Paradebeispiel für einen solchen Fall ist die Schwimm- schalter-Entscheidung des BGH.34 Dies gilt im Übrigen auch für die praktisch not- wendige Kombination eines Produktes mit dem Komplementärprodukt eines an- deren Herstellers. Aufgrund der Konstruktionsweise einer Pistole, deren Siche- rungshebel durch seine Lage und Bewegungsrichtung im Holster unabsichtlich de- aktiviert werden konnte, kann der Hersteller der Dienstwaffe haften.35 Im vorlie- genden Fall kam eine Haftung nur aus tatsächlichen Gründen nicht in Betracht.

Der Hersteller muss grundsätzlich für ein Mindestmaß an Sicherheit im Rah- men des von ihm vorgesehenen Verwendungszwecks sorgen. Auf dieses Mindest- maß darf auch aus Kostenerwägungen nicht verzichtet werden.36 Vor einem nahe- liegenden Fehlgebrauch darf der Hersteller dabei nicht die Augen verschließen. Ist ein solcher für ihn vorhersehbar und bewegte sich die Verwendung noch im Rah- men des von ihm vorgesehenen Zwecks, trifft ihn die Pflicht, daraus entstehende Schäden zu vermeiden. Ein Beispiel für einen naheliegenden Fehlgebrauch, der trotzdem noch im Rahmen des eigentlich vorgesehenen Verwendungszwecks liegt, stellt die Verfütterung von Forellenfutter an Äschen dar. Letztere verendeten im betreffenden Fall, weil das vom Hersteller gelieferte Futtermittel mit einem Antibiotikum kontaminiert war. Die Verwendung als Futtermittel, Arzneimittel, usw. liegt nach Ansicht des BGH allerdings noch im Rahmen der allgemeinen Zweckbestimmung und kann von Hersteller auch objektiv vorausgesehen werden, weswegen dieser den Schaden am Äschenbestand zu ersetzen hatte.37

b) Zumutbarkeit nach dem Stand von Wissenschaft und Technik

Das soeben angesprochene Mindestmaß an Sicherheit orientiert sich daran, was im Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produktes nach dem Stand von Wissen- schaft und Technik konstruktiv möglich und geeignet ist, um Schäden zu verhin- dern.38 Somit bedarf der Terminus „Stand von Wissenschaft und Technik“ genau- eren Beleuchtung. Der Gesetzgeber versteht diesen Begriff als die „Summe an Wissen und Technik, die allgemein anerkannt ist und zur Verfügung steht“.39 Er beschreibt also jene Sachkunde, die im wissenschaftlichen und technischen Be- reich vorhanden ist und die ein Mindestmaß an Publizität erreicht hat.40 Den Stand von Wissenschaft und Technik prägen somit insbesondere öffentlich-rechtliche Vorschriften in Gestalt von Sicherheitsanforderungen - hier ist vor allem das Pro- duktsicherheitsgesetz zu nennen - sowie etwa DIN. Diese bilden allerdings nur einen Mindeststandard ab. Den Hersteller können auch darüber hinaus gehende Pflichten zur Verbesserung der Sicherheit treffen.41 Der Hersteller erhält hier einen objektiven Erwartungsmaßstab, der vor allem auf gesicherten naturwissenschaft- lichen Erkenntnissen beruht. Dies erleichtert die normative Beurteilung der Frage, ob ein Mindestmaß an Sicherheit des Produktes gegeben ist, enorm. Dabei sind jedoch nicht nur die Erkenntnisse der jeweils einschlägigen Branche zu beachten, es wird vielmehr eine Beachtung sämtlicher Erkenntnisse verlangt.42 Der Stand von Wissenschaft und Technik ist indes nicht gleichzusetzen mit dem Begriff der Branchenüblichkeit. Letztere kann durchaus hinter ersterem zurückbleiben.43 Frei- lich kommt es dabei nur auf sicherheitsstiftende Maßnahmen an, die dem Herstel- ler auch objektiv zumutbar sind. Zu beachten ist dabei stets eine Gesamtabwägung aller Umstände im Einzelfall.44 Dies leuchtet ein, schließlich haben heute angebo- tene Produkte ein Ausmaß an Komplexität und Vielfalt erreicht, dass sich kaum mit einer einfachen Formel festlegen ließe, wo in all diesen verschiedenen Fällen die Grenze der Zumutbarkeit überschritten ist. Dennoch haben sich verschiedene Anhaltspunkte etabliert, die als Indikator dafür dienen, ob eine Sicherheitsmaß- nahme als zumutbar in diesem Sinne anzusehen ist.

aa) Alternativdesign

Den ersten Indikator dafür sieht die Rechtsprechung in einem sicherheitstech- nisch überlegenen Alternativdesign.45 Die Möglichkeit der Gefahrvermeidung ist demnach gegeben, wenn „nach gesichertem Fachwissen der einschlägigen Fach- kreise praktisch einsatzfähige Lösungen zur Verfügung stehen“.46 Sie stehen dann zur Verfügung, wenn überlegene Alternativkonstruktionen reif für den Serienein- satz sind, wohingegen der Hersteller solche Sicherheitskonzepte nicht umsetzen muss, die bisher nur geplant wurden oder sich noch in der Testphase befinden.47 Dabei ist stets das gesamte Sicherheitskonzept des Produktes zu beachten. Können Gefahrenpotentiale an einer Stelle vermieden werden, sind dafür aber an anderer Stelle erhöhte Risiken zu erwarten, kann das jeweilige Alternativdesign nicht als Maßstab dienen. Ist ein umsetzbares Alternativdesign nach objektiven Maßstäben nicht umsetzbar, so muss unter Umständen sogar die gesamte Vermarktung des Produktes unterbleiben, wenn die vom Produkt ausgehenden Schadensrisiken so hoch sind, dass die nicht durch dessen Nutzen aufgewogen werden können.48

bb) Wirtschaftliche Erwägungen

Wie bereits erwähnt ist die Schwere der drohenden Gefahren ebenfalls ein In- dikator für die Zumutbarkeit einer Sicherheitsmaßnahme für den Hersteller (s.o. unter § 2, A., II., 1., a), aa)). Insoweit wird auf das bereits festgestellte verwiesen. Maßgeblich für die Beurteilung, ob dem Hersteller eine weitergehende Sicher- heitsmaßnahme zumutbar ist, sind darüber hinaus auch ökonomische Auswirkun- gen. Dies schlägt sich zunächst in einer Kosten/Nutzen-Analyse nieder. Den Her- steller treffen nur solche Sorgfaltspflichten, deren Kosten niedriger sind als die Gesamtheit der zu erwartenden Schäden, die durch die jeweilige Maßnahme ver- mieden werden können.49 Dabei spielt auch die Wahrscheinlichkeit der Gefahren- verwirklichung eine Rolle. Sind erhebliche Schäden zu besorgen, kann eine Si- cherheitsmaßnahme allerdings auch schon bei geringer Verwirklichungswahr- scheinlichkeit geboten sein.50 Ist der Eintritt des Gefahrenpotentials jedoch nach allgemeiner Lebenserfahrung außerordentlich unwahrscheinlich, sind Sicherheits- maßnahmen nicht geboten.51 Zwar lehnt der BGH in deliktsrechtlichen Fällen, die nicht der Produzentenhaftung angehören, die Heranziehung von wirtschaftlichen Erwägungen eher ab,52 stellt damit allerdings eigentlich nur klar, dass rein wirt- schaftliche Kriterien nicht ohne weiteres zur Abwehr eines Schadensersatzanspru- ches ausreichen dürfen. Es geht vielmehr um das Verhältnis zwischen den Kosten einer Sicherungsmaßnahme und deren Nutzen, nämlich die Verhinderung von Rechtsgutsverletzungen. Kann nicht mehr von einem angemessenen Verhältnis gesprochen werden, so können Sicherheitsmaßnahmen unterbleiben. Somit liegt ein Konstruktionsfehler vor, wenn es eine alternative Konstruktion gegeben hätte, deren Mehrkosten ggü. der tatsächlich gewählten Konstruktionsweise geringer ge- wesen wären als die Summe der dadurch vermiedenen Schäden. Stand eine solche alternative Konstruktion nicht zur Verfügung, liegt ein Fehler vor, sofern die im Vergleich zu einem möglichst ähnlichen Substitutionsprodukt zusätzlich verur- sachten Schäden den generierten Zusatznutzen überwiegen.53 Für den Hersteller werden die Kosten in den meisten Fällen am geringsten ausfallen, wenn er Warn- hinweise auf seinem Produkt anbringt (dazu später näher bei den Instruktionsfeh- lern). Diese Sicherheitsmaßnahme kann allerdings dann unzureichend sein, wenn ein Alternativdesign des Produktes möglich ist und immer noch geringere Kosten mit sich bringt, als es Schäden zur Folge hat. Dies beruht auf der Überlegung, dass der Präventivnutzen von Warnhinweisen deutlich geringer ist als der einer siche- reren Konstruktion. Demnach hat der Hersteller unter Berücksichtigung des Ver- hältnisses zwischen Kosten und Nutzen eher die alternative Konstruktion zu wäh- len, statt Warnhinweise anzubringen.54

3. Fabrikationsfehler

Nach der Planung und Konstruktion des Produktes folgt im „Lebenszyklus“ einer Ware deren Fabrikation, also die Herstellung im Betrieb des Herstellers. Schleichen sich während des Produktionsprozesses Fehler ein, ist die Konstruk- tion aber sicherheitstechnisch nicht zu beanstanden, so liegt ein Fabrikationsfehler vor. Solche Fehler haften im Gegensatz zu Konstruktionsfehlern nicht der gesam- ten Serie an, sondern treten nur bei einzelnen Produktionsstücken auf. Dennoch kann auch die gesamte Produktionsserie betroffen sein, wenn etwa eine Maschine falsch eingestellt ist und dieser Fehler nicht rechtzeitig bemerkt wird. In dem Fall weist ausnahmsweise die gesamte Serie einen Fehler auf, der jedoch gerade nicht in einer fehlerhaften Konstruktion, sondern in einer fehlerhaften Fabrikation be- gründet liegt. Die bereits vorgestellte Brunnensalz-Entscheidung des Reichsge- richts (s.o. unter § 2, A., I., 1.) bildet das erste Beispiel für einen Fabrikationsfeh- ler, der auf menschliches Versagen, genauer auf die Unachtsamkeit eines einzel- nen Arbeitnehmers des Herstellers zurück zu führen ist.55 Auch in der oben darge- stellten Hühnerpest-Entscheidung des BGH, in dem die Tiere mit genau der Krankheit infiziert wurden, gegen die sie immunisiert werden sollten, weil einige Chargen des eingesetzten Impfstoffes aktive Viren enthielten, lag ein Fabrikati- onsfehler vor. Ist von solchen Fehlern die Rede, so muss bezüglich der Verkehrs- sicherungspflichten des Herstellers also folgerichtig von einer Organisations- pflicht gesprochen werden.56 Deliktsrechtlich wird ihm im Falle eines Fabrikati- onsfehlers vorgeworfen, er bemühe sich nicht ausreichend um einen reibungslosen Produktionsprozess, wodurch es letztlich zu sicherheitsrelevanten Mängeln kommt. Ihn trifft also die Pflicht, den Prozess selbst so zu gestalten, dass die Pro- duktion möglichst fehlerfrei abläuft und anschließend durch eine effektive Quali- tätskontrolle sicherzustellen, dass eventuell auftretende Fehler vor dem Inverkehr- bringen des Produkts noch beseitigt werden können.57

[...]


1 ebenfalls zu finden unter: http://www.news.de/wirtschaft/855506374/subway-mcdonald-s- google-diese-us-klagen-machten-konzernen-die-hoelle-heiss/2/

2 RGZ 87, 1 ff.

3 RGZ 87, 1, 2.

4 RGZ 87, 1, 4.

5 BGH VersR 1956, 410 f.

6 Wesch, Produzentenhaftung im internationalen Rechtsvergleich, 1994 S. 12; siehe auch: Simi- tis, Grundfragen der Produzentenhaftung, 1965; Diederichsen, Die Haftung des Warenherstel- lers, 1967.

7 BGH NJW 1968, 247, 248.

8 BGHZ 51, 91 ff.

9 BGH NJW 1969, 269, 271.

10 BGH NJW 1969, 269, 272.

11 BGH NJW 1969, 269, 273.

12 Förster, BeckOK BGB, 46. Edition 2018, § 823 BGB Rn. 674.

13 Wagner, MüKo-BGB, 7. Aufl. 2017, § 823 BGB Rn. 809.

14 OLG Celle VersR 2004, 1010.

15 BGH NJW 2009, 1669, 1670.

16 BGH NJW 2009, 2952, 2954.

17 BGH NJW 2009, 2952, 2954 ff.

18 BGH NJW 2009, 1669, 1670.

19 BGH NJW 1990, 906, 907; vgl. OLG Köln VersR 1985, 747.

20 BGH NJW 1990, 908, 909.

21 Wagner, MüKo-BGB, 7. Aufl. 2017, § 823 BGB Rn. 813. Wagner, MüKo-BGB, 7. Aufl. 2017, § 823 BGB Rn. 813.

22 Förster, BeckOK BGB, 46.

23 Edition 2018, § 823 BGB Rn. 675.

24 OLG Düsseldorf VersR 2003, 912.

25 LG Essen NJW 2005, 2713, 2714.

26 OLG Köln NJW 2005, 3293, 3293.

27 OLG Hamm NJW 2001, 1654, 1655 (Alkohol); OLG Hamm NJW 2005, 295 (Zigaretten).

28 BGH BeckRS 1976, 30377856.

29 LG Regensburg BeckRS 2014, 09544.

30 OLG Stuttgart, ZfS 1992, 330.

31 OLG Karlsruhe NJW-RR 2001, 1174.

32 Lange, jurisPK-BGB, 8. Aufl. 2017, § 823 BGB Rn. 115.

33 OLG Hamm NJW-RR 2001, 1248, 1249.

34 BGHZ 67, 359, 362.

35 OLG Saarbrücken NJW-RR 1993, 990, 991 f.

36 OLG Celle VersR 1978, 258.

37 BGHZ 105, 346, 351.

38 BGH NJW 2009, 2952, 2953.

39 vgl. BT-Drucks. 11/2247, S. 15.

40 Wendt/Oberländer, InTeR 2/16, 58, 59. BGH NJW 1987, 372, 373

41 Oechsler, Staudinger BGB, 15.

42 Aufl. 2013, § 3 ProdHaftG, Rn. 126, 128.

43 BGH VersR 1989, 1307, 1308.

44 Stöhr, InTeR 1/15, 35.

45 BGH NJW 2009, 2952, 2953.

46 BGH NJW 2009, 2952, 2953.

47 BGH VersR 1957, 584.

48 Wagner, MüKo-BGB, 7. Aufl. 2017, § 823 BGB Rn. 810.

49 Wagner, MüKo-BGB, 7. Aufl. 2017, § 823 BGB Rn. 809.

50 BGH VersR 2007, 72 f. BGH VersR 2006, 233.

51 BGH NJW 1984, 801, 802.

52 Wagner, MüKo-BGB, 7.

53 Aufl. 2017, § 823 BGB Rn. 820.

54 Wagner, MüKo-BGB, 7. Aufl. 2017, § 823 BGB Rn. 821.

55 RGZ 87, 1 ff.

56 so auch Förster, BeckOK BGB, 46. Edition 2018, § 823 BGB Rn. 697.

57 BGH NJW 1973, 1602, 1603.

Ende der Leseprobe aus 66 Seiten

Details

Titel
Produkthaftung in Deutschland und den USA
Untertitel
Eine rechtsvergleichende Betrachtung
Hochschule
Universität Rostock
Note
1,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
66
Katalognummer
V446471
ISBN (eBook)
9783668838208
ISBN (Buch)
9783668838215
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Produkthaftung, Rechtsvergleich, Deutschland, USA, Zivilrecht, Produzentenhaftung, Hühnerpest, Urteil, Konstruktionsfehler, Fabrikationsfehler, Instruktionsfehler, Produktbeobachtung, Rückruf, 823, BGB, Produkthaftungsgesetz, negligence, strict liability, tort
Arbeit zitieren
Malte Pretzel (Autor:in), 2018, Produkthaftung in Deutschland und den USA, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/446471

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