Die Poetik des genauen Blicks im Werk Wilhelm Genazinos


Masterarbeit, 2005

104 Seiten, Note: 2.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I Einleitung

II Theorie der Wahrnehmung
1. „Der gedehnte Blick“
1.1 Die ‚ sthetik der Nachhaltigkeit’
1.2 Kinder und der gedehnte Blick
2. „Das Exil der Blicke“: Individualisierung durch Wahrnehmung
3. „Abstand gibt es nicht im Sonderangebot“: Abweichung (→Individualisierung) durch sthetische Opposition

III Werkanalyse
1. Fremde K mpfe (1984)
1.1 Ausgangssituation
1.2 Erz hlsituation
1.3 Wahrnehmung
1.4 Raum: Der getriebene Fu g nger in der Stadt
1.5 Pescheks Ausstieg aus der Gesellschaft
1.5.1 Abkehr durch kindliches Verhalten bei Peschek
1.5.2 Abkehr durch Kriminalität (vs. Verankerung in der Welt durch Arbeit)
1.5.3 Wohnungseinbruch
1.5.4 Peschek und die Anderen
1.5.4.1 Pescheks Beziehung zu Dagmar
1.5.4.2 Die Anderen
1.6 Alternativen der Abweichung
1.6.1 Ideal: Leben als K nstler
1.6.2 Leben als K nstler: gescheitert (Kunstmaler Hirrlinger)
1.7 Symbole für Individualisierung bzw. Kollektivismus
1.7.1 Der Traum vom Zugverpassen
1.7.2 M use
1.7.3 V gel
1.7.4 Wohnsituation

2. Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz (1989)
2.1 Ausgangssituation
2.2 Erz hlsituation
2.3 Wahrnehmung
2.3.1 Beobachten vs. Schauen
2.3.2 Beobachtungsexperimente
2.4 Raum: Der schweifende Fu g nger
2.5 Individuum und Gesellschaft
2.5.1 Private Opposition: Flucht/Reise als vor bergehender Ausbruch aus der Gesellschaft
2.5.2 Gesa und W.
2.5.3 Epiphanie: Verr cktheit oder Selbstbegnadigung; der K nstler in der Gesellschaft
2.5.4 Symbole für Individualisierung bzw. Kollektivismus
2.5.4.1 Z ge
2.5.4.2 V gel
2.5.4.3 Schuhe
2.5.4.4 Kleidung
2.5.4.5 Wohnsituation

3. Ein Regenschirm für diesen Tag (2001)
3.1 Ausgangssituation
3.2 Erz hlsituation
3.3. Wahrnehmung
3.3.1 Beobachten
3.3.2 Urlaub vom Sehen
3.4 Raum: Der urbane Fu g nger
3.5 Individuum und Gesellschaft
3.5.1 Grundeinstellung des Protagonisten
3.5.2 Die innere Genehmigung
3.5.3 Arbeit
3.5.4 Die Gesamtmerkw rdigkeit des Lebens
3.5.5 Wahn als Ausflucht
3.5.6 Die Beziehungen des Protagonisten
3.5.6.1 Die Frauen: Lisa und Susanne
3.5.6.2 Die Anderen
3.5.6.3 Himmelsbach, der Fotograf (Fast-Scheitern vs. Scheitern)
3.5.7 Individualität vs. Erlebnisproletariat
3.5.8 Epiphanie: Der Junge auf dem Balkon
3.5.9 Symbol: Schuhe

IV Schlussbetrachtungen

V. Literatuverzeichnis

I Einleitung

Die Frage, wie das Subjekt berhaupt in die Welt hineinpasst oder nicht, ist meines Dafürhaltens das gro e Thema der Literatur immer schon gewesen. Und wenn man nun das Sehen so stark macht wie ich, kommt man sowieso auf die Idee, dass das Subjekt etwas mit dem Sehen zu tun haben muss. Es ist ja kein Zufall, was man sieht; kurz gesagt: Ich bin das, was ich sehe. Dabei hat man es wohl in der Hand, welches Subjekt man ist und wird. Man kann das ja auch nicht so einfach trennen: Hier bin ich, und hier ist die Welt. Das Leben ist doch ein Korrespondenzbetrieb![1]

„Ich bin, was ich sehe“[2] mit diesem Satz beschreibt Wilhelm Genazino die Essenz seines Werkes.

Bereits 1977 machte der 1943 in Mannheim geborene Genazino mit seinem Roman Abschaffel auf sich aufmerksam und obwohl er schon seit Anfang der siebziger Jahre als freier Autor erfolgreich zahlreiche Romane, Essays und H rspiele verfasst, fand der vielfach preisgekr nte Schriftsteller (u.a. Westermanns Literaturpreis 1986, Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen 1990, Berliner Literaturpreis 1996, Hans-Fallada-Preis 2004) in der Literaturwissenschaft bisher wenig Beachtung.[3] Auch dem breiten Lesepublikum ist er immer noch kaum bekannt. Seit einer positiven Hervorhebung im „Literarischen Quartett“ im August 2001 (Ein Regenschirm für diesen Tag) und seiner Auszeichnung mit dem Georg-B chner-Preis 2004, immerhin dem renommiertesten Literaturpreis Deutschlands, nimmt das ffentliche Interesse an diesem Autoren jedoch deutlich zu. Auch die literaturwissenschaftliche Forschung besch ftigt sich seitdem mehr mit ihm.[4]

Das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit besch ftigt sich mit den theoretischen berlegungen des Autors zum Thema Wahrnehmung, die er unter anderem in seinem 2004 erschienenen Essayband Der gedehnte Blick und in Achtung Baustelle[5] von 1989 dargelegt hat.

Eine Besch ftigung mit der Poetik des genauen Wahrnehmens bei Genazino f hrt unweigerlich zu der Frage nach der Bedeutung dieser Technik. Warum legt Genazino einen solchen Wert auf das Schauen? Auf die Frage Werner Jungs nach der Bedeutung des dominierenden Motivs des Beobachtens und Wahrnehmens in seinen B chern antwortete Genazino in einem Interview:

Das ist ein Reflex auf die Grundbefindlichkeit, in der die Subjekte leben, ein Leben in der Dreierkonstellation aus Gesellschaft, Individualisierung und sthetik. Wobei das Individuum der Gesellschaft entkommt, indem es sich mit von ihm selbst erfundenen sthetischen Prozessen eine Distanz von der Gesellschaft erarbeitet. Diese Distanz findet in meinen B chern ber das Umhergehen, ber das Spazierengehen statt.[6]

Diese Dreierkonstellation aus Gesellschaft, Individualisierung und sthetik soll im Rahmen dieser Magisterarbeit genauer untersucht werden. Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass die oben erw hnte Distanzierung in Genazinos B chern bis 1989 noch nicht gelingt. (Eine Distanzierung findet zwar statt, diese f llt aber zum Nachteil der Protagonisten aus.) Die Protagonisten in diesen B chern (Abschaffel, Eckard Fuchs und Wolf Peschek) sind nicht in der Lage, sich zu individualisieren und sich in diesem Sinne eine (gesunde) Distanz zur Gesellschaft zu erarbeiten. Danach gibt es einen Wendepunkt in Genazinos Werk. Nach einem l ngeren Verstummen des Autors folgt 1989 der Roman Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz, ein Roman, der sich in vielerlei Hinsicht von allen vorherigen Romanen Genazinos unterscheidet. Dabei spielt eine ver nderte Wahrnehmung der Protagonisten eine gro e Rolle. Die Figuren vor Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz haben wie die Protagonisten ab 1989 eine sehr genaue Wahrnehmung, die Reales mit Dazugedachtem verbindet, sie können aber ihre Phantasie noch nicht zu ihren Gunsten einsetzen. Wie gezeigt werden soll, sind sie mangelhaft individuiert und empfinden sich als Opfer der Gesellschaft. Ihre Sehbegabung, welche die sp teren Protagonisten bereits als Talent (als Mittel zur Distanzschaffung) begreifen können, ist ihnen eine Last. Mit Genazinos Worten:

Abschaffel und auch die Figuren der darauf folgenden zwei Romane sind Opfer dieser Gesellschaft und insofern subjektlos beziehungsweise nur Reste eines das fr here Individuum verwaltende Subjekts; sie haben keine Chance, sich als Subjekte zu erfahren, als Individuen. Das ist seit dem Buch „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“ anders, die Individuen sind da genauso verloren wie Abschaffel und andere[7], aber sie verteidigen mit einigem Geschick die Reste, die ihnen verblieben sind oder die sie sich erk mpft haben.[8]

Es muss also untersucht werden, in wie fern sich die Protagonisten vor und nach 1989 durch ihre Wahrnehmung unterschiedlich in der Gesellschaft positionieren und wie sich die Wahrnehmung der jeweiligen Protagonisten voneinander unterscheidet. Au erdem soll gekl rt werden, welche anderen Aspekte (Erz hlsituation, die Beziehungen der Figuren, insbesondere zu Frauen, die Einstellung zu Arbeit etc.) Aufschluss ber die Positionierung der Figur in der Gesellschaft geben können. Vor 1989 gibt es laut Genazino noch keine erfolgreiche Individualisierung des Subjekts. Elias erkl rt:

Was wir die ‚Individualität’ eines Menschen nennen, das ist in erster Linie eine Eigent mlichkeit seiner psychischen Funktionen, eine Gestaltqualität seiner Selbststeuerung in Beziehung zu anderen Menschen und Dingen. ‚Individualität’, das ist ein Ausdruck für die besondere Art und den besonderen Grad, in dem sich die Gestaltqualität der psychischen Steuerung des einen Menschen von der anderer Menschen unterscheidet.[9]

Eine gesunde Distanz zur Gesellschaft gelingt erst ab 1989, wobei dieser Abstand, der zur Individualisierung dieser Figuren f hrt, nicht absolut ist, sondern eine changierende An- und Abwesenheit des Individuums, das hei t die Protagonisten gewinnen eine gewisse Gestaltungsfreiheit. Sie erkennen, dass sie sich gegen die gesellschaftliche Normierung, der sie sich ausgesetzt f hlen, auflehnen können, indem sie sich die Freiheit nehmen, selbst zu w hlen.

Wir wollen nicht ganz und gar fliehen; wir wollen nach einiger Zeit zur ckkehren. Aber in diesen Man vern des Verschwindens und Wiederkehrens machen wir, zum Beispiel, die bedeutsame Erfahrung, dass immer beides w hlbar sein muss: Gleichheit und Differenz, Ann herung und Absto ung, N he und Ferne. (AB 167)

Die Werkanalyse wird eingeleitet durch die Untersuchung des Romans Fremde K mpfe von 1984. Anhand dieses Romans soll herausgearbeitet werden, wie sich die Protagonisten in Genazinos Werk vor 1989 tendenziell der Gesellschaft gegen ber verhalten.[10]

Das erste Buch, das nach der bereits erw hnten Schreibpause erscheint, ist Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz (1989). Dieses kann als „Schl sselwerk Genazinos“[11] bezeichnet werden, das eine Wende[12] einleitet von dem vollkommen vergesellschaftlichten Menschen zu dem kl geren Individuum, das sich von der Gesellschaft abzusetzen wei , aber dennoch oder gerade deshalb mit ihr zu leben versteht. Wichtig hierbei ist aber auch, dass die Ausgangssituationen der Protagonisten vor und nach 1989 nicht zwingend voneinander abweichen; sie leben in hnlichen Verh ltnissen, „nur wird diese gleiche Wirklichkeit jetzt von den Figuren anders wahrgenommen.“[13] Jedoch weisen auch diese Protagonisten immer auch Spuren der Abschaffel-Mentalität auf. Dennoch wird sich zeigen, dass die Protagonisten trotzdem eine andere Sichtweise auf ihr eigenes Dasein entwickeln. Hirsch konstatiert: „Der neue Blick ist positiver, lustvoller und umsorgt von einer zunehmenden Selbstkenntnis.“[14]

Wie aber geht es nach dieser Wendung weiter? Ein Regenschirm für diesen Tag von 2001 zeigt deutlich, wie der Schwebezustand von An- und Abwesenheit in der Gesellschaft, der in Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz erstmals beschrieben wird, weitergef hrt wird.

II Theorie der Wahrnehmung

1. „Der gedehnte Blick“

1.1 Die ‚ sthetik der Nachhaltigkeit’

[15] Wir alle sind trainiert im schnellen Anschauen von Bildern, weil wir anders mit der Bilderflut um uns herum nicht fertig werden können. Wenn wir dagegen ein Bild vor unseren Augen sozusagen anhalten und es ber die vorab zugebilligte Zeit betrachten, kommt das zustande, was wir den gedehnten Blick nennen können. (GB 42)

In seinem Essay „Der gedehnte Blick“ gibt uns Genazino einen Einblick in seine Ph nomenologie der Wahrnehmung. Der Titel des Essays ist dabei gleichzeitig der wichtigste Begriff, den es zu erfassen gilt.[16] Der Autor beschreibt damit eine Art Seh-Arbeit, die erst anbricht, „wenn es eigentlich nichts mehr zu sehen gibt“;[17] „Erst dann, wenn das gemeine, das verallgemeinerte Auge die Oberfl chenstruktur eines Bildes fixiert und das Bild damit ‚erledigt’, das hei t registriert ist, erst dann beginnt die Arbeit des gedehnten Blicks. Diese Arbeit besteht in einer dauernden Verwandlung des Bildes.“ (GB 42) Bei dieser Verwandlung des Gesehenen ist ausschlaggebend, dass dieser Umgestaltung die eigene momentane Bed rftigkeit des Beobachters vorangeht; „Wir haben jetzt selbst einen gelernt r tselhaften Blick, der die Aspekte und Einzelheiten mischt, wie es den Bed rfnissen unseres Innenlebens gerade passt.“ (GB 51f.) Es handelt sich also um das Einfangen visueller Eindr cke, die sodann vom denkenden Individuum mit Bedeutung angereichert werden.

Wir wissen, dass wir die Dinge mit Bedeutungen anschauen, an denen die Dinge schuldlos sind. Wir können nicht schauen ohne den Drang nach Bedeutung. Wir können aber wissen, dass Bedeutungen kommen und gehen, dass sie aufsteigen und wieder fallen, das hei t, wir wissen, dass Bedeutungen selber Epiphanien sind. (GB 54f.)

Der Beobachtende „(...) will den Dingen zu einer Ausstrahlung verhelfen, die sie augenblicksweise aufleuchten l sst.“ (GB 54) Die Grundidee des gedehnten Blicks ist also nicht die Beobachtung eines besonderen Gegenstandes oder einer au ergew hnlichen Begebenheit, sondern vielmehr die Entstehung eines inneren Bildes, das sich durch meist nichtige Beobachtungen zu erkennen gibt. Hierbei ist eine immer wieder neue Kombinatorik m glich (und auch erw nscht); „Der gedehnte Blick nimmt alles, was er sieht, sorgf ltig auseinander und setzt es wieder neu zusammen. Denn alles, was wir ber die Zeit anschauen, beginnt eines Tages in uns zu sprechen.“ (GB 55) Dieses Immer-wieder-neu-Zusammensetzen und Zulassen neuer individueller Bedeutungen[18] kann auch so gedeutet werden, dass das Individuum sich dadurch bewusst einer Gesellschaft entzieht, die die Dinge m glichst sachlich und eindimensional betrachten will. „Dies eben begr ndet die UnBürger lichkeit des Flaneurs: Welt, die ihn umgibt, nicht ‚dingfest’, nicht handhabbar machen zu wollen, ganz im Gegensatz zum Bürger lichen Utilitarismus, der lediglich das für ihn Verwertbare an den Dingen wahrzunehmen imstande ist.“[19] Diese Art des Schauens offenbart also deutlich den Wunsch des Subjekts nach Individualität und nach einer gewissen Distanz zur Gesellschaft. Der Protagonist in Genazinos Werk ist daher immer „ein Ruheloser, der sich keiner Sache endg ltig zuzuwenden vermag, da dies für ihn bedeutete, ‚sesshaft’ zu werden, sich selbst und seine Freiheit der Bürger lichen Welt (...) zu opfern.“[20]

1.2 Kinder und der gedehnte Blick

Eine besondere Bedeutung im Zusammenhang mit dem gedehnten Blick misst Genazino der Wahrnehmung von Kindern bei. Er beschreibt, wie Kinder sich ganz dem Sehen hingeben und diesem ihre ganze Aufmerksamkeit schenken; „Das Kind ist in solchen starken Seh-Momenten nicht ganz bei sich oder nicht ganz es selbst; es hat einen Teil seiner Souver nität an sein Sehen abgegeben. Wir beobachten an Kindern zum ersten Mal das, was wir den gedehnten Blick nennen können.“ (GB 48) Wichtig bei diesem Prozess ist vor allem der Versuch der Kinder, sich durch das Schauen die Welt begreiflich zu machen. Dieser Vorgang ist es, den auch die erwachsenen Protagonisten bei Genazino weiterhin verfolgen, da sie wie die Kinder das Gef hl haben, von vielen Dingen nur den Anfang zu verstehen. „Wir haben (...) nichts anderes hervorgebracht als eine raffinierte Perfektionierung unseres kindlichen Sehens, das (...) immer schon damit zu k mpfen hatte, dass es ber die kruden Anf nge eines Verstehens selten hinausgekommen war.“ (GB 55)[21] Das Gef hl von Fremdheit, mit dem der Mensch also leben muss, gilt es anzuerkennen. („Das Kind (...) bemerkt rasch, dass auch eine starke Dehnung der Blicke nicht ausreicht, um der Objektwelt ihre Fremdheit zu nehmen.“ GB 49) Es scheint darauf anzukommen, auf welch unterschiedliche Weise die verschiedenen Protagonisten mit dieser Erkenntnis leben. Ideal w re es nach Genazino, sich mit dem mangelnden Verstehen abzufinden; „Die Perplexion ist das allm hliche Vertrautwerden mit der uns melancholisch stimmenden Zumutung, dass wir immer nur Splitter und Bruchst cke verstehen.“ (GB 51) Man sollte nicht versuchen, das Verstehen zu erzwingen, sondern danach streben, die Fremdheit hinzunehmen und das Verstehen auf einen sp teren Zeitpunkt zu verschieben; „Die Kinder sind jetzt (...) sprachlose Sehende geworden, die soeben anfangen, mit gedehnten Blicken auf die Welt zur ckzuschauen, die aus einem Versuch des Verstehens die Vertagung des Verstehens macht.“ (GB 58) Die Wahrnehmung der Kinder gilt also bei Genazino als Ideal; auch Erwachsene sollten sich einen kindlichen Blick auf die Welt bewahren. In einem Interview erkl rt er: „Das Thema ist das Schauen. Also, es ist nicht so wichtig, was sich ereignet und was dann geschieht, aber wichtig ist, dass jemand durch die Welt geht wie ein Kind, mit den Techniken des Sehens, die ein Kind entwickelt, und sich mit diesen Techniken einen Reim auf die Welt machen m chte.“[22] Dies hat auch in Bezug auf das Thema dieser Arbeit eine Bedeutung, insofern, als dass Kinder gewisserma en noch au erhalb der Gesellschaft stehen und ihre kindliche Sichtweise bei gewissen Protagonisten im negativen Sinn als Vorbild angestrebt wird. Gerade die Protagonisten vor 1989 versuchen durch kindliches Verhalten einen Ausweg aus ihrem Unbehagen der Gesellschaft gegen ber zu finden, was jedoch nicht gelingt. Doch auch in den B chern ab 1989 werden immer wieder Kinder beobachtet. Hier hat dies jedoch eine positive Bedeutung, da die Protagonisten selbst nicht mehr allzu kindlich handeln, sondern im Kinder-Beobachten Entspannung finden von ihrer anstrengenden tätigkeit des individuierenden Sehens.[23] Zwar ist auch infantiles Verhalten der Protagonisten in gewissem Ma noch vorhanden, (u.a. bei dem Regenschirm-Protagonisten) entwickelt sich aber deutlich zur ck.

2. „Das Exil der Blicke“: Individualisierung durch Wahrnehmung

Ein weiterer wichtiger Beitrag zur Wahrnehmung bei Genazino ist sein Aufsatz „Das Exil der Bli name="_ftnref24" title="">[24] In diesem thematisiert er die Verkn pfung von Sehen und Individualisierung. Er beschreibt den Vorgang des genauen Sehens und bemerkt: „Der Erz hler macht ja etwas mit den Dingen, enthebt sie vor allem der Banalität und Beliebigkeit.“[25] Gleicherma en entheben die Dinge aber auch ihrerseits den Betrachter aus seiner Beliebigkeit. Dadurch, dass der Protagonist sich das, was er sieht, selbst sucht und aussucht, erarbeitet er sich seine eigene Individualität und stemmt sich dadurch im Kontext der Gro stadt, die so viele vorgefertigte Anblicke bereith lt, (Werbung etc.[26] ) gegen die ihm drohende Normierung; in Genazinos Romanen (besonders ab 1989) bringen die Beobachter die Objekte ihrer Beobachtung selber hervor und reichern sie mit individuellen Bedeutungen an. Nur so gelingt es ihnen, nicht ein Teil dessen zu sein, wovon sie selber bedr ngt sind. Nur so n hern sie sich momentweise dem Traum einer Autonomie, die es unangegriffen nicht mehr geben kann. (AB 181)

Es handelt sich um einen Vorgang, den Genazino in Ein Regenschirm für diesen Tag erstmals als „bedeutungsvolles Sehen“ und „mein verwandelndes Auge“ (R 164) bezeichnet.[27] In einem Interview erl utert Genazino:

Es ist die Methode meiner B cher, dass der Erz hler durch seine Phantasiearbeit die Einzelheiten miteinander verbindet und erst dadurch die Tiefendimensionen dieser sogenannten Banalitäten erfassen und für sich erarbeiten kann. Das ergibt dann wiederum den anderen Hintergrund und hebt den Erz hler ab von Leuten, die einfach durch die Gegend stiefeln.[28]

Diese Aussage k nnte als Wegbereiter für die Ausf hrungen in Der gedehnte Blick (u.a. 51ff.) gesehen werden.

3. „Abstand gibt es nicht im Sonderangebot“: Abweichung (→Individualisierung) durch sthetische Opposition

Sein (das des Sich-mit-sich-selbst-Verst ndigenden, Anmerkung von mir) Selbstwissen ist jeder Wissensbehauptung berlegen: Darin liegt die Gravitation seiner Individualität, die zun chst nichts weiter ist als die Gewissheit eines Abstands. Diesen Abstand gibt es nicht im Sonderangebot. Jeder, der ihn für sich nutzen will, muss ihn sich selbst erarbeiten. (AB 165)

In seiner Rede zum Bremer Literaturpreis, der ihm 1990 verliehen wurde, erl utert Genazino seine Auffassung von der Wichtigkeit der Findung und Bewahrung des eigenen Ichs und weist darauf hin, dass es Arbeit ist, sein eigenes Ich vor der Gesellschaft zu verteidigen („ sthetische Opposition“) Er warnt: „Die Vielen, die es nicht schaffen, das Schwanken ihres Ichs als Zentrum ihrer Person hinzunehmen, berantworten ihre Innenwelt der komfortablen Gesellschaftsseele, die von allem, was das Individuum ausmachen k nnte, nichts wissen mag.“ (AB 164[29] ) Genazino betont, dass eine erfolgreiche Selbstfindung nur dann gelingen kann, wenn eine Abweichung von der Gesellschaft, dem ‚Erlebnisproletariat’ (R 148) erreicht werden kann.

Individualität gewinnen wir nur in der Abweichung. Abweichung bedeutet Entfernung. (...) Individualisierung dient der Selbstverst ndigung des Handelnden, nicht seiner Einordenbarkeit durch andere. Unter der herrschenden Tendenz total gewordener Zerstreuung ist diese private sthetische Opposition gegenw rtig vielleicht die einzige M glichkeit, einen Teil unseres besetzten und besch digten Ichs zur ckzuerobern. (AB 167)

Auch in einem Interview greift Genazino diesen Ansatz auf:

Es gibt viele Reflexe (...) auf die Programme der Arbeit oder der Gesellschaft, (...) die wiederum sehr stark davon berichten, in welchen verordneten Lebensl ufen sie existieren. Das sind die Kippstellen, wo dem Erz hler oder dem Protagonisten pl tzlich die Notwendigkeit des Erarbeitens von Subjektivität aufgeht. Subjektivität ist eigentlich nichts anderes als eine Art Intimität mit sich selbst, die in unseren vorgeschriebenen Lebensbahnen nicht mehr vorkommt. (...) Diese Intimität mit sich selbst ist ein Resultat des Abstands, das der Erz hler durch Spazierengehen erarbeitet.[30]

Dieses Prinzip, also die Erarbeitung von Subjektivität durch eine private sthetische Opposition, soll im Verlauf der nun folgenden Werkanalyse untersucht werden. Es soll herausgefunden werden, ob es in den ausgew hlten Romanen zu einer erarbeiteten Individualität des jeweiligen Protagonisten kommt oder nicht. Beginnen wir mit dem Roman Fremde K mpfe von 1984.

III Werkanalyse

1. Fremde K mpfe (1984)

„Du, Amsel, ich bin ein Mensch, den man fragen muss, keine Figur, von der alle wissen, dies geht und jenes nicht.“ (FK 179)

1.1 Ausgangssituation

Fremde K mpfe erz hlt die Geschichte des freien Grafikers Wolf Peschek, der im Begriff ist, in die Arbeitslosigkeit abzurutschen. Der Vierunddrei igj hrige befindet sich in einer mehrj hrigen Beziehung zu seiner Freundin Dagmar, hat aber Angst vor zu viel N he („Vertraulichkeit, die nicht mehr r ckg ngig zu machen war, und davor fürchtete er sich.“ FK 15) und versucht, sich durch Affüren dieser ‚Vereinnahmung’ zu entziehen. St ndig hat er Angst und schlimme Befürchtungen; „Peschek sa dazwischen und konnte nicht lachen. Er war berzeugt davon, dass irgendwann etwas Schreckliches und Furchtbares mit ihm geschehen werde (...).“ (FK 62) Diese anf nglichen Ahnungen bewahrheiten sich: Peschek, der anf nglich noch in der Gesellschaft steht, steigt immer mehr ab; er verliert seine Freundin und gleitet in die Kriminalität ab. Schritt für Schritt verliert er seinen Bezug zur Gesellschaft.

1.2 Erz hlsituation

Fremde K mpfe ist, wie auch schon Abschaffel und Die Ausschweifung, linear erz hlt. Der Text ist in der Vergangenheitsform gehalten. Pescheks Geschichte ist „in zwanzig titellosen Abschnitten von sehr unterschiedlicher L nge“[31] unterteilt. Durch mehrere Anhaltspunkte, wie etwa den Verweis auf das Attentat auf Papst Johannes Paul II., wissen wir, dass der Roman im Fr hjahr 1981 spielt. Genauer: „Eine Vielzahl eingestreuter Angaben (...) erlauben es, Februar bis Sommer desselben Jahrs als erz hlte Zeit zu bestimmen.“[32] Wie in allen Romanen Genazinos bis 1984 gibt es auch hier einen Erz hler, der dem Protagonisten vorangestellt gestellt wird; „Erz hlt wird sie aus der Perspektive einer anonymen, raum- und zeitlosen Erz hlinstanz. Durchweg konzentriert auf das u ere und innere Erleben des Protagonisten, fungiert dieser Erz hler als Beobachter, als selbst nicht betroffener Protokollant, der auch hochgradige Erregungszust nde Pescheks von distanzierter Warte aus registriert.“[33] Dieses distanzierte Beobachten l sst den Protagonisten meist als unwissend erscheinen, da Peschek oft ein irriges Verhalten oder Denken unterstellt wird; „Im Treppenhaus w nschte er sich, k nftig in einem Hotel wohnen zu d rfen; dort, meinte er, w rde seine Einsamkeit wenigstens bedeutsam werden können. (...) Auf der Stra e f hlte er sich sicherer als in seiner Wohnung; hier, glaubte er, werde er niemals berrascht werden können.“ (FK 227, Hervorhebungen von mir) Der Erz hler hat einen berblick dar ber, wie falsch Peschek liegt und wie verfahren seine Situation ist, weil er das Gute in seinem Leben meist gar nicht sieht; „Oben, weit ber ihm, gab es einen blauen Himmel, aber er hob nicht das Gesicht.“ (FK 191)

Die distanzierte, beobachtende Haltung des Erz hlers bewirkt, dass der Leser Peschek als schwach und hilflos empfindet.

1.3 Wahrnehmung

Ganz im Sinne Eckhard Fuchs’ aus dem vorangegangen Roman wei Wolf Peschek um seine genaue Wahrnehmung. Fuchs nennt sie in Die Ausschweifung (1981) seine Phantasie. Diese st rt und behindert ihn, er wei nichts mit ihr anzufangen. Dennoch ahnt er, dass Phantasie zu etwas gut sein k nnte oder sollte, w re sie nur anders. Er erkennt nicht, dass seine Phantasie durchaus dazu geeignet w re, „das Leben zu versch nern, weil sie etwas aus ihm herausschlug, was auf den ersten Blick nicht in ihm drin war.“ Genau das ist es, was die Protagonisten nach 1989 langsam lernen und was bereits in den fr hen Romanhelden Genazinos angelegt ist.

Er hatte durchaus Phantasie, dachte er, nur war er mit der Art dieser Phantasie nicht sehr zufrieden. Er w nschte sich eine Phantasie, die alle anderen Menschen auch als solche akzeptieren konnten, eine Phantasie, die das Leben versch nte, weil sie etwas aus ihm herausschlug, was auf den ersten Blick nicht in ihm drin war. Seine Art der Phantasie hingegen, unter der er gelegentlich sogar litt, f hrte ihn blo zu abgelegenen Einfällen und Vorstellungen, die er meistens für sich behalten musste, wollte er nicht riskieren, jemanden durch deren Mitteilung zu erschrecken oder zu peinigen. (A 148)

Wichtig ist hier, dass Fuchs seine Phantasie vorrangig als etwas begreift, das ihn von anderen Menschen trennt. Es gibt also bereits hier eine Verkn pfung von Sehen und Gesellschaft. Folgender Absatz zeigt aber, dass Fuchs weder von seinen Beobachtungen, noch von einem Leben in der Gesellschaft viel h lt;

Aus der Entdeckung eines Details ging immer nur die innere Gewissheit hervor, irgendwo dazuzugeh ren; und wahrscheinlich konnte jeder Mensch, der mit berwiegend haltbaren Gef hlen lebte, ber endlose, jahrelange Beobachtungen von Nichtigkeiten berichten, die zu nichts anderem gut waren, als dass sie die Verkn pfung jeder einzelnen Person mit allen anderen erlebbar machten. (A 30, Hervorhebung von mir)

Fuchs ist also jemand, der einerseits gern die Zustimmung anderer Menschen h tte, auf der anderen Seite jedoch nicht an einer wirklichen Gemeinschaft mit anderen interessiert zu sein scheint. Dieses paradoxe Denken ist bei allen Protagonisten vor Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz festzustellen.

Wenden wir uns Wolf Peschek zu. Auch von ihm ist bekannt, wie er zu seinem Wahrnehmen steht. Er scheint schon einen Schritt weiter zu sein als Fuchs. „Durch langes, geduldiges Schauen wurde er manchmal so zuversichtlich, dass er glaubte, auf die Preisgabe von Geheimnissen warten zu können.“ (FK 7) Der Schein tr gt aber, denn kurz darauf folgt die ern chternde Einsicht: „Alles Schauen hatte ihm wieder nichts eingebracht.“ (FK 7) Da Peschek mit seinem Schauen zu keinen Ergebnissen kommt, setzt er es lediglich ein, um das niederschmetternde Resultat, sein mangelndes Verstehen, zu lindern; „Er sp rte, dass ihn diese Aufgabe berforderte, und stellte sich an das Fenster: hier lie sich das Gef hl der Antwortlosigkeit am leichtesten zerstreuen.“ (FK 147) Auf der verzweifelten Suche nach etwas Gro em f llt ihm nicht auf, dass das Gro e genau in dem Kleinen liegt, dass er nicht anerkennt; „Alles, was von seinem Wunsch nach Aufhellung brig blieb, war ein inneres Verschraubungsgef hl, das sich gegen ihn selbst richtete. Er sehnte sich nach gro en Gedanken, die ihn vielleicht h tten tr sten können. Statt dessen hatte er damit zu tun, die blichen kleinen Gedanken nicht ernst zu nehmen.“ (FK 245) Das Fazit ist immer aufs Neue die Entt uschung ber sein Nicht-Verstehen[34] und Nicht-Erkennen. („Es erbitterte Peschek erneut, dass er viel sah, aber so gut wie nichts erkannte.“ FK 145)

Pescheks Schauen ist also insgesamt deutlich von Entt uschung sowie Unlust bis hin zum Zwang bestimmt; „Peschek wollte sich ausruhen, aber er musste den Ledermann beobachten. (...) Aus der dauernden Beobachtung wuchs eine Feindseligkeit empor.“ (FK 92, Hervorhebung von mir) Trotz allem gibt es in Fremde K mpfe bereits Momente, in denen der Protagonist Epiphanien erlebt. Dies ist eine Technik, die in Genazinos Werk eine besondere Bedeutung einnimmt;[35] meist geht es den Protagonisten darum, Erleichterung ihrer Agonie durch das bewusste Herbeif hren von Seh-Erfahrungen zu erlangen. Allerdings findet der Protagonist, hier Peschek, die erw nschte Linderung nicht immer dort, wo er sie sucht. Die Epiphanie-Versuche verlaufen meist nach dem gleichen Schema: Einmal „betrachtete er die Ohren einer alten Frau, weil er sich von diesem Anblick Linderung versprach. (...) Statt der Beruhigung berkam ihn Mitleid.“ (FK 32) Die Beruhigung, nach der Peschek sich sehnt, offenbart sich dann aber berraschend ganz woanders: „Eine fremde Behaglichkeit kam auf. Peschek sp rte, dass ihn die Angst der Rentner um ihr Gep ck zu beruhigen begann.“ (FK 35) Pescheks gute Gef hle und Linderungen sind jedoch tr gerisch, da sie immer kurzfristiger Natur sind[36] („für Augenblicke fiel alle Angst von ihm ab. Er wunderte sich nicht dar ber, dass er selbst keine Lust hatte, ebenfalls in dem Flugzeug zu sitzen und zu verschwinden.“ FK 194) und trotz der Annehmlichkeiten[37] negative Nebenwirkungen haben können; „In diesen Minuten lernte er ein neues Gef hl kennen: auch gute Stimmungen brachen ihn pl tzlich in der Mitte auseinander.“ (FK 52) Grunds tzlich wei Peschek um diese Kippgefahr; „Das Seufzen ist eine Sicherheitsma nahme, sagte Peschek, weil ich nicht glauben kann, dass es mir sehr lange gut geht.“ (FK 169)

Ein weiterer Epiphanie-Moment, im negativen Sinne, tritt auf, als Peschek in ein Kaugummi tritt. Dieser unbedeutende Vorfall l st bei ihm unangemessen starke Empfindungen aus:

Er bildete sich ein, keinerlei Anspr che und keinerlei Rechte mehr zu haben, an nichts mehr zu glauben und für nichts mehr k mpfen zu können. Er geriet in ein Meer des Verzichts hinein und drohte darin zu versinken: er wollte nichts mehr erreichen, nichts verteidigen, nichts besitzen, nichts verdienen, nichts w nschen, nicht mehr ausruhen und nicht mehr von vorne anfangen. (FK 31f., Hervorhebungen von mir)

Durch eine (fast bertrieben anmutende) Anh ufung von Wiederholungen (‚nichts’, ‚keinerlei’) werden Pescheks Gef hle des Mangels besonders herausgehoben. Sie sind so stark, dass Peschek sie sofort bek mpfen, bzw. beruhigen will. (In diesem Fall durch das Beobachten der Ohren einer alten Frau, s.o.). Das Suchen nach Epiphanien, bzw. das pl tzliche Auftauchen derselben oft an vollkommen anderen Orten, hat immer einen besonderen Stellenwert im gesamten Werk Genazinos. Meistens kommt es in seinen Romanen zu einer Zuspitzung, einer gro en Epiphanie gegen Ende des Buches,[38] in der die Protagonisten eine besondere Erkenntnis, ihre Gesamtsituation oder eine bestimmte Fragestellung betreffend, gewinnen. Im Fall Pescheks ist dies ein Erlebnis mit einem vor berfahrenden Touristen-Bus. Dieser f hrt erst an einigen Prostituierten, dann an ihm vorbei. Da er wegen eines Kampfes blutverschmiert ist, erregt er Aufsehen bei den Touristen; „Die Touristen verdrehten die K pfe, weil sie nicht wussten, auf wen sie zuerst herabschauen sollten.“ (FK 251) Peschek wird pl tzlich klar, dass er nun endg ltig abseits der Gesellschaft steht dass er zu einem „frisch Ausgeklinkten“ (FK 251) geworden ist und somit auch „selbst zu einem der Zeichen (...), nach denen er so lange gesucht hatte.“ (FK 251) Die Blicke der Touristen spiegeln die der Zugreisenden aus Pescheks Traum am Anfang des Romans wider (sh. Kap. 1.6.1): „Erstaunt und erschreckt betrachteten ihn die Reisenden; er war eine zerlumpte, schwer atmende Gestalt.“ (FK 11) Sein Traum und seine Befürchtungen zu Beginn des Romans werden also Wirklichkeit und können als Vorausdeutungen gelesen werden. Pescheks niederschmetterndes Resumé lautet: „Bis zu diesem Tag hatte Peschek geglaubt, dass Ungl cke das Leben ver nderten; statt dessen bestätigten sie es nur.“ (FK 251) Eine Besserung seiner Situation oder ein Hoffnungsschimmer wird nicht in Aussicht gestellt. Im Gegenteil so lautet der letzte Satz: „Langsam dunkelte der Abend herab.“ (FK 251)

1.4 Raum: Der getriebene Fu g nger in der Stadt

Die Gro stadt, hier und in vielen anderen B chern Genazinos Frankfurt a.M., ist immer eine wichtige Kulisse in seinem Werk. Dabei ist sie bestenfalls Reibungspunkt für das mangelhaft individuierte Subjekt, wenn nicht gar etwas, woran der Protagonist letztlich scheitert, da sie seine innere Enge repr sentiert.[39]

Immer wieder wird bei Genazino „der Widerstand des Subjekts, in einem gesellschaftlich-technischen Mechanismus nivelliert und verbraucht zu werden“[40] thematisiert. Daher ist eine st dtische Kulisse notwendig.[41] Wichtig ist hierbei unter anderem, dass „die Gro stadt die Menschen zum Kollektiv zusammenzwingt,[42] u erlich fassbar bereits an dem gleichm igen Tempo, dem sich alle zu f gen haben.“[43]

Eine besondere Bedeutung kommt der Tatsache zu, dass die Protagonisten h ufig als Fu g nger unterwegs sind. Dies ist ganz gezielt von Genazino beabsichtigt:

Keineswegs zuf llig sind die Protagonisten Fu g nger. Sie haben die langsamste Art der Fortbewegung gew hlt, weil sie nur mit ihr den Reflexionsgewinn machen können, den die Stadt heute noch anbietet. Sie wollen nicht rasend schnell an den Dingen vorbeifahren, im Gegenteil, sie sind Eidetiker, Augenmenschen, die verharren können, bis sich ihnen etwas zeigt. (AB 180)

Diese Art des Gehens trifft jedoch haupts chlich für die Figuren ab Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz zu. Die Protagonisten bis 1984 gehen auch, sind aber aus anderen Gr nden unterwegs und meistens ohne Mu e. Peschek wei , dass seine Vorliebe für das Gehen m glicherweise sogar negative Ursachen hat. („Er lief umher wie ein gew hnlich leerer Mensch, dem immer etwas fehlte.“ FK 81)

Zwar w nscht er sich, ein Flaneur zu sein, („Er sehnte sich danach, einmal im Leben nur deswegen spazierenzugehen, weil die Sonne schien.“ FK 189) da aber sein Gehen mehrfach kommentiert wird, kann man ihn nach Weppen, der in Der Spazierg nger verschiedene literarische Fu g ngertypen klassifiziert, getrost als den urbanen „Streuner“ (bzw. als den „getriebenen Spazierg nger“) bezeichnen; „(...) er ist aufs blo e berleben bezogen (...) Sein Gang durch die Stadt f hrt ihn, keuchend und durchh ngend, bis zur Aufgabe der eigenen Existenz. Dann ist der Punkt erreicht, an welchem er nur noch vegetiert.“[44] Weppen sagt au erdem ber den Streuner: „Er bricht von nirgendwo auf und geht nirgendwo hin.“[45] Demnach w re Peschek mit folgender Aussage eindeutig identifiziert: „Er konnte nach Hause gehen und dort darauf warten, bis sein ganzes Leben zu einer kleinen M llhalde zusammengerutscht war. Er konnte auch umherlaufen und sich immer weiter entfernen, bis er nicht mehr wusste, woher er kam und wohin er wollte.“ (FK 31)

Das Gehen ist bei Peschek, der auch als der ‚getriebene Fu g nger’ eingeordnet werden k nnte,[46] (neben weiteren Tricks, auf die ich noch eingehen werde) eine weitere Ma nahme zur Vertreibung von Angst und anderen unangenehmen Gef hlen. Dies belegen folgende Bemerkungen:

Es gefiel ihm, schuldig in der Stadt umher zu streunern und beim Strolchen und Stronzen die Schuld nicht zu verlieren, sie aber Schritt für Schritt kleiner zu machen. (FK 190)

Er sah an den Glasgletschern der Hochh user hoch, weil er sich dann besser f hlte: das endlose Nebeneinander der spiegelnden Fenster half ihm, alles unwichtig zu finden. Kleinlaut schob er sich durch die Stra en. Schon bald sp rte er, dass das stumme Herumstreunern gut für ihn war: das Nagen der ihn ausschlie enden Kr fte lie nach und verschwand manchmal fast ganz. (FK 62f.)

Um seine Entt uschung zu verlieren, fuhr er mit der Rolltreppe die B-Ebene hinunter und setzte sich dort hundert dr hnenden Einzelheiten aus. (FK 79)

Ein weiterer Grund für Pescheks Vorliebe, auf der Stra e umherzulaufen, (neben dem Vertreiben von Entt uschung, Schuld und Angst) ist auch die Tatsache, dass er sehr darunter leidet, dass in seine Wohnung eingebrochen wurde. Daher ist seine Reaktion auch: „Auf der Stra e f hlte er sich sicherer als in seiner Wohnung; hier, glaubte er, werde er niemals berrascht werden können.“ (FK 227) Das Gef hl der mangelnden Sicherheit in seiner Wohnung belegt auch folgende Textstelle:

Es verlockte ihn, wieder auf die Strasse zu gehen und dort sein Daseinsgef hl zu normalisieren. Aber er konnte doch nicht jedes Mal seine Wohnung verlassen, um sich zu Hause zu f hlen. Die Angst war ein Gegner, der von allen Seiten angriff. Deswegen hatte es keinen Sinn, gegen diesen Gegner zu k mpfen. Das beste war, sich niederringen zu lassen und danach wieder aufzustehen. (FK 230)

Der Erz hler spricht aber auch noch von einem anderen Antrieb für Pescheks zwanghaftes Gehen;

Es war, als gebe es einen Mann in seinem K rper, der ihn nach vorne auf die Stra e sto en wollte. Mit einer Tasse Pfefferminztee war der Mann in Pescheks Brust meistens zufrieden; dann machte er sogar mit, wenn Peschek in der eigenen Wohnung herumlungerte. (...) Der Mann in Pescheks Brust lobte den Pfefferminztee; dieses hei e Getr nk schmeckte ihm so gut, dass er versprach, die St e gegen die Brust eine Weile zu unterlassen. (FK 56f.)

Diese Aussage legt den Verdacht nahe, dass Peschek psychisch nicht ganz gesund sein k nnte. Es gibt einige andere Stellen, die diesen Verdacht erh rten.[47]

1.5 Pescheks Ausstieg aus der Gesellschaft

„Die Folgen von drei Umw lzungen schoben ihn langsam aus dem Leben hinaus; (...) das Leben ohne die ihm vertraute Art von Arbeit; (...) das neue Liebesgrauen mit Dagmar, und die dritte war der Einbruch, dessen Entsetzungskraft immer noch zunahm.“ (FK 227)

Zu Beginn des Romans ist Peschek ein Glied der Gesellschaft. Zwar verh lt er sich schwach und hilflos, aber dennoch lebt er durchaus gesellschaftskonform. Mehrere Faktoren sind hierfür entscheidend: a) seine Arbeit, b) seine Beziehung und c) seine Wohnsituation.

Sein infantiles Verhalten suggeriert jedoch schon zu Anfang eine gewisse Unwilligkeit zur Teilnahme an der Gesellschaft. Lieber will er, wie ein Kind, in einem noch unschuldigen, beobachtenden Zustand verweilen. Dieses Verhalten soll im Folgenden untersucht werden. Daraufhin soll gezeigt werden, in wie fern oben genannte Punkte, bzw. der Wegfall derselben, Pescheks Austritt aus der Gesellschaft besiegeln.

1.5.1 Abkehr durch kindliches Verhalten bei Peschek

Peschek bedient sich mehrerer Tricks, um sein labiles Selbst zu sch tzen. Diese können ihm jedoch nur vor bergehende Linderung verschaffen es sind Kindertricks; „Als Zw lfj hriger hatte er mit einem St ck Apfelkuchen und einer Cola gegen die Niedertracht der Tage gek mpft und oft gewonnen.“ (FK 212)

Jetzt ist Peschek erwachsen. Seine Tricks aber sind die gleichen geblieben; „Jetzt half nur noch eins: er spielte das Schulkind von fr her, das Geld finden wollte.“ (FK 80), „Er half sich mit einem alten Trick: er fuhr sich mit der Hand langsam ber das Gesicht und fingerte dabei alle ffnungen ab.“ (FK 95) Aber was auch immer er unternimmt, um seine Angst abzusch tteln, er muss erkennen: „Aber der Trick war alt und zog nicht mehr.“ (Ebd.) und „Aber auch dieser Trick war fad geworden.“ (Ebd.) Einen R ckzug in die unschuldige Kinderwelt ohne jede Verantwortung ist jedoch das Einzige, was er sich zu verordnen wei . Seine infantilen Regressionsw nsche finden sich im gesamten Roman. Eine weitere Variation seiner Kindertricks ist das hemmungslose L rmen-Wollen und immer wieder die schnelle „Bet ubung“ mit S igkeiten:

An den folgenden Tagen war Pescheks Stimmung so gut, dass er morgens immer eine Weile im Bett bleiben und wie ein Kind heruml rmen wollte. (FK 103)

Wunderbar samtig f llte die Idee sein Inneres aus. Er f hlte sich so gut, dass er Lust bekam, sich danebenzubenehmen. (FK 64)

Aus Beruhigungsbed rfnis kaufte er sich an einem Kiosk eine kleine Tafel Schokolade und a sie zur H lfte auf. Langsam kauend hielt er die vorgestellte Verkettung von N he und Verh ngnis besser aus. (FK 179)

Mal gelingt ihm eine (wenn auch fl chtige) Besserung seiner Gesamtverfassung; „Drau en auf der Strasse holte er den Berliner aus der täte und biss hinein. Und tats chlich, die Angst wich, langsam nur und z h, aber St ck für St ck.“ (FK 212), mal muss er sich schmerzlich eingestehen, dass S es nicht immer wirkt: „Er kaufte sich eine kleine Tafel Schokolade, a sie auf und f hlte sich dem Tode nahe. Die Schokolade vertrieb den Trotz und den Schmerz, das Todesgef hl blieb.“ (FK 243) In der Hoffnung auf weiteren, vielleicht wirksameren „Schmerznachlass“[48] bewegt er sich daher immer in der N he von Kindern. („Peschek blieb in der N he des Kindergesangs stehen.“ FK 243)

1.5.2 Abkehr durch Kriminalität (vs. Verankerung in der Welt durch Arbeit)

Peschek begreift seine Arbeit in der Werbebranche,[49] vielleicht erst seit seiner eigenen bevorstehenden Arbeitslosigkeit, als eine Verankerung in der Gesellschaft, die er selbst jedoch nicht ganz guthei en kann. Bereits zu Anfang bemerkt er, wie sehr ihn seine ver nderten Lebensumst nde bedr cken:

Zum erstenmal hatte er bemerkt, dass jemandem, dem die Arbeit abhanden zu kommen drohte, auch die Gel ufigkeit der Stimme schwand. Heute war er manchmal soweit, dass er blo sein Telefon anzuschauen brauchte, um sicher zu sein, dass er eigentlich nur noch stottern konnte. Der H hepunkt dieser Selbsteinsch chterung war das langsame Hin bergleiten in eine Gleichg ltigkeit, die er nicht lange ertrug. (FK 23f.)

Sp ter aber gibt er zu bedenken, dass eine Verankerung in der Gesellschaft nicht nur durch Arbeit zustande kommen sollte; „Es hat ein Ende damit, sagte er zu ihr, dass ich immer nur durch Arbeit zum Leben komme; ich bin berzeugt, eine neue, noch verborgene Wirklichkeit entdeckt zu haben.“ (FK 65) Dennoch wird ihm im Laufe der Zeit immer mehr bewusst, dass die Arbeit einen gro en Stellenwert im gesellschaftlichen Leben hat: „Dann dachte er richtig gute S tze, die ihm bei keiner anderen Gelegenheit einfielen. DURCH ARBEIT F HLT SICH JEDER IN DER WELT AUFGENOMMEN. WER NICHT ARBEITET, IST NIRGENDWO ZU HAUSE. ARBEIT IST EIN SCHUTZ GEGEN WAHNSINN UND ELEND.“ (FK 133) Durch den Verlust seiner Arbeit muss Peschek jedoch eine Alternative finden dabei scheint er nicht nach einer legalen Besch ftigung zu suchen; er verdient sich seinen Unterhalt als Weiterverk ufer von Pelzen, die er auf dem Schwarzmarkt erwirbt. Dies erscheint ihm nicht bedenklich; seiner Meinung nach „kriminalisiert sich die Gesellschaft als Ganzes (...) der Betrug wird zum Volksgef hl.“ (FK 66) Von seinem Leben als ehrlicher Arbeitnehmer entfernt er sich also immer mehr: „Die Angestellten sollten nicht glauben, dass er etwas mit ihnen zu tun hatte. Peschek war einer von ihnen und er war doch keiner von ihnen. Wenn er ihnen lange genug in die Gesichter sah, dann wusste er, dass er ein anderes Leben lebte.“ (FK 131) Zunehmend vertritt er die Auffassung, dass alles Leben von Kampf gepr gt ist.[50]

Zu Beginn seiner Arbeitslosigkeit empfindet Peschek keine Schuld an seiner Lage. („Was er h tte sagen m ssen, verlangte die Form eines Gest ndnisses: Ich muss dir gestehen, dass ich seit heute ohne Arbeit bin. Aber einem Gest ndnis ging immer eine Schuld voraus, und eben diese Schuld konnte er nicht bei sich finden.“ FK 52) Diese Haltung ndert sich jedoch im Laufe der Zeit drastisch. Am Ende des Romans „ahnte er die Grundschuld seines Lebens“ (FK 249) Kurz darauf ist er sich bereits „ganz sicher, dass ihn seine Schuld verunstaltete.“ (FK 250) Die Arbeitslosigkeit kann also als Ausl ser für Pescheks Abkehr von der Gesellschaft und sein Abdriften ins Kriminelle gewertet werden. Er ahnt bereits, dass sich Individualisierung durch Abweichung erreichen lie e. Jedoch ist für ihn Abweichung automatisch gleichbedeutend mit Kriminalität. Als seine Bekannte Marga ihm den Diebstahl eines Buches gesteht, bezichtigt er sie, nicht intelligent zu handeln. Sie erkl rt: „ich k nnte niemals eine bewusste Abweichung planen, dazu habe ich gar keine Lust. Und die Nerven fehlen mir dazu.“ (FK 153) Er vertritt die Meinung: „Wenn du au erhalb der Regeln leben willst, brauchst du für jeden Tag eine neue Idee.“ (FK 154) Diese Erkenntnis k nnte als Vorausdeutung seines Weges in die Kriminalität gedeutet werden. Von ihr verspricht er sich die gew nschte Individualität. Jedoch bezahlt er diese mit einem weitaus h heren Preis als die Protagonisten nach 1989, die erkannt haben, dass Abweichung auch anders m glich ist. Es ist au erdem fraglich, ob er die n tige Idee pro Tag für seine Abweichung aufbringen können wird. Den Abstand, den er in der Kriminalität findet, ist von zweifelhafter Qualität. Obwohl er sagt: „Man muss die Dinge, die man braucht, doch anerkennen“, (FK 200) ist er weit davon entfernt, dies auch zu tun, das hei t, seine eigenen Bed rfnisse und somit sich selbst als Individuum, ernst zu nehmen. Zu sp t wird ihm bewusst; „Es reichte nicht, die alten Regeln blo zu verwerfen.“ (FK 249)

1.5.3 Wohnungseinbruch

Der Einbruch in seine Wohnung stellt für Peschek, der ohnehin gro en Wert auf seine Verborgenheit legt,[51] eine enorme Belastung dar. für ihn ist seine eigene Wohnung von gro er Bedeutung; „Seine Meinung war, dass die Wohnung in den Intimbereich jedes Menschen geh rte und dass es deswegen besser war, wenn sich jeder seine Behausung selbst beschaffte.“ (FK 38) Es ist daher anzunehmen, dass die Wohnung in diesem Fall für Pescheks Wunsch nach Individualität steht. Sie ist sein R ckzugsort, sein Reich; der einzige Ort, an dem er entscheiden kann, was passiert und was nicht.

[...]


[1] Wilhelm Genazino im Gespr ch mit Klaus N chtern: „Kultur ist Zufall“, Falter 37/04, 08.09.2004.

[2] Vgl. Schulte, Bettina: „Ich bin, was ich sehe: BZ-Interview: Der Autor Wilhelm Genazino ber den unerwarteten Erfolg seines Romans ‚Ein Regenschirm für diesen Tag.’“ In: Badische Zeitung, 8.11.2001: „Wenn man sich die Geschichte des bedrohten Subjekts vor Augen f hrt, kommt der Wahrnehmung ein enormes Gewicht zu. Sie ist identitätsstiftend: Ich bin, was ich sehe. Wenn einem sonst nichts mehr in der Welt zuf llt, wenn man total vergesellschaftet und verrationalisiert ist, erlaubt einem das, was man sieht, das letzte Eigentum, das man mit niemandem teilen muss.“

[3] Lediglich einige k rzere Eintr ge in Literaturlexika (z.B. Killy und KLG) sind zu verzeichnen, sowie die Ausgabe IV/2004 (162): Wilhelm Genazino der Literaturzeitschriftätext + Kritik, au erdem eine Dissertation, (Marion Heister: „Winzige Katastrophen“: Eine Untersuchung zur Schreibweise von Angestelltenromanen. Lang 1989) die sich im Rahmen der Untersuchung von Angestelltenromanen unter anderem mit Genazinos Abschaffel-Trilogie besch ftigt, sowie diverse Zeitungsartikel.

[4] Bekannt sind mir zwei noch nicht ver ffentlichte Dissertationen. Eine davon (von Anja Hirsch/Universität Bielefeld) liegt mir als Manuskript vor.

[5] Besonderes die Aufs tze: „Abstand gibt es nicht im Sonderangebot: Rede zum Bremer Literaturpreis“ AB S. 161-173 und „Das Exil der Blicke. Die Stadt, die Literatur und das Individuum: Dresdner Rede.“ AB S. 174-183.

[6] Jung, Werner: „Die Botschaft des Unscheinbaren: Gespr ch mit Wilhelm Genazino.“ In: Neue Deutsche Literatur 1995 H.3, S. 104.

[7] Vgl. F 28: „Verlorenheit kann dann sch n sein, wenn sie das Individuelle am Menschen betont.“

[8] Jung, Werner: „Die Botschaft des Unscheinbaren: Gespr ch mit Wilhelm Genazino.“ In: Neue Deutsche Literatur 1995 H.3, S. 103.

[9] Elias, Norbert: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 87.

[10] Nach Sill ist „ Fremde K mpfe (..) geeignet für eine gesellschaftstheoretisch informierte und textsoziologisch inspirierte Lekt re.“ Sill, Oliver: „Moderne Zeiten: Wolf Peschek als Held der achtziger Jahre.“ In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.) Text + Kritik (162) Wilhelm Genazino. M nchen: Richard Boorberg 2004, S. 29.

[11] B ttiger, Helmut: „Anwalt kleinster Dinge: Eine Laudatio auf den Erz hler Wilhelm Genazino, der in Berlin mit dem Fontane-Preis 2003 ausgezeichnet wurde.“ In: Die Welt, 26.04.2003.

[12] „In der Tat wechseln mit diesem Schnitt Erz hlweise und Inhalte, oder anders formuliert, ist eine Verschiebung zu beobachten sicherlich aber nicht ein radikaler Bruch. (...) Das neue, selbst erz hlende Ich vermag mittels besser regulierter Distanznahme dem Bildertrubel auch etwas Positives abzugewinnen.“ Hirsch, Anja: „Schwebegl ck der Literatur“: Erz hlen bei Wilhelm Genazino. Manuskript 2005, S. 7.

[13] Ebd.

[14] Ebd.

[15] Genazino, Wilhelm: „Der gedehnte Blick.“ In: Der gedehnte Blick. M nchen: Hanser 2004, S. 39-61. (Erstmals in: Der Literaturbote Nr. 54, Juni 1999, S. 4-25.)

[16] Die Theorie des gedehnten Blicks ist etwas, das Genazino bereits lange vor Erscheinen seines gleichnamigen Essays umtrieb. Bereits in einem Zeitungsinterview von 1996 gebraucht er diesen Begriff: „Wenn man die Einzelheiten wahrnehmen will, braucht man einen Exotenblick, einen gedehnten Blick, oder wie Walter Benjamin sagt ‚die Einsenkung ins Detail.’ Die Verbindungslinie zwischen u eren Dingen und dem inneren Echo, das sie im Menschen ausl sen, sind es, die ich aufzusp ren, darzustellen versuche.“ Henning, Peter: „Der Flaneur.“ In: Journal Frankfurt Nr.18/96.

[17] Hirsch, Anja: „Das Schwebegl ck der Literatur“: Erz hlen bei Wilhelm Genazino. Manuskript 2005, S. 309.

[18] Genazino, Wilhelm: GB (55) „Der laufende Auseinander- und Wiederzusammenbau der Bilder ist unsere Technik, mit dem Problem fertig zu werden, dass auch der gedehnteste Blick nicht alles zugleich und nicht alles sofort sehen kann. Dies unvermeidlichen Bildr ckst nde f hren uns beinahe von selbst in eine sthetik der Nachhaltigkeit hinein, von der wir rasch merken, dass sie uns nie in eine Leere schauen l sst.“

[19] Weppen, Wolfgang von der: Der Spazierg nger: Eine Gestalt, in der Welt sich vielf ltig bricht. T bingen: Attempto 1995, S. 99.

[20] Ebd., S. 96.

[21] Vgl. R 67: „Auf diese Weise entstand die Vorstellung, dass ich von fast allem, was geschieht, immer nur dessen Anfang begreife. Bald war ich in viele, sich bereinanderschichtende Verstehensanf nge verstrickt, von denen ich nicht mehr sagen konnte, was sie mir eigentlich hatten erkl ren sollen. Bis heute breche ich das Verstehen ab, beziehungsweise ich gerate in eine Stimmung des kindlichen Wartens, wenn die Kompliziertheit berhandnimmt und ich auf einen neuen Anfang des Begreifens angewiesen bin. Das Problem dabei ist die riesige Menge des nur anf nglich Verstandenen, das sich in meinem Geist anh uft.“

[22] Genazino, Wilhelm: ‚Ich bringe ja auch das Bild in Schwung’, Neue Z rcher Zeitung, 7.5.2001, zitiert nach Bucheli, Roman: „Genazinos Poetik des genauen Blicks.“ In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.) Text + Kritik (162) Wilhelm Genazino. M nchen: Richard Boorberg 2004, S. 50f.

[23] F: „Und wie kommt es dann zu so etwas wie Subjektivierung, was sie einmal als ‚Intimität mit sich selbst’ beschreiben“?

A: „Man muss die Techniken wechseln und sich irgendeine harmlose Szene suchen, der man zuschauen kann. Das mache ich oft: spielende Kinder oder die Kommunikation einer Mutter mit ihrem Kind beobachten, die für sich eine Privatsprache gefunden hat.“

F: „Ist das eine Wechselbeziehung: Distanz aufbauen auf der einen Seite, Hingabe auf der anderen?“

A: „Ja, das kann man so sagen.“ (Interview vom 3.2.2001, Hirsch, Anja: Erz hlen bei Wilhelm Genazino, a.a.O., S. 317.)

[24] Genazino, Wilhelm: „Das Exil der Blicke

[25] Jung, Werner: „Die Botschaft des Unscheinbaren: Gespr ch mit Wilhelm Genazino.“ In: Neue Deutsche Literatur 1995 H.3, S. 105.

[26] „Wenn man vors Haus tritt, muss man bereits eine erste Seh-Operation vornehmen, damit man nicht zum 27. Mal auf die fürchterlichen Plakatw nde hereinf llt, die einem ins Hirn springen. Alles, was Aussage hat, nimmt mir eine von mir weg. Ich muss mir Wege suchen, die mir meine eigenen Aussagen zu mir und zur Welt erm glichen.“ Schulte, Bettina: „ ‚Ich bin, was ich sehe’: BZ-Interview mit Wilhelm Genazino.“ In: Badische Zeitung, 8.11.01.

[27] Bereits in fr heren B chern thematisieren die Protagonisten diese Art der Wahrnehmung, wie beispielsweise in dem Roman Leise singende Frauen (1992): „(...) ich sp re, der Traum des Schreibens ruht auf einer Beleihung dessen, was ich sehe und h re und unabl ssig verwandle, auf einem offensiven und zugleich heimlichen Pakt mit allem, was sich ringsrum ereignet, einem Pakt, der nichts als die Erwartung verlangt, dass wir berall auf Bilder und Eingebungen hoffen d rfen, die unserer Bed rftigkeit antworten und uns für die Dauer der Antwort von dieser Bed rftigkeit befreien. Und diese Erwartung, diese jeden Tag ins Freie hinausgetragene Empf nglichkeit ist nichts anderes als ein inneres tätigsein, das uns aus der Nichtigkeit des blo en Zeitvergehens herausnimmt, indem es uns vor uns selber betont. (LSF 165)

[28] Jung, Werner: „Die Botschaft des Unscheinbaren: Gespr ch mit Wilhelm Genazino.“ In: Neue Deutsche Literatur 1995 H.3, S. 106.

[29] Genazino, Wilhelm: „Abstand gibt es nicht im Sonderangebot. Rede zum Bremer Literaturpreis.“ AB S. 161-167.

[30] Jung, Werner: „Die Botschaft des Unscheinbaren“ S. 104. (Vgl. Genazino, Wilhelm: „Man mu mit einiger Wachheit und Offenheit durch die Gegend gehen und schauen, wie tief die Bilder in einen eindringen.“ Henning, Peter: „Der Flaneur.“ In: Journal Frankfurt, Nr. 18/96.)

[31] Sill, Oliver: „Moderne Zeiten: Wolf Peschek als Held der achtziger Jahre.“ In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.) Text + Kritik (162) Wilhelm Genazino. M nchen: Richard Boorberg 2004, S. 30.

[32] Ebd.

[33] Sill, Oliver: „Moderne Zeiten: Wolf Peschek als Held der achtziger Jahre.“ In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.) Text + Kritik (162) Wilhelm Genazino. M nchen: Richard Boorberg 2004, S. 30.

[34] „Er f hlte sich wie eine Fliege, die irgendwo reingeflogen war und sich nun für verirrt hielt. Je dunkler es wurde, desto mehr n herte sich Peschek der Auffassung, dass sich berhaupt niemals etwas kl ren lie .“ (FK 123), „Der Anblick des Ladens l ste in Peschek den TOTALVERDACHT aus: ein Einschn rungsgef hl, das ihn glauben machte, bald berhaupt nichts mehr verstehen zu können.“ (FK 59)

[35] Genazino zu der Technik der Epiphanie in GB 52ff.

[36] „Die Haltung des Lauschenden und sich (...) Umschauenden ist charakteristisch für Genazino. Der Beobachter versammelt die Welt um sich und ist einen Augenblick lang existent: getr stet, irritiert, begeistert.“ Kalka, Joachim: „Die Welt, unendlich klein und furchtbar: Postkarten eines Lauschenden. Dem Schriftsteller Wilhelm Genazino zum Sechzigsten.“ In: FAZ, 22.1.2003.

[37] „Jetzt f hlte er sich wieder obenauf: der berlebenswille hielt das Heft in der Hand und hie alles gut, was Peschek plante.“ (FK 96)

[38] Oft gibt es zudem eine weitere Epiphanie, die dieser vorangeht und mit ihr in Zusammenhang steht. (Vgl. Kap. 3.5.8)

[39] „Und obgleich die Weite der Gro stadt sein Revier ist, bewegt er sich im Grunde in einem engen, einem beengten Raum: er schl gt sich durch; sein Innenraum setzt ihm ebenso enge Grenzen wie sein gesellschaftlicher Kontext“ Weppen, Wolfgang von der: Der Spazierg nger: Eine Gestalt, in der Welt sich vielf ltig bricht. T bingen: Attempto 1995, S. 102.

[40] Simmel, Georg: „Die Grosst dte und das Geistesleben.“ In: Die Gro stadt. Vortr ge und Aufs tze zur St dteausstellung. Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden, hrsg. von Th. Petermann, Bd. 9, 1903, S. 185-206) Internet: http://209.130.85.137/sim/sta03.htm (S. 1)

[41] „Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbst ndigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die berm chte der Gesellschaft (...) zu bewahren die letzterreichte Umgestaltung des Kampfes mit der Natur, den der primitive Mensch um seine leibliche Existenz zu f hren hat.“ (Ebd.) Auch die Aussage: „Einfache, b uerliche Menschen machen das, was ansteht, sie leisten sich nicht diese st dtischen Verschiebungen.“ in FK (56) greift diese Thematik auf.

[42] Vgl. LSF (72): „Jetzt wächst in mir wieder dieses unannehmbare Gef hl, dass sich die Welt heimlich in ein gro es Heim verwandelt hat. Wir alle, ob wir es wissen oder nicht, sind Heimbewohner geworden. Wir können hingehen, wo wir wollen, wir sind immer im Heim. Das Heimgef hl wird so zudringlich, dass ich, obwohl ich wei , dass es kein Entrinnen gibt, wenigstens meinen Standort wechseln muss.“

[43] Welzig, Werner: Der deutsche Roman im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Kr ner 1970, S. 115.

[44] Weppen, Wolfgang von der: Der Spazierg nger: Eine Gestalt, in der Welt sich vielf ltig bricht. T bingen: Attempto 1995, S. 102.

[45] Ebd., S. 100.

[46] „Der Spazierg nger, dessen Inneres keinen Halt mehr findet, geht st ndig und best ndig, um sich vom inneren D mon zu befreien.“ Ebd., S. 40.

[47] z.B.: „für Sekunden glaubte Wolf, Teile seiner selbst seien ihm abhanden gekommen.“ (FK 53)

[48] „Das einzige, was mir immer noch hilft, ist der Schmerznachlass, den mir das haltlose Umherschauen gew hrt.“ (LSF 87)

[49] „ein bunter, gl nzender Abfall, von dem Peschek jahrelang weitgehend problemlos gelebt hatte.“ (FK 30)

[50] „Peschek hatte keine Lust, in fremde K mpfe hineinzugeraten. Er wollte rasch aus dem Stadtkern herauskommen. Das dr hnende, niedrige Umherflattern der Hubschrauber machte aus allen Menschen Verfolgte.“ (FK 67), „Der Anblick der U-Bahn-Penner hatte ihn an den Kampfcharakter des Lebens erinnert.“ (FK 146)

[51] „Peschek wollte nur durch die Beobachtung von versteckten Vorg ngen an seine eigene Verstecktheit erinnert werden. Und wer sich, wie Peschek in diesen Augenblicken, seiner Verborgenheit inne wurde, sp rte die Freiheit wie ein sch nes kleines Ding, das ihm angenehm durch den K rper rann.“ (FK 174), „Peschek sch tzte es, irgendwo zu sein, wo ihn niemand suchte.“ (FK 117)

Ende der Leseprobe aus 104 Seiten

Details

Titel
Die Poetik des genauen Blicks im Werk Wilhelm Genazinos
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Philologische, Philosophische und Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaftliche Fakultät)
Note
2.0
Autor
Jahr
2005
Seiten
104
Katalognummer
V447037
ISBN (eBook)
9783668833692
ISBN (Buch)
9783668833708
Sprache
Deutsch
Schlagworte
poetik, blicks, werk, wilhelm, genazinos
Arbeit zitieren
Sara Schumann (Autor:in), 2005, Die Poetik des genauen Blicks im Werk Wilhelm Genazinos, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/447037

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