I. Einleitung
Als die „Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“1 im November 2003 ihre Arbeit aufnahm, wurde von vielen ein „Zeitfenster für Reformen“2 oder auch „window of oppoturnity“3 gesehen. In diesem Zeitfenster schienen die wesentlichen Akteure angesichts eines größer werdenden Problemdrucks ausreichend kompromissbereit. Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber sprach sogar von der „Mutter aller Reformen“, und wollte so nicht nur die Dringlichkeit einer Föderalismusreform unterstreichen, sondern auch ihre Bedeutung für die generelle Reformfähigkeit der Bundesrepublik. So bezeichnete auch Hans-Olaf Henkel das Vorhaben als „Reform der Reformfähigkeit“ und konnte damit auch einflussreiche Ministerpräsidenten, wie Peer Steinbrück und Erwin Teufel auf seiner Seite wissen.
Die Chancen, die Bundesstaatskommission einen Erfolg werden zu lassen, schienen zu Anfang also gar nicht so schlecht. Zumal ein weiterer Faktor hinzugerechnet werden muss: Die Ziele der Kommissionsarbeit klangen zwar sehr umfassend, von der konkreten Tagesordnung wurden die wesentlichen – und strittigsten – Themen einfach ausgeklammert: Bundesfinanzausgleich und Neugliederung des Bundesgebiets.
Erste kritische Worte konnte man bereits zum Anfang der Beratungen vernehmen. Die Bereitschaft, diese Worte auch ernsthaft wahrzunehmen war freilich sehr gering ausgeprägt. In den einleitenden Worten seiner Stellungnahme für die Kommissionssitzung am 12. Dezember 2003 zeigte der Sachverständige Hans Meyer das Grundproblem auf. Er konstatierte zwar bei Politikern, den Ministerien und auch in der Wissenschaft die generelle Übereinstimmung in der Diagnose, und auch die Auswahl „von mehr oder auch etwas weniger Erfolg versprechenden Medikamenten“4 sei meist kein Problem - vor der Einnahme der bitteren Pille allerdings scheuten die Akteure oft genug zurück und begnügten sich mit einem „Mittel in homöopathischen Dosen oder gar einem Placebo.“5 [...]
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Theoretische Grundlagen der Föderalismusdiskussion
1. Rechtfertigung des deutschen Föderalismus
2. Entwicklungsdynamik föderalistischer Systeme
a. Faktoren der (De-)Zentralisierung
b. Politikverflechtung und kooperativer Föderalismus
c. Die Theorie des dynamischen Föderalismus
III. Die bundesstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland
1. Verfassungsrechtliche Grundlagen
2. Funktionsweise und Strukturen
a. Gesetzgebungskompetenzen
b. Finanzordnung
c. Mitwirkungsrechte des Bundesrates
3. Die Unitarisierung des deutschen Föderalismus
a. Die Unitarisierungstendenzen bis 1969
b. Die Große Finanzreform 1969 und die Intensivierung der Kooperation
IV. Die bundesstaatliche Ordnung in der Reformdiskussion
1. Der Einsetzungsbeschluss der Bundesstaatskommission als Defizitanalyse
a. Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit und die Effizienz staatlichen Handelns
b. Transparenz und Zuordnung politischer Verantwortung
2. Die Position der politischen Akteure
a. Die Position des Bundes
(1) Gesetzgebungskompetenzen
(2) Finanzordnung
b. Die Position der Länder
(1) Gesetzgebungskompetenzen
(2) Finanzordnung
3. Beiträge der Sachverständigen
a. Gesetzgebungskompetenzen
(1) Vorschläge zur Gestaltung der konkurrierenden Gesetzgebung und einer Aufteilung der Gesetzgebungsmaterien
(2) Die Idee einer Auffanggesetzgebung mit Zugriffsrecht der Länder
(3) Experimentier- und Öffnungsklauseln
(4) Rahmen- und Grundsatzgesetzgebung
b. Beteiligung des Bundesrates an der Gesetzgebung des Bundes
(1) Zustimmungsgesetze und zustimmungspflichtige Verordnungen
(2) Abstimmungsmodus im Bundesrat
c. Finanzordnung
(1) Steuerautonomie der Gebietskörperschaften
(2) Mitfinanzierung von Landesaufgaben durch den Bund
(3) Kostenfolgen von Bundesgesetzen
4. Zusammenfassung und Kategorisierung der Reformvorschläge
a. Wettbewerbsorientierte Positionen
b. Positionen der Flexibilisierung
V. Die (Teil-)Ergebnisse der Bundesstaatskommmission: Möglichkeiten und Grenzen einer Reform des deutschen Bundesstaats
1. Die Konsenspositionen
a. Mitwirkungsrechte des Bundesrates
b. Gesetzgebungskompetenzen
c. Finanzordnung
2. Einordnung und Interpretation der Ergebnisse
VI. Fazit
VII. Literatur- und Quellenverzeichnis
I. Einleitung
Als die „Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“[1] im November 2003 ihre Arbeit aufnahm, wurde von vielen ein „Zeitfenster für Reformen“[2] oder auch „window of oppoturnity“[3] gesehen. In diesem Zeitfenster schienen die wesentlichen Akteure angesichts eines größer werdenden Problemdrucks ausreichend kompromissbereit. Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber sprach sogar von der „Mutter aller Reformen“, und wollte so nicht nur die Dringlichkeit einer Föderalismusreform unterstreichen, sondern auch ihre Bedeutung für die generelle Reformfähigkeit der Bundesrepublik. So bezeichnete auch Hans-Olaf Henkel das Vorhaben als „Reform der Reformfähigkeit“ und konnte damit auch einflussreiche Ministerpräsidenten, wie Peer Steinbrück und Erwin Teufel auf seiner Seite wissen.
Die Chancen, die Bundesstaatskommission einen Erfolg werden zu lassen, schienen zu Anfang also gar nicht so schlecht. Zumal ein weiterer Faktor hinzugerechnet werden muss: Die Ziele der Kommissionsarbeit klangen zwar sehr umfassend, von der konkreten Tagesordnung wurden die wesentlichen – und strittigsten – Themen einfach ausgeklammert: Bundesfinanzausgleich und Neugliederung des Bundesgebiets.
Erste kritische Worte konnte man bereits zum Anfang der Beratungen vernehmen. Die Bereitschaft, diese Worte auch ernsthaft wahrzunehmen war freilich sehr gering ausgeprägt. In den einleitenden Worten seiner Stellungnahme für die Kommissionssitzung am 12. Dezember 2003 zeigte der Sachverständige Hans Meyer das Grundproblem auf. Er konstatierte zwar bei Politikern, den Ministerien und auch in der Wissenschaft die generelle Übereinstimmung in der Diagnose, und auch die Auswahl „von mehr oder auch etwas weniger erfolgversprechenden Medikamenten“[4] sei meist kein Problem - vor der Einnahme der bitteren Pille allerdings scheuten die Akteure oft genug zurück und begnügten sich mit einem „Mittel in homöopathischen Dosen oder gar einem Placebo.“[5]
Dass selbst diese relativ pessimistische Sicht von der Wirklichkeit noch übertroffen werden sollte, hat dagegen keiner vorausgesehen. Die Erfolgsaussichten der Bundesstaatskommission schwankten während der 13-monatigen Beratungen teilweise sehr stark, was nach der Meinung einiger Beobachter an den wechselnden Aussichten der politischen Akteure auf Übernahme oder Beibehaltung der Regierungsmacht auf Bundesebene lag. Solange diese Aussichten noch wechselten, bestand zumindest die Hoffnung auf eine Einigung – und sei es im „homöopathischen“ Bereich. Auch nach dem Scheitern der Bundesstaatskommission am 17. Dezember 2004 bestand diese Hoffnung weiter, wurde doch „hinter den Kulissen“ weiter verhandelt, zumindest was die Fortsetzung der Bemühen um eine Föderalismusreform angeht.
Am dem 22. Mai 2005, dem Wahlsonntag in Nordrhein-Westfalen, hatten sich selbst diese mageren Aussichten erst einmal in Luft aufgelöst. Mit der Ankündigung des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering und des Bundeskanzlers Gerhard Schröder, für den Herbst 2005 Neuwahlen auf Bundesebene anzustreben, bestand für keine der beteiligten politischen Akteure mehr ein ausreichendes Interesse daran, eine Entflechtung der bundesstaatlichen Ebenen in Angriff zu nehmen. Es gab zu diesem Zeitpunkt kaum jemanden, der nicht von einem Wahlsieg der Union im Bund bei diesen Neuwahlen ausging.[6] Das Kalkül dabei war ganz einfach: Wenn diese Prognose gestimmt hätte, wären in Bundestag und Bundesrat über mindestens drei, vielleicht sogar vier Jahre kaum gefährdete gleichgerichtete unionsgeführte Mehrheiten vertreten gewesen. Genug Zeit also, um - ohne die Notwendigkeit einer informellen Großen Koalition - eigene Politiken umzusetzen, und wenig Gelegenheit, eine Bundesratsopposition fürchten zu müssen. Eventuell noch vorhandene „Konsensreserven“[7] wären unter diesen Umständen schnell aufgebraucht gewesen.
Für die im Moment mehrheitlich unionsregierten Bundesländer sieht die Lage ähnlich aus. Im Vorfeld dieser Wahlen ist die Bereitschaft für eine – die Länder stärkende – Föderalismusreform eher gering ausgeprägt, insbesondere da es für einige Ministerpräsidenten darum geht, ein Regierungsamt auf Bundesebene zu übernehmen und sich damit für diese Akteure auch die Perspektive auf der Konfliktebene `Bund vs. Länder` hin zum Bund verschiebt. Selbst bei denjenigen Unions-Ministerpräsidenten, die nicht auf einen Posten in Berlin spekulieren, dürfte die Vorfreude auf eine unionsgeführte Bundesregierung die Aussicht auf eine Stärkung der Länderautonomie überlagern. Schließlich wäre mit dem Ziel, die Zustimmungsrechte des Bundesrates zu beschneiden, auch der Verlust der bundespolitischen Bühne für die Landespolitiker verbunden – eine Aussicht, die vor allem denjenigen missfallen dürfte, die für die Richtung Berlin abwandernden Ministerpräsidenten nachrücken.
Auch für die SPD war die Aussicht auf eine Föderalismusreform, wie sie sich in den verschiedenen Vorschlägen abzeichnet und auch im Einsetzungsbeschluss von Bundestag und Bundesrat angedeutet wird, kaum dem Status quo vorzuziehen. Zwar sah sie sich im Fall eines Wahlsiegs der Union für die nächsten drei Jahren ohnehin nicht in der Lage, wichtige Reformvorhaben einer unionsgeführten Bundesregierung blockieren zu können, aber zumindest hätte sie diese Chance nicht auch langfristig verloren. Bei einer zukünftigen Reformpolitik, die angesichts einer mehr als angespannten Haushaltslage nichts mehr zu verteilen hat, sondern weitere Einschnitte für den einzelnen Bürger mit sich bringen wird, sind die Wahlen in den Bundesländern immer in der Gefahr, zu Abstimmungen über die Bundesregierung zu werden.[8] Die SPD hätte also zumindest wieder die Chance gehabt, über die Zurückeroberung der Bundesländer mehr Einfluss auf den Bundesrat und damit auf die Politik der Bundesregierung zu gewinnen. Würde aber der Einfluss des Bundesrates mit einer Föderalismusreform beschnitten, wäre es erheblich schwerer für die Bundesopposition gewesen, den Bundesrat als parteipolitisches Blockadeinstrument zu gebrauchen. Schlimmer wäre diese Konstellation für eine potentielle Opposition noch, wenn sich nach den drei, oder vier Jahren mit gleichgerichteten Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat erste Erfolge einer Reformpolitik eingestellt hätten. Eine Übernahme der Regierungsmacht im Bund wäre damit noch unwahrscheinlicher geworden und gleichzeitig wären die Einflussmöglichkeiten über den Bundesrat nicht mehr vorhanden gewesen.
Wie die Chancen einer Wiederaufnahme der Verhandlungen nach der Bundestagswahl am 18.September 2005 nun wirklich stehen, ist derzeit kaum abzusehen. Aber eines steht wohl fest: Sollten sich die Beteiligten noch mal zusammenraufen können, wird als erstes die Tagesordnung einer neuen Bundesstaatskommission überarbeitet werden müssen. Will man die Gelegenheit wirklich nutzen, müssen wesentlich anspruchsvollere und konkretere Ziele ins Auge gefasst werden, als dies beim ersten Versuch der Fall war. Selbst wenn mit einer Großen Koalition auf Bundesebene ein potentieller Reformblockierer entfallen sollte, bleibt abzuwarten, wie sich die Ministerpräsidenten verhalten werden.
Alles in allem also keine guten Voraussetzungen für einen weiteren Versuch, die bundesstaatliche Ordnung in Deutschland zu modernisieren. Das Scheitern der Bundesstaatskommission hat nicht nur gezeigt, wie schwierig es angesichts so vieler Variablen ist, überhaupt den Versuch einer Reform des deutschen Föderalismus in Angriff zu nehmen. Es eröffnet sich hier auch die Möglichkeit anhand einer vergleichenden Darstellung der verschiedenen Reformoptionen in Form der Positionen aus Politik und Wissenschaft und den Teilergebnissen der Bundesstaatskommission abzuschätzen, welche Reform überhaupt möglich gewesen wäre. Bevor man also das Scheitern der Bundesstaatskommission allzu laut beklagt, ist sinnvollerweise danach zu fragen, ob die Realisierung der zum Ende hin vorhandenen Konsenspositionen eine wirkliche Verbesserung der derzeitigen Lage erbracht hätten.
An Vorschlägen für eine modernisierte bundesstaatliche Ordnung mangelte es dabei nicht: Neben den Positionen des Bundes und der Länder gab es noch die Stellungnahmen und verschiedenen Beiträge der an der Bundesstaatskommission beratend teilnehmenden wissenschaftlichen Sachverständigen. Zudem gab es von allen möglichen anderen Seiten aus Politik und Gesellschaft mehr oder weniger weitreichende Vorschläge für eine Neugestaltung des Verhältnisses von Bund und Ländern. Die vielen Vorschläge lassen sich grob in das Spektrum zwischen der Befürwortung eines Wettbewerbsföderalismus, oder, wie er auch genannt wird, Gestaltungsföderalismus auf der einen Seite und der Befürwortung einer moderaten Anpassung des bisherigen System des kooperativen, oder auch solidarischen Föderalismus an die gewandelten Herausforderungen der Gegenwart auf der anderen Seite einordnen.
Anhand der Darstellung einer relevanten Auswahl aus diesem Pool an Reformvorschlägen ist zu erkennen, welche Reformoptionen den Akteuren zur Verfügung standen, und welche davon wiederum als Konsenspositionen ihren Weg in den Vorentwurf der beiden Vorsitzenden Müntefering und Stoiber fanden.
Wäre mit der Realisierung dieses Reformentwurfs das anspruchsvolle Ziel der Bundesstaatskommission erreicht worden? Wären also Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der bundesstaatlichen Ebenen, die Effizienz staatlichen Handelns verbessert und die Zuordnung politischer Verantwortung transparenter gestaltet worden? Oder wäre das Ergebnis eine bloße Scheinreform gewesen, welche die Tradition der Politikverflechtung in leicht modifizierter Form fortgeführt hätte?
Die Fragestellung fügt sich ein in die seit Jahrzehnten diskutierte Frage nach dem eigentlichen Charakter des deutschen Föderalismusmodells. Auch hier findet sich immer wieder die Konfrontation zwischen denen, die mit der herrschenden, seit den fünfziger Jahren immer wieder intensivierten Kooperation den Föderalismus selbst in Frage gestellt sehen, und denen, die in dieser Form des bundesstaatlichen Miteinanders den eigentlichen Grund für die erfolgreich bewiesene Fähigkeit zu sozialem Ausgleich, zu Integration und politisch-gesellschaftlicher Identifikation, mithin zu gesamtstaatlicher Solidarität sehen.[9]
Eine vergleichende Darstellung der Reformoptionen für den deutschen Föderalismus und des hierbei vorhandenen Potentials an Konsensfähigkeit kann in diesem größeren Zusammenhang zeigen, ob sich der deutsche Bundesstaat tatsächlich in der vielbeschworenen „Politikverflechtungsfalle“ befindet, oder sich der Föderalismus lediglich von seiner „dynamischen“ Seite zeigt, und die notwendigen Reformen mittels inkrementeller Anpassungsprozesse vollzieht.
Die Politikverflechtungstheorie einerseits und die Theorie des dynamischen Föderalismus andererseits bilden die beiden Pole eines Spektrums, in das die Reformvorschläge der an der Bundesstaatskommission beteiligten Akteure aus Politik und Wissenschaft eingeordnet werden sollen. Diese beiden hier herangezogenen und näher betrachteten Theorien knüpfen zwar beide an ökonomische Theorie des Föderalismus an, richten ihre Aufmerksamkeit aber in zwei unterschiedliche Richtungen. Die Autoren der Politikverflechtungstheorie, Scharpf, Schnabel und Reissert, sehen in der Organisation einer föderativen Ordnung die wesentliche Variabel für die Handlungsfähigkeit einer Regierung: Die in einem politischen System zu bearbeitenden Problemzusammenhänge sind zumeist interdependent. Um zu einer wirklich angemessenen Lösung des jeweiligen Problems zu kommen, müsste zunächst der gesamte übergreifende Problembereich analysiert werden, wobei der Zugriff auf das gesamte Wissen der spezialisierten Untereinheiten möglich sein muss; außerdem müsste die mit der Problemlösung beauftragte Einheit über alle möglichen Handlungsalternativen zugreifen können. Anhand dieser Vorgaben müsste nach der Vorstellung dieser Autoren eine föderative Ordnung die Handlungsfähigkeit einer Regierung institutionell absichern.
Arthur Benz und Joachim Jens Hesse haben mit ihrer Theorie des dynamische Föderalismus in den achtziger Jahren eine andere Interpretation des deutschen Föderalismus geliefert. Statt auf die institutionelle Handlungsfähigkeit einer Regierung im Föderalismus ging es den beiden Autoren vielmehr um die faktische Reaktionsfähigkeit des politischen Systems auf die sich ständig verändernden Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwelt. Und hier zeigt der deutsche Föderalismus Benz und Hesse zufolge sehr wohl, dass er angemessen flexibel und zielorientiert auf Veränderungen reagieren kann. Generelle Forderungen nach Entflechtung der bundesstaatlichen Ebenen und Dezentralisierung übersähen, dass es innerhalb des bestehenden Systems eines sehr verflochtenen deutschen Bundesstaates trotz fehlender Strukturreformen zu innovativen Problemlösungen gekommen sei.[10]
Neben der einschlägigen Fachliteratur zum Föderalismus im Allgemeinen und zu diesen beiden Theorien im Besonderen, werden zur Darstellung der Reformvorschläge im wesentlichen die Veröffentlichungen im Rahmen der Bundesstaatskommission verwendet. Hierzu zählen zum einen die Protokolle der einzelnen Kommissionssitzungen, sofern sie von der Bundesratsverwaltung veröffentlicht wurden, und zum anderen die Beiträge der Sachverständigen in der Kommission und die Positionspapiere der Beteiligten aus der Politik, sofern sie für das Ergebnis der Verhandlungen von entscheidender Bedeutung waren.[11]
In der vorliegenden Arbeit werden zunächst die theoretischen Grundlagen der Föderalismusdiskussion vorgestellt. Hier wird dargelegt, wie Föderalismus generell und der deutsche im Besonderen gerechtfertigt und begründet wird. Dabei werden zunächst die für die Kennzeichnung des deutschen Modells wesentlichen Föderalismustypen dargestellt, um im Anschluss die für die Entwicklungsdynamik dieser Typen maßgeblichen Faktoren vorzustellen. Zudem werden hier auch die der Einordnung der Reformvorschläge zugrunde liegenden Theorien – die Politikverflechtungstheorie und die Theorie des dynamischen Föderalismus – vorgestellt.
Anschließend werden im dritten Kapitel die Ausgestaltung der bundesstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gezeigt und diejenigen grundlegenden Prämissen vorgestellt, welche die konkrete Entwicklung des Föderalismus in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg beeinflussten und wie die politischen Akteure auf diese Vorbedingungen reagierten und den föderativen Prozess gestalteten.
An diese theoretische, institutionelle sowie historische Grundlegung schließt sich die inhaltliche Auseinadersetzung mit der im Rahmen der Bundesstaatskommission stattfindenden Föderalismusdiskussion an. Nach einer kurzen Darstellung der in der Bundesstaatskommission geteilten Defizitanalyse, werden die Positionen der politischen Akteure und die diesen Positionen zugrundeliegenden Konflikte zusammengefasst. Vor diesem Hintergrund werden die Beiträge der Sachverständigen vorgestellt und anschließend zusammen mit den von politischer Seite vorgebrachten Vorschlägen in die Kategorien „wettbewerbsorientiert“ und „flexibilisierend“ eingeordnet.
Dem wird das eigentliche Ergebnis der Bundesstaatskommission in Form der im Vorentwurf der beiden Vorsitzenden enthaltenen Konsenspositionen gegenübergestellt. Anhand eines Vergleichs mit den vorgestellten Reformoptionen der Akteure und unter Berücksichtigung weiterer Einflussfaktoren, wie z.B. den Vorbedingungen des Reformversuchs, werden die aufgrund des Scheiterns nur als Teilergebnis zu bezeichnende Konsenspositionen interpretiert.
II. Theoretische Grundlagen der Föderalismusdiskussion
1. Rechtfertigung des deutschen Föderalismus
Föderalismus ist die Bezeichnung für ein Organisationsprinzip, in dem sich grundsätzlich gleichberechtigte und eigenständige Glieder zu einer übergreifenden politischen Gesamtheit zusammengeschlossen haben.[12] In dieser „Vielheit in der Einheit“[13] stehen die einzelnen Glieder untereinander wie auch mit der politischen Gesamtheit in enger Verbindung. Die Voraussetzung eines solchen föderalen Zusammenschluss ist einerseits ein gewissen Maß an Homogenität der Glieder, sei es im Bereich bestimmter Interessen und Überzeugungen, oder aber einer gemeinsamen Geschichte, die sich beispielsweise in einer gemeinsamen Sprache niederschlägt. Andererseits müssen auch Unterschiede zwischen den Gliedern vorhanden sein, um etwaige einheitsstaatliche Tendenzen zu schwächen bzw. auszugleichen.[14]
Begründen und rechtfertigen kann man den Föderalismus in vielen unterschiedlichen Dimensionen. In der Vergangenheit wurde der Föderalismus oft historisch, ethnisch oder auch geographisch gerechtfertigt. Die heute gängigen Rechtfertigungen berufen sich dagegen meist auf demokratietheoretische Überlegungen.
Für die Rechtfertigung der bundesstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland spielen die ersten drei Dimensionen eine nur marginale bis überhaupt keine Rolle. Die Notwendigkeit eines föderalen Staatsaufbaus historisch zu rechtfertigen, kann dann gegeben sein, wenn sie ein Instrument zur Herstellung der nationalen politischen Einheit darstellt, wie dies beispielsweise bei der deutschen Reichsgründung 1871 der Fall war. Nur mit weiterhin erheblichen Gestaltungsspielraum der Gliedstaaten waren die Fürsten als auch die jeweiligen Bevölkerungen überhaupt bereit, sich in irgendeiner Form einem Zentralstaat zu unterwerfen. Da die 1949 errichteten Bundesländer, ausgenommen der Freistaat Bayern und die freien Hansestädte Bremen und Hamburg, nicht auf eine historische Existenz berufen konnten, scheidet diese Rechtfertigungsmöglichkeit für die Bundesrepublik weitgehend aus. Ebenso waren ethnische Unterschiede, die einen föderalen Staatsaufbau gerechtfertigt hätten, 1949 in nicht ausreichendem Maße vorhanden. Die Flüchtlingsbewegungen nach zwei Weltkriegen und die zunehmende Mobilität der Bevölkerung hatten etwaige „Stammesunterschiede“, wie sie eventuell 1871 noch vorhanden waren, weitgehend nivelliert.[15] Die geographische Rechtfertigung für eine föderale Ordnung - sprich: eine Zentralregierung wäre gar nicht in der Lage, alle Staatsgeschäfte sachgerecht auszuführen - greift für die Bundesrepublik nach 1949 wegen ihrer verhältnismäßig geringen Größe ebenfalls nicht.
Demokratietheoretische Ansätze dagegen stützen sich in ihrer Rechtfertigung des Föderalismus zumeist auf die Funktionen, die er in einem demokratischen Staat erfüllen soll.[16] Kriterien für die Qualität der Aufgabenerfüllung eines Staats- und Gemeinwesen sind hierbei Rationalität und Effektivität, Partizipationsmöglichkeiten, Minderheitenschutz und Integration heterogener Gesellschaften. Des weiteren soll Föderalismus den politischen Wettbewerb fördern. Diese Kriterien finden sich wieder in dem Prinzip der Subsidiarität. In der katholischen Soziallehre Papst Pius´ 1931 erstmals klassisch formuliert[17], besagt dieses Prinzip, dass eine jeweils größere Einheit nur dann tätig werden soll, wenn die entsprechend kleinere Einheit dem jeweiligen Problem nicht mehr gewachsen ist.
Zusammen mit diesem Prinzip ist das Prinzip der Gewaltenteilung das wohl gewichtigste Rechtfertigungsargument für den Föderalismus in Deutschland seit 1949. Die gewaltenteilende Funktion des Föderalismus liegt danach in der Ergänzung der in modernen Demokratien üblichen horizontalen Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative durch eine zusätzliche vertikale Gewaltenteilung zwischen der übergreifenden politischen Gesamtheit und den territorialen Subeinheiten im föderal organisierten Staat. Diese weitere Form der Gewaltenteilung variiert zwischen zwei Grundmodellen: dem interstaatlichen und dem intrastaatlichen Föderalismus. Während der interstaatliche Föderalismus stark von Trennung der bundesstaatlichen Ebenen und deren Konkurrenz geprägt ist, weist der intrastaatliche Föderalismus starke Kooperations- und Konsenselemente auf.
Für den interstaatlichen Föderalismus werden regelmäßig die USA als Beispiel angeführt. Schultze charakterisiert diesen Typ anhand folgender Merkmale:
- Dualismus der staatlichen Strukturelemente sowie Unabhängigkeit und Lebensfähigkeit beider politischer Systemebenen;
- Kompetenzverteilung nach Politikfeldern mit klaren verfassungsrechtlichen Zuordnungen;
- Falls Beteiligung der Gliedstaaten an der Bundespolitik, dann durch die Volkswahl der zweiten Kammer nach dem Senatsmodell[18]
Im Gegensatz dazu weist der intrastaatliche Typ, für den die Bundesrepublik als Beispiel genannt wird,
- eine funktionale Differenzierung nach Kompetenzarten, mit der Gesetzgebung beim Bund und den administrativen Aufgaben bei den Ländern und Gemeinden,
- eine starke intrastaatliche Beteiligung der Länder(exekutiven) an der Bundespolitik,
- und eine starke interstaatliche Kooperation unter den einzelnen Ländern, sowie der Länder mit dem Bund auf.[19]
Das interstaatliche Modell ist also durch den Grundsatz der Vielfalt der Lebensbedingungen, gesellschaftlich durch Pluralität und gewissen Disparitäten sowie territorial verfestigten kulturellen und/oder ökonomischen Konflikten und in politisch-institutioneller Hinsicht durch Gewalten- und Kompetenztrennung gekennzeichnet.
Das intrastaatliche Modell orientiert sich dagegen stark am Ziel der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, gesellschaftlich an weitgehender kultureller und wirtschaftlicher Homogenität und politisch-institutionell an zusätzlicher vertikaler Gewaltenverschränkung und einer funktionalen Aufgabenteilung.[20]
Die föderative Ordnung der Bundesrepublik Deutschland entspricht damit weitgehend dem intrastaatlichen Föderalismusmodell
2. Entwicklungsdynamik föderalistischer Systeme
Die beiden Idealtypen des intra- und des interstaatlichen Föderalismus bilden jeweils die Pole eines Spektrums, anhand dessen wiederum auch die Entwicklungsdynamik föderalistischer Systeme dargestellt werden kann. So führen unterschiedlich stark ausgeprägte politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen zu entweder zentrifugal wirkenden Zielvorstellungen, die vom Typ eines konföderalen Bundesstaates hin zum Staatenbund variieren, oder zu zentripetalen Zielvorstellungen, die über den unitarischen Bundesstaat hin zum dezentralen Einheitsstaat führen.[21]
Die für die Entwicklungsdynamik des deutschen Föderalismus relevanten Rahmenbedingungen sind die bundesstaatliche Kompetenzverteilung, das Verhältnis von Homogenität und Heterogenität, das Parteiensystem und die Mitwirkung der Gliedstaaten an der politischen Willensbildung des Bundes. Diese Faktoren der Zentralisierung bzw. Dezentralisierung können im Fall des intrastaatlichen Föderalismus durch eine „Tendenz zu einer die institutionelle Differenzierung wieder überbrückenden prozessualen und inhaltlichen Politikverflechtung“ allerdings wieder überlagert werden.[22]
a. Faktoren der (De-)Zentralisierung
Von besonderer Bedeutung für die Richtung der Entwicklungsdynamik eines föderalistischen Systems ist die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Gliedstaaten. Analog zu den bereits benannten Modellen des inter- und intrastaatlichen Föderalismus können auch hier zwei Idealtypen unterschieden werden: das Trennsystem und das Interdependenzsystem. Beim Trennsystem sind Gesetzgebung und Gesetzesvollzug im Bereich einer jeweils bestimmten Materie bei einer bundesstaatlichen Ebene angesiedelt. Typische Beispiele sind vor allem die USA und andere angloamerikanische Bundesstaaten. Das Interdependenzsystem dagegen zeichnet sich durch eine Konzentration der Gesetzgebung beim Bund aus, wobei die Gliedstaaten den Gesetzesvollzug übernehmen. Hier ist wiederum die Bundesrepublik Deutschland ein typisches Beispiel.[23]
Die Bundesrepublik wie auch die USA als Beispiele weisen allerdings auch verschiedene Mischformen auf, die bei gleichzeitiger Reservierung bestimmter Aufgaben ein unterschiedlich hohes Maß an Zusammenarbeit der verschiedenen bundesstaatlichen Ebenen aufweisen. Reine Trennsysteme oder reine Interdependenzsysteme sind in der Praxis nicht anzutreffen.
Ebenfalls im Spannungsfeld zwischen zentrifugalen und zentripetalen Zielsetzungen und Kräften liegt das richtige Verhältnis von Homogenität und Heterogenität. Für die Wahrung des bundesstaatlichen Gleichgewichts stellen Unterschiede in der territorialen Größe der Gliedstaaten, ihrer Wirtschafts- und Finanzkraft, in ihren administrativen Möglichkeiten und nicht zuletzt in der Zusammensetzung der Bevölkerung wichtige Variablen dar. Diese Unterschiede können sowohl zentralisierend als auch dezentralisierend bzw. sogar auflösend wirken. So kann es zu übermäßig starken Hegemonien einzelner Gliedstaaten kommen, was unter Umständen Sezessionsbewegungen auslösen kann, oder es treten Zentralisierungstendenzen auf, wenn kleinere und schwächere Gliedstaaten gegenüber größeren und stärkeren Gliedstaaten nicht konkurrenzfähig sind und daher vom Bund unterstützt werden müssen.
Des weiteren steht die Art des Parteiensystems mit der Entwicklungsdynamik im Föderalismus in einem Wechselwirkungsverhältnis.[24] Für die Entwicklung des Föderalismus ist der politische Prozess von entscheidender Bedeutung, und dieser Prozess wird in fast allen Bereichen von den politischen Parteien dominiert. Einerseits vom Föderalismus und der jeweiligen politischen Kultur in ihrem organisatorischen Aufbau ursprünglich beeinflusst, wirkt sich dieser mehr oder minder föderale Aufbau der Parteien bzw. des Parteiensystems andererseits wieder auf die Entwicklung des Föderalismus selbst aus.
Man kann auch hier wieder idealtypisch zwischen zwei Modellen unterscheiden: dem integrierten und dem dualistischen Parteiensystem. Integrierte Parteiensysteme zeichnen sich durch Homogenität der Parteistrukturen sowohl auf Bundes- als auch auf regionaler Ebene aus. Sie bilden sich mehrheitlich in etatistischen und konfliktfeindlichen politischen Kulturen heraus, die sich überdies durch große gesellschaftliche Homogenität auszeichnen. Ein dualistisches Parteiensystem dagegen findet sich in Gesellschaften mit territorial überlagerten Konfliktlinien, die Bundesparteien und den Parteien in den Gliedstaaten ein eigenständiges Profil geben und damit unabhängig von einander existieren und auch unterschiedliche Interessen vertreten können. Der Einfluss des Parteiensystems auf die Entwicklungsdynamik des Föderalismus ist dabei immer auch im Verhältnis zum parlamentarischen System und der Ausprägung des Bundesstaates selbst zu beurteilen. So fügen sich die Parteiensysteme und ihre Konfliktlösungsmuster zwar generell ins parlamentarische System der Parteienkonkurrenz, und dies vor allem bei Wahlen, genauso prägen sie aber auch den politischen Prozess im intrastaatlichen Föderalismus, der sich vor allem durch Kooperation auszeichnet. Das weitgehend integrierte Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland - sieht man von einer gewissen Ausdifferenzierung auf kommunaler Ebene ab - ist danach ein weiterer Homogenitätsfaktor, der zentralisierende Tendenzen eher stärkt als schwächt.[25]
Mit diesem Punkt eng verbunden ist die Frage Mitwirkung der Gliedstaaten an der politischen Willensbildung des Bundes, die ebenfalls großen Einfluss auf zentripetale und zentrifugale Tendenzen im Bundesstaat hat; denn es stellt sich auch hier die Frage des Ausgleichs bestimmter Unterschiede bei Bevölkerungszahl, territorialer Größe oder auch finanzielle, wirtschaftliche und administrative Möglichkeiten bei der Stimmenverteilung in der Zweiten Kammer. Die Mitwirkung selbst lässt sich in zweierlei Art organisieren: durch das Senatsprinzip oder aber durch das Bundesratsprinzip, wie dies in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist. Beim Senatsprinzip werden die Mitglieder der Zweiten Kammer vom Volk direkt oder von den Parlamenten der Gliedstaaten gewählt. Eine Vertretung spezifisch gliedstaatlicher Interessen kommt hierbei nur bedingt zustande, wohingegen das deutsche Modell des Bundesrats, das seine Herkunft im monarchischen Bundesstaat bismarckscher Prägung hat, den Landesregierungen prinzipiell größere Möglichkeiten für die Vertretung von Länderinteressen an die Hand gibt. Allerdings wirkt sich hier das oben geschilderte integrierte Parteiensystem hemmend aus. Ein oft vorgebrachter Kritikpunkt ist der zu starke Einfluss der Parteizugehörigkeit auf das Abstimmungsverhalten im Bundesrat, bzw. eine starke Orientierung am Konsenualismus im Vorfeld der Entscheidungsverfahren, der - so der Vorwurf – oft probleminadäquate Kompromisslösungen hervorbringt.[26] Bestimmte Gesetzesinitiativen des Bundestages würden danach oft schon an einer hypothetischen Ablehnung im Bundesrat scheitern, oder entsprechend kompromisstauglich vorformuliert.[27]
Eine weitere wichtige Einflussgröße für die Fortentwicklung eines föderativen Systems findet sich in der Verfassungsgerichtsbarkeit. Zwei gegensätzlich wirkende Kräfte haben in Bundesstaaten zu einer gesteigerten Bedeutung gerichtlicher Entscheidung föderaler Streitigkeiten geführt: ein zunehmend komplexer werdendes Handlungsumfeld für die Politik und die daraus resultierende Notwendigkeit der Klärung von Kompetenzfragen auf der einen Seite, und auf der anderen Seite eine beschränkte Möglichkeit der Verfassungsänderung. Zumeist ist ein Verfahren dafür vorgesehen, das die Beteiligung derjenigen Akteure vorschreibt, die über eben jene Fragen uneins sind - und das alles unter Einhaltung bestimmter Quoren für eine verfassungsändernde Mehrheit. Unter diesen Voraussetzungen können Entscheidungen der Verfassungsgerichte den Status einer Interpretation der Verfassung schnell verlassen und zu einer die Entwicklungsdynamik wesentlich prägende Fortentwicklung der Verfassung führen.
b. Politikverflechtung und kooperativer Föderalismus
Die oben genannten Faktoren werden im deutschen Föderalismus des intrastaatlichen Typs von einer vertikalen wie horizontalen Politikverflechtung begleitet und teilweise überlagert. Die Politikverflechtungstheorie sieht hierin ein Entscheidungsmuster, das die Beteiligten in Rationalitätsfallen verstrickt.[28] Allein durch die Wahrnehmung ihres Eigeninteresses, schaden sie häufig dem Wohl der übergreifenden Gemeinschaft und so gleichzeitig auch sich selbst. Einen Ausweg aus dieser Rationalitätsfalle gibt es nicht. Nach den Autoren dieser Theorie hat die Bundesrepublik Deutschland ein politisches System, „dessen Handlungspotential zugleich strukturell stärker fragmentiert und prozessual stärker verflochten ist als in vergleichbaren anderen Systemen“.[29] Es kommt danach zu einer Aufsplitterung der Kompetenzen und Aufmerksamkeitsbereiche, die sich im politisch-administrativen System sowohl horizontal als auch vertikal manifestiert. Die Gründe hierfür sind eine überaus starke Ausprägung des Ressortprinzips in der Regierungsorganisation als auch die vorwiegend nach Kompetenzarten geregelte Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden.
Zwar hat diese Fragmentierung den Vorteil einer möglichen Konzentration von Aufmerksamkeit auf vorhandene Probleme und der sich daraus ergebenden Chance auf adäquate Problemlösung; allerdings besteht darin auch der wesentliche Nachteil. Diese Konzentration der Aufmerksamkeit wird sich in der Regel auf diejenigen Ausschnitte des Gesamtproblems richten, die sich innerhalb der Zuständigkeitsgrenzen einer organisatorischen Untereinheit verorten lassen. Diese Zuständigkeitsgrenzen wirken dabei nicht nur hinsichtlich der Wahrnehmung komplexer gesellschaftlicher Probleme hemmend, sondern auch hinsichtlich der jeweiligen Handlungsmöglichkeiten. Werden dennoch interdependente Probleme von einer bundesstaatlichen Einheit bearbeitet, neigt diese in der Regel dazu, die Auswirkungen ihrer Problemlösung auf andere Bereiche des Gesamtsystems als externe Kosten zu vernachlässigen.[30]
Die Bearbeitung übergreifender Probleme durch dezentrale Entscheidungsmuster können aber nach Scharpfs Ansicht nicht durch Zentralisierung gelöst werden. Statt die Qualität von Entscheidungen zu verbessern, schmälert sie entweder deren Informationsbasis, oder würde eine bloße Scheinzentralisierung darstellen.[31] Im Politik- und Verwaltungshandeln herrscht Scharpf zufolge eine negative Koordination vor: Initiativen zu Problemlösungen gingen danach von einer spezialisierten Subeinheit des bundesstaatlichen Systems aus und blieben folglich auf deren Aufmerksamkeits- und Handlungsraum beschränkt. Diese Initiativen wiederum würden von anderen Subeinheiten nur noch auf negative Auswirkungen für den eigenen Bereich und für das institutionelle Eigeninteresse überprüft. Da auf diese Weise das Innovationsniveau immer weiter herunter geschraubt wird, entwickle das System eine Tendenz zum Inkrementalismus. Die für adäquate Lösungen notwendige positive Koordination dagegen müsste den gesamten übergreifenden Problembereich anhand des gesamten Wissens der spezialisierten Subeinheiten zunächst analysieren, und auch über alle Handlungsalternativen für das entsprechende Problem verfügen können. Die Folgeprobleme der negativen Koordination hingegen könnten sich insbesondere im kooperativen Föderalismus deutscher Prägung manifestieren, da sich hier noch zusätzlich das institutionelle Eigeninteresse der Mitgliederregierungen auswirke. Die Landesregierungen haben danach ein starkes Interesse daran, über die Entscheidungsbeteiligung im Bundesrat für „die Erhaltung und Erweiterung ihres Bestandes an Ressourcen und Kompetenzen“ zu sorgen. Dadurch, dass Entscheidungen des Bundes von der Zustimmung der Landesregierungen abhängig sind, und „diese Zustimmung einstimmig oder fast einstimmig erteilt werden muss“, fehle dem Bund der Vertrauensvorschuss, mit dem sich auf politische Forderungen kreativ reagieren lässt.[32]
Nach der Politikverflechtungstheorie können die Nachteile der dezentralen Problembearbeitung aber nicht durch diese nachträgliche institutionalisierte Kooperation überbrückt werden. Vielmehr würde das Gesamtsystem, um überhaupt funktionsfähig zu bleiben, auf seine wirksamsten Steuerungsinstrumente verzichten. Mit einer solchen Verflechtung betrieben die Regierungen eine Art der kollektiven Selbstentmachtung, aus der es obendrein kein Entrinnen gäbe, da sie bürokratische und politische Interessen befriedige.
Es werden zwei Formen der Verflechtung unterschieden. Einmal die durch die Verfassung normierte Verflechtung, welche die Mitwirkung der Länder an der Bundesgesetzgebung und der Einnahmepolitik des Bundes bestimmt, während der Bund im wesentlichen den Bestand und den Inhalt der Verwaltungsaufgaben und den finanziellen Handlungsrahmen der Länder und Gemeinden bestimmt.[33] Zum anderen die Fälle von Verflechtung, die erst mit der Finanzverfassungsreform von 1969 geschaffen wurden: Die Gemeinschaftsaufgaben gemäß Art. 91a und 91b und die Finanzhilfen des Bundes gemäß Art. 104a Abs. 4 GG.
Beide Formen bezeichnen auch gleichzeitig die in der Bundesstaatskommission diskutierten Reformfelder.
c. Die Theorie des dynamischen Föderalismus
Hinsichtlich der Fähigkeit des föderativen Systems der Bundesrepublik Deutschland zur institutionellen Reform und zur adäquaten Problemlösung kommt die Theorie des dynamischen Föderalismus zu einem ganz anderen Befund als die Politikverflechtungstheorie. Statt von einer idealtypischen Vorstellung über die föderative Ordnung der Bundesrepublik auszugehen, legt diese Theorie den Fokus auf die Prozesse, die sich auf der Basis der föderativen Strukturen abspielen.
Nach Arthur Benz kommt es in organisatorischen Systemen eines Staates immer wieder zu internen Krisensituationen, die sich aus Spannungen und Widersprüchen entwickeln. Diese internen Krisen zeigten die „Unvereinbarkeit von bestehenden Strukturen einerseits sowie von Handlungsanforderungen und Handlungsintentionen“ der beteiligten Akteure andererseits an. Dies führe zur „Problematisierung des organisatorischen Paradigmas“, womit die Normen und Rollen im System, die kollektiven Ziele und das Aufgabenverständnis der Organisation gemeint sind. Zur Beseitigung der Krise käme es zu einem Änderungsprozess, in dem die fehlerhaften Strukturen angepasst werden und somit ein neues Gleichgewicht hergestellt wird.[34]
Nach Benz haben alle drei zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Problembearbeitung – zentrale, dezentrale und politikverflochtene – Nachteile, weshalb auch der für eine adäquate Problembearbeitung notwendige Grad an Zentralisierung bzw. Dezentralisierung nicht abstrakt bestimmt werden könne. Stattdessen müssten die jeweiligen Bedingungen in den zu bearbeiteten Politikbereichen, den hierbei ablaufenden Prozessen und den darin zum Ausdruck kommenden Problemwahrnehmungen in die Bestimmung des notwendigen Zentralisierungsgrades einfließen. Ausgehend von seiner These, dass es mehr auf die Ideen und die Lernfähigkeit der beteiligten Akteure ankäme, als auf die vorhandenen Strukturen in denen sie sich bewegen, sei für die Problemlösung nicht die Optimierung der Strukturen entscheidend, sondern vielmehr die Reaktions- und Lernfähigkeit des föderativen Staates.[35]
Benz kommt zusammen mit Jens Joachim Hesse in einem Vergleich der Modernisierungsfähigkeit von unitarischen und föderativen Staaten zu dem Ergebnis, dass Reformen in ersteren leichter durchzusetzen sind als in letzteren, und dass diese Schwierigkeit in stark verflochtenen Bundesstaaten noch ausgeprägter sei. Die Ergebnisse und Folgen der Modernisierungen in den leichter zu reformierenden Staaten seien allerdings eher ernüchternd, stellen sie fest. Dagegen wäre es in der Bundesrepublik ohne diese Strukturreformen zu Anpassungen der Staatsorganisation an die neuen Herausforderungen einer sich verändernden Industriegesellschaft gekommen, die sich weitaus günstiger auswirkten und weniger negative Folgen zeitigten.[36]
Im Ergebnis müsse man feststellen, dass die Akteure in Bund, Ländern und Gemeinden trotz der intensiven Verflechtung in verschiedenen Lernprozessen zu innovativen Problemlösungen gefunden haben. Die von Scharpf, Reissert und Schnabel beschriebenen konfliktminimierenden Muster kämen zwar auch hier zum tragen, nur führten sie nicht zur potentiellen Blockade, sondern zu einem inkrementellen Wandel des Systems, der durchaus das Potential zu angemessenen Reformen hätte und ausreichend Problemlösungskapazität besäße.
So hängt nach Ansicht der Autoren dieser Theorie die Zukunftsfähigkeit der westlichen Industriegesellschaften im Wesentlichen von ihrer Fähigkeit ab, sich den ständig verändernden Rahmenbedingungen anzupassen. Statt also „inhaltliche Politik durch organisatorische Vorkehrungen möglichst umfassend und optimal determinieren zu wollen“, ginge es darum, die schon vorhandenen Flexibilitäten zu stärken und so die institutionelle Anpassungs-, Reaktions- und Lernfähigkeit des Systems zu steigern.[37]
III. Die bundesstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland
Der Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes legt fest, dass die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat ist. Diese grundgesetzliche Festlegung auf die Bundesstaatlichkeit als Gliederungsprinzip des Föderalismus in Deutschland erfährt seine weitere Ausgestaltung durch eine Vielzahl von weiteren Grundgesetzartikeln und zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Verfassung.
1. Verfassungsrechtliche Grundlagen
Die wohl wichtigste Bestimmung für die bundesstaatliche Ordnung in Deutschland ist in Art.79 Abs. 3 GG normiert:
„Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“
Diese Bestands – oder auch Unantastbarkeitsgarantie findet sich in keiner anderen demokratischen Verfassung der Neuzeit.[38] Selbst eine sonst verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit des Bundestages und Bundesrates wäre somit nicht in der Lage, die föderative Organisation der Bundesrepublik abzuschaffen.[39] Wichtig ist die Frage nach der Unantastbarkeit der Bundesstaatlichkeit insbesondere bei der Grenzziehung zwischen den veränderbaren und nichtveränderbaren Elementen der bundesstaatlichen Ordnung, die sich letztlich entscheidend auf die Möglichkeiten etwaiger Reformversuche auswirkt.
Zwingend ist zunächst, dass die Bundesrepublik aus dem Bund als dem Zentralstaat und den Ländern als dessen Gliedstaaten besteht. Ist die Existenz von Ländern noch absolut geschützt, so erstreckt sich die Unantastbarkeitsgarantie nicht auf konkrete Länder oder deren Gestalt. So können im Wege des Art. 29 GG oder auf andere verfassungsmäßige Weise nicht nur Ländergrenzen geändert, sondern auch Länder aufgelöst oder mit anderen vereinigt werden.
Ein weiteres Merkmal der Länder ist deren Staatsqualität. Anders als die Gemeinden, Kreise oder Bezirke sind sie nicht bloß Selbstverwaltungskörperschaften, sondern besitzen eigene staatliche, wenngleich beschränkte, Hoheitsmacht. Diese leitet sich nicht vom Zentralstaat ab, sondern wird von diesem nur anerkannt. So verfügt auch keine der beiden bundesstaatlichen Ebenen über die alleinige Befugnis, die Kompetenzen der jeweils anderen Ebene zu beschneiden. Vielmehr sind für Grundgesetzänderungen Zweidrittelmehrheiten im Bundestag und Bundesrat notwendig. Anders als bloße Vollzugs- oder Ausführungsorgane des Zentralstaates, haben die Länder bestimmte eigene Herrschaftsbereiche, was wiederum den Bund in seiner staatlichen Souveränität einschränkt. Voraussetzung für die wirksame Herrschaftsausübung der Gliedstaaten sind eigene exekutive, legislative und judikative Institutionen, deren Amtsträger über jeweils eigene, vom Bund nicht beschränkte und nicht beschränkbare Entscheidungskompetenzen verfügen.[40]
Zu dieser Form der Autonomie gehört vor allem die finanzielle Selbstständigkeit von Bund und Länder. Sichergestellt wird dies über die jeweils eigenen Steuerbefugnisse, nach denen Bund und Länder selbstständig Steuern finden und erheben können, die eingenommenen Steuern selbst verwalten und über deren Verwendung entscheiden.[41]
Die Unantastbarkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG umfasst des weiteren die grundsätzliche Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung. Zum einen folgt hieraus, dass die Länder über ein Mindestmaß an eigener Gesetzgebungskompetenz verfügen müssen. Zum anderen sind hiernach die Länder auch an der Gesetzgebung des Bundes zu beteiligen, d.h. die bundesstaatliche Verfassungsordnung muss ein Initiativrecht der Länder, die wirksame Einflussnahme auf die Gesetzgebung von Bundesregierung und Bundestag und die Möglichkeit eines Vetos gegenüber Gesetzesbeschlüsse des Bundestages vorsehen.
2. Funktionsweise und Strukturen
Wie die oben genannten grundlegenden Verfassungsprinzipien im einzelnen ausgestaltet werden, ist weniger streng normiert und unterliegt der grundsätzlichen Möglichkeit einer Veränderung durch entsprechende Zwei-Drittel-Mehrheiten von Bundestag sowie Bundesrat. Hier finden sich auch diejenigen Bereiche der bundesstaatlichen Ordnung, die derzeit Gegenstand der Reformdiskussion sind. Sie sollen daher nachfolgend in ihren Strukturen und Funktionsweisen dargestellt werden.
a. Gesetzgebungskompetenzen
Der Art. 70 Abs. 1 GG weist als Konkretisierung des Art. 30 GG den Ländern das Recht der Gesetzgebung zu, „soweit dieses Grundgesetz nicht dem Bunde Gesetzgebungsbefugnisse verleiht“, was es allerdings in recht vielen Fällen tut. Die Gesetzgebungskompetenzen werden durch das Grundgesetz in ausschließliche und konkurrierende Gesetzgebung eingeteilt. Hinzu kommt noch die Kompetenz des Bundes zur Rahmengesetzgebung nach Art. 75 GG.
Im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebung besitzen die Länder nach Art. 71 GG „die Befugnis zur Gesetzgebung nur, wenn und soweit sie hierzu in einem Bundesgesetze ausdrücklich ermächtigt werden“. Diese Ermächtigung wiederum darf sich dabei nur auf Teilgebiete der jeweiligen Materie beziehen, und wurde vom Bund auch nur äußerst selten erteilt, womit die in Art. 73 GG aufgezählten Bereiche den Ländern im wesentlichen vorenthalten sind. Es fallen vor allem solche Bereiche in die ausschließliche Zuständigkeit des Bundes, in denen die Bundesrepublik politisch und wirtschaftlich, aber auch währungs- und finanzpolitisch nach außen, d.h. in Beziehung zu anderen Staaten auftritt. Nach innen gerichtet gehören diejenigen Bereiche hierzu, die bestimmte Staatstätigkeiten auf dem gesamten Bundesgebiet in derselben Art und Weise ohne regionale Abweichungen erbracht werden sollen. Dabei ist zu beachten, dass die Aufzählung in Art.73 GG nicht abschließend ist, sondern zahlreiche weitere Bestimmungen im Grundgesetz zu finden sind, in denen entweder von einer bundesgesetzlichen Regelung die Rede ist, oder die, wie beispielsweise der Art 105 Abs. 1 GG, ausdrücklich die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes anordnen.
Neben den Materien der ausschließlichen Gesetzgebung sind die übrigen Kompetenzen in den meisten Fällen „konkurrierend“. Art 72 Abs. 1 GG gibt den Ländern die Gesetzgebungsbefugnis, „solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat“. Wenn der Bund hier tätig wird, erlischt die Kompetenz der Länder, und bestehendes Landesrecht tritt gemäß Art. 31 GG („Bundesrecht bricht Landesrecht“) außer Kraft. Bis 1994 gab die sogenannte „Bedürfnisklausel“ dem Bund das Recht hierzu, wenn
„ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht, weil
- eine Angelegenheit durch die Gesetzgebung einzelner Länder nicht wirksam geregelt werden kann oder
- die Regelung einer Angelegenheit durch ein Landesgesetz die Interessen anderer Länder oder der Gesamtheit beeinträchtigen könnte oder
- die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus sie erfordert“.[42]
Insbesondere die Formel der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ sorgte für die stete Möglichkeit des Bundes, die eigentlich als Schutz für den Landesgesetzgeber gedachte Bedürfnisklausel zu unterlaufen. Auch das Bundesverfassungsgericht stellte sich hierbei auf die Seite des Bundes: die Bedürfnisfrage liege im pflichtgemäßen Ermessen des Bundesgesetzgebers und sei grundsätzlich nicht Gegenstand richterlicher Beurteilung.[43] Es hat damit die Interpretation des Parlamentarischen Rates übernommen, der das Gesetzgebungsrecht des Bundes im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung ursprünglich noch großzügiger gestalten wollte und nur aufgrund eines Memorandums der Alliierten, das grundlegende Bedenken gegen die unitarisierende Wirkung der Klausel artikulierte, die Bedürfnisklausel einfügte. Allerdings war man sich in Rechtswissenschaft und Politik schon früh einig, dem Art 72 Abs. 2 GG nur geringe faktische Wirkung zu verleihen.[44] Geschaffen wurde damit eins der „Haupteinfallstore für die Auszehrung der Länderkompetenzen im Bereich der Gesetzgebung“[45]. Die konkurrierende Gesetzgebung wurde fast ausschließlich Bundessache, wobei der Katalog der hier aufgeführten Gesetzgebungszuständigkeiten im Laufe der Zeit zudem ständig erweitert wurde.[46]
Im Zuge der Verfassungsreform von 1994 wurde der Art. 72 GG deshalb zum Gegenstand einer Auseinandersetzung von Bund und Ländern über die Neugestaltung der föderativen Aufgabenverteilung.[47] Dabei einigte man sich zum einen auf eine Änderung des Absatzes 1, die klarstellen sollte, dass der Bund nicht schon deshalb sein Recht zur Gesetzgebung ausübt, wenn er die Gesetzgebung in die Wege leitet, sondern erst dann, wenn das Gesetz tatsächlich vorliegt. In Art. 72 Abs. 1 heißt es daher seit 1994: „...solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat.“
Die Neuregelung der Bedürfnisklausel gestaltete sich etwas schwieriger. Zunächst hatten die Länder vorgeschlagen, dass ein Bedürfnis für eine bundesgesetzliche Regelung jeweils gesondert vom Bundesrat festgestellt werden müsste, was erwartungsgemäß von den Vertretern des Bundes nicht akzeptiert wurde. Schließlich konnte man sich darauf einigen, das Problem einer rein politischen Ermessensentscheidung des Bundes einerseits durch eine Präzisierung der Klausel, andererseits durch eine auf die Landesparlamente ausgedehnten Möglichkeit, das Verfassungsgericht bei Streitigkeiten über das Vorliegen der Voraussetzungen aus Art. 72 Abs. 2 GG anzurufen, zu lösen.[48] Der Absatz 2 selbst lautete anschließend:
„Der Bund hat in diesem Bereich das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.“
Über die Verschärfung der Bedürfnisklausel hin zu einer Erforderlichkeitsklausel hinaus wollten zumindest einige Länder eine weitere Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten des Bundes in der konkurrierenden Gesetzgebung in Form einer sogenannten Rückhol- oder Durchbrechungsklausel, die in einem neuen Absatz 3 des Art. 72 GG normiert wurde. Der dahinterstehende Gedanke war einerseits, einem etwaigen künftigen Verlust von Kompetenzen vorzubeugen, und andererseits diejenigen Kompetenzen zurückzuholen, bei denen die Voraussetzungen der Bedürfnisklausel mittlerweile weggefallen sind.[49] Dieser Gedanke einer Rückholklausel wurde allerdings zu einer Rückgabeklausel abgeschwächt, da es schließlich im Art. 72 Abs. 3 GG heißen sollte:
„Durch Bundesgesetz kann bestimmt werden, dass eine bundesgesetzliche Regelung, für die eine Erforderlichkeit im Sinne des Absatzes 2 nicht mehr besteht, durch Landesrecht ersetzt werden kann.“
Des weiteren gibt es mit dem neu eingefügten Art. 125a Abs. 2 GG die Möglichkeit für die Länder, sich sogenannte Öffnungsklauseln zu schaffen. Immer dann, wenn der Bund - infolge der Umwandlung der Bedürfnisklausel des früheren Art. 72 Abs. 2 GG in die neue Erforderlichkeitsklausel - daran gehindert ist, für ein bestimmtes Sachgebiet ein ihm früher zustehendes Gesetzgebungsrecht zu nutzen, sind die Länder fortan befugt, hier tätig zu werden.
Eine, im Vergleich zu den bereits genannten Verteilungsregeln für Gesetzgebungskompetenzen, als Mischregelung zu sehende Möglichkeit der Verteilung bieten die „Rahmenvorschriften des Bundes“ des Art. 75 GG. Hier hat der Bund das Recht, für im Art. 75 GG einzeln aufgezählte Sachbereiche und unter den für die konkurrierende Gesetzgebung geltenden Voraussetzungen von Art. 72 GG, Rahmengesetze zu erlassen.
Dieser Rahmen darf in der Regel nur allgemeinen Charakter haben und wird dann durch Landesgesetze ausgefüllt. Konkretisiert wurde die Rahmenregelung 1994 hinsichtlich ihrer inhaltlichen Geltungskraft. So dürfen „Rahmenvorschriften (...) nur in Ausnahmefällen in Einzelheiten gehende oder unmittelbar geltende Regelungen enthalten“. Die Länder haben hier allerdings nicht nur das Recht, sondern gemäß dem neu eingefügten Art. 75 Abs. 3 GG auch die Pflicht „innerhalb einer durch das Gesetz bestimmten angemessenen Frist die erforderlichen Landesgesetze zu erlassen“; und dies in der vom Bund durch die Rahmenvorschrift bereits inhaltlich vorgeformten Weise.
Neben diesen durch den Bund belegten oder zumindest überlagerten Kompetenzen besitzen die Länder auch eigene ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeiten. Der Art. 30 GG, konkretisiert in Art 70 Abs. 1 GG, gesteht den Ländern all jene Kompetenzen zu, die nicht durch das Grundgesetz explizit oder auch implizit dem Bund zuerkannt sind. Welche das sind, wird mit Hilfe einer Subtraktionsmethode ermittelt. Von allen Gesetzgebungszuständigkeiten sind diejenigen abzuziehen, für welche der Bund nach dem Grundgesetz die Kompetenz schon ausschließlich besitzt bzw. im konkurrierenden Bereich diese auch wahrnimmt. Die dann übrig bleibenden Bereiche fallen schließlich in die Länderkompetenz. In der Praxis beschränken die Länder sich dann aber wieder selbst, indem sie länderübergreifend häufig mit sogenannten Mustergesetzentwürfen arbeiten, die von den Ministerialbürokratien verschiedener Länder gemeinsam entworfen und dann von einer Landesregierung mit oft nur geringfügigen Änderungen in das Landesparlament eingebracht und dort in der Regel auch so akzeptiert werden. Der Gedanke hinter dieser freiwilligen Unitarisierung ist zum einen, dadurch sowohl die Effizienz als auch die Fähigkeit zur Zusammenarbeit der Länder zu steigern. Zum anderen wird befürchtet, dass eine allzu große Vielfalt von Landesregelungen den Bürgern nicht zuzumuten sei.[50]
[...]
[1] Im folgenden nur kurz Bundesstaatskommission
[2] Kühne: Föderalismusreform, S. 5
[3] Scharpf.: Stellungnahme, Komm. Drucksache 0007, S. 5
[4] Meyer: Wozu braucht man und wie kommt man zu einer sinnvollen Bundesstaatsreform? Komm. Drucksache 0012, S. 1
[5] Ders., S. 1
[6] Bei aller noch herrschenden Unsicherheit darüber, wie der Bundespräsident entscheidet, wirkt doch schon die Vermutung der beteiligten Akteure, dass es Neuwahlen geben wird, entsprechend.
[7] Czada: Dimensionen der Verhandlungsdemokratie, S. 41
[8] zu diesem Trend siehe: Decker / von Blumenthal: Die bundspolitische Durchdringung der Landtagswahlen, S. 144ff.; vgl. Lehmbruch: Parteienwettbewerb, S. 183 ff.
[9] Pilz: Das bundesstaatliche Finanzsystem, S. 10
[10] Benz / Hesse: Die Modernisierung der Staatsorganisation, S. 15
[11] Also im wesentlichen die Position des Bundes und die der Ministerpräsidenten als den an einer etwaigen Verfassungsänderung notwendig beteiligten Akteure.
[12] Sturm,: Föderalismus in Deutschland, S. 7
[13] Isensee: Idee und Gestalt des Föderalismus, § 98 Rn. 15
[14] Laufer / Münch: Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, S. 15
[15] Hesse: Der unitarische Bundesstaat, S. 12
[16] Abromeit: Der verkappte Einheitsstaat, S. 12
[17] Isensee: Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 18; Kuttenkeuler: Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzip S. 27; Borchmann/Memminger: Subsidiaritätsprinzip, S. 17
[18] Schultze: Föderalismus als Alternative?, S. 480
[19] ders., S. 480
[20] Schultze: Statt Subsidiarität und Entscheidungsautonomie, S. 229
[21] Schultze: Föderalismus, S. 93
[22] Scharpf / Reissert / Schnabel: Politikverflechtung, S.9
[23] Kilper / Lhotta: Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, S. 64 ff.
[24] Laufer / Münch: Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, S. 252
[25] Kilper / Lhotta: Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, S. 68
[26] Scharpf: Optionen des Föderalismus in Deutschland und Europa, S. 26
[27] vgl. Renzsch: Entscheidungsprozesse, S. 55
[28] Wachendorfer-Schmidt, Ute: Politikverflechtung, S. 17
[29] Scharpf / Reissert / Schnabel: Politikverflechtung, S. 13
[30] Scharpf: Komplexität als Schranke der politischen Planung, S. 81-83
[31] Scharpf / Reissert / Schnabel: Politikverflechtung, S. 85
[32] Scharpf: Die Politikverflechtungsfalle, S. 323-356
[33] Scharpf / Reissert / Schnabel: Politikverflechtung, S. 19
[34] Benz: Föderalismus als dynamische System, S. 107
[35] ders.: S. 247 ff.
[36] Benz und Hesse geben als Beispiele die Anfang der achtziger Jahre einsetzenden Bemühungen um einen Abbau der Mischfinanzierungen an (z.B. Krankenhausfinanzierung, Studentenförderung, Städtebauförderung); Scharpf würdigt diese „Anfangserfolge“ zwar, gibt aber zu verstehen, dass die herrschenden Defizite weitaus mutigere Entflechtungen zur Lösung benötigten.
[37] Benz / Hesse: Die Modernisierung der Staatsorganisation, S. 246
[38] Laufer, Heinz / Ursula Münch: Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, S. 109
[39] Maunz, Theodor: Staatlichkeit und Verfassungshoheit der Länder, $ 94 Rn. 23
[40] Maunz: Staatlichkeit und Verfassungshoheit der Länder § 94 Rn. 24; Isensee: Idee und Gestalt des Föderalismus, § 98 Rn. 74
[41] Wenn auch die legislativen Steuerkompetenzen weitgehend beim Bund konzentriert sind. Siehe dazu auch: Wendt, Rudolf: Finanzhoheit und Finanzausgleich, §104 Rn. 21
[42] Art 72 Abs. 1 GG (a.F.)
[43] Vgl. BVerfGE 2, 224 (22.4.1953); BVerfGE 4, 127 (1.12.1954); BVerfGE 10, 245 (10.12.1959); BVerfGE 13, 233 (29.11.1961); BVerfGE 33, 229 (30.5.1972); BVerfGE 34, 39 (26.7.1972)
[44] Diese Einigung wurde im Rahmen der sog. Weinheimer Juristentagung gefunden, an der im Oktober 1949 u.a. Vertreter des Bundes- und der Landesjustizministerien teilnahmen; vgl. Ohne Verfasser, Bundesrecht und Bundesgesetzgebung; vgl. die entsprechende Entscheidung des BVerfG vom 29.11.1961, BVerfGE 13, 230 (233ff.)
[45] So die hessische Staatsministerin Hohmann-Dennhardt in der 4. Sitzung der Gemeinsamen Verfassungskommission vom 2. April 1992
[46] Erweiterung des Art. 74 Abs. 1 GG um die Nr. 4a, 10a, 11a, 13, 19a, 20, 22, 24
[47] Laufer, Heinz / Ursula Münch: Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, S. 129
[48] vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG
[49] Laufer / Münch: Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, S. 130
[50] vgl. Rudzio: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, S. 381
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- Marcus Funk (Autor:in), 2005, Föderalismusreform in Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/44710