Wer von einem nicht vorrangig juristisch bestimmten Verständnis von Völkermord oder Genozid entprechend der früheren Definition des deutschen Strafgesetzbuchs (§ 220a StGB) und der seit 2002 geltenden Bestimmung von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Straftaten gegen das Völkerrecht entsprechend Völkerstrafgesetzbuch (VStGB, §§ 6 [und] 7) ausgeht, wird sich, nolens volens, auch in erweiterter wissenschaftlicher Perspektive mit dem Genozid- oder Völkermordkonzept Rafael Lemkins beschäftigen müssen (Lemkin 1944). Dieser zunächst polnische, dann US-amerikanische Völker(straf)rechtler hat als Besonderheit von Völkermord die biopolitisch-intergenerative Seite herausgearbeitet:
„In this respect genocide is a new technique of occupation, aimed at winning the peace even though the war itself is lost.”
Das heißt: Die bewusste - teilweise oder gesamte - Zerstörung nationaler, rassischer, religiöser oder ethnischer Gruppen durch bestimmte und präzisierte Vernichtungsmassnahmen (wie etwa jeweils vorsätzliche Tötung/en, schwere körperliche und/oder seelische Schädigung/en sowie gewaltsame Geburtenverhinderung/en oder/und Kinderentführung/en) ist nur dann und insofern Völkermord, wenn diese biopolitischen Massnahmen zukunftsbezogen wirken und dafür sorgen, dass (in mit Völkermorden typischerweise einhergehenden Kriegssituationen) die militärisch unterlegene Verliererseite gleichwohl und über Generationen hinaus zur biopolitischen Siegerseite wird. Diese Besonderheit von Völkermordpolitik lässt sich mit allgemeinen gattungsbezogenen Vernichtungskonzepten (homicide, omnicide) nicht fassen, weil, wenn die gesamte Menschheit Opfergruppe sein soll, es im Ergebnis hier folglich weder Sieger/Verlierer noch Opfer/Täter geben kann, sonern nur Verlierer/Opfer.
Wenn auch nicht wie in der doppelten - nämlich biopolitisch-intergenerativen - Präzisierung, wie in Lemkins Hinweis herausgearbeitet, sondern eher unspezifisch-verallgemeinernd, so betont auch der Holocaust-Überlebende (und spätere US-Psychologe) Erwin Staub das antihumane Destruktionselement, das über Tötungen und Morden hinausgeht. Für Staub ist das Wesen des Bösen "the destruction of human beings [...] including not only killing, but the creation of conditions that compromise people's dignity, happiness and their ability to fulfill basic material needs" (Staub 1989, 25)
Inhaltsverzeichnis
- Völkermorddefinition/en
- Genozidale Spezifik
- Staatsverbrechen
- Verbrecherstaat
- Staatsmord
- Frühwarnsystem
- Forschungsfragen: Prototyp? Besonderheiten? Einzigartigkeit?
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der theoretischen Betrachtung von Völkermord als einem besonderen Form von Staatsverbrechen. Sie zielt darauf ab, das Konzept von Völkermord zu verstehen und seine spezifischen Merkmale zu analysieren, indem sie auf die historischen Fälle des Armenozids und des Holocausts zurückgreift. Darüber hinaus werden die Zusammenhänge zwischen Völkermord, Verbrecherstaat und Frühwarnsystemen untersucht.
- Die Bedeutung des Völkermordkonzepts nach Rafael Lemkin und seine biopolitische Dimension
- Die Rolle des Staates bei Planung, Organisation und Durchführung von Völkermord
- Die Entwicklung eines Frühwarnsystems zur Prävention von Völkermord
- Die Unterscheidung zwischen Völkermord und anderen Formen des Massenmordes
- Die Bedeutung des „Denkens des Undenkbaren" im Kontext von Völkermord
Zusammenfassung der Kapitel
- Völkermorddefinition/en: Dieses Kapitel erläutert die verschiedenen Definitionen von Völkermord und setzt sie in den Kontext des deutschen Strafgesetzbuchs und des Völkerstrafgesetzbuchs. Es stellt den Ansatz von Rafael Lemkin vor, der die biopolitische Dimension von Völkermord hervorhebt.
- Genozidale Spezifik: Hier werden die spezifischen Merkmale von Völkermord politik beleuchtet, insbesondere die „doppelte Destruktivität“ und die negative Zukunftsdimension. Es werden auch die Besonderheiten des Armenozids und des Holocausts als „moderne Genozide" dargestellt.
- Staatsverbrechen: Dieses Kapitel untersucht den Zusammenhang zwischen Völkermord und Staatsverbrechen. Es wird darauf hingewiesen, dass Völkermord immer eine besondere Form des staatlichen Handelns darstellt, und analysiert die Rolle des Staates bei der Planung und Organisation von Völkermord.
- Verbrecherstaat: Anhand des Beispiels des „Judenmords“ während des Zweiten Weltkriegs werden die Kerngedanken von Karl Jaspers zu Staatsverbrechen und Verbrecherstaat erläutert. Es wird die Notwendigkeit betont, die „Involutions-, Willkür- und Destruktionstendenzen“ des Staates zu erkennen und zu bekämpfen.
- Staatsmord: Dieses Kapitel bezieht sich auf den Beitrag von Irving L. Horowitz und analysiert die Besonderheit von Völkermord als staatliche „taking-lives"-policy. Es wird der Armenozid als historischer Prototyp von Völkermord dargestellt und das Verhältnis innerhalb einer Gesellschaft zum Leben als entscheidendes Merkmal für die Bestimmung einer „genocidal society" erläutert.
- Frühwarnsystem: Dieses Kapitel beschreibt die Kernthese zum Frühwarnsystem gegen Völkermordtendenzen, die aus dem Armenozid als ersten historischen Völkermord im 20. Jahrhundert entwickelt wurde. Es wird betont, dass es bereits im gesellschaftlichen Milieu Hinweise auf Völkermordtendenzen geben kann bevor diese exekutiert werden.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit den Kernthemen Völkermord, Staatsverbrechen, Frühwarnsystem, Genozidprävention, biopolitische Dimension, Verbrecherstaat, Armenozid und Holocaust. Sie untersucht die Rolle des Staates bei der Planung und Durchführung von Völkermord und analysiert die spezifischen Merkmale von Völkermordpolitik im Kontext der „taking-lives"-policy.
- Arbeit zitieren
- Dr. Richard Albrecht (Autor:in), 2005, Lebenskultur und Frühwarnsystem - Theoretische Aspekte des Völkermord[en]s, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/44878