Leseprobe
Gliederung
1. Einleitung
2. Multiple-Streams-Ansatz
2.1. Problem-Strom
2.2. Politics-Strom
2.3. Policy-Strom
2.4. Policy-Fenster & Policy-Entrepreneur
2.5. Hypothesen auf Basis der theoretischen Grundlage
3. Mietrechtsnovellierungsgesetz („Mietpreisbremse“)
4. Methodik
5. Analyse und Anwendung des Multiple-Streams-Ansatzes
5.1. Problem-Strom
5.2. Politics-Strom
5.3. Policy-Strom
5.4. Policy-Fenster & Policy-Entrepreneur
6. Auswertung der Analyse
7. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
1. Einleitung
„We seek to understand why some subjects become prominent on the policy agenda and others do not, and why some alternatives for choice are seriously considered while others are neglected?“ (Kingdon 1984: 3).
An diese entscheidende Frage knüpft das Konzept des Multiple-Streams-Ansatzes von John W. Kingdon an. Er beschreibt unter Anderem, welche Faktoren einen sogenannten Agenda-Wandel vorantreiben, eine neue Policy begünstigen und erklärt das Handeln von Akteuren im Rahmen ihrer Kontextbedingungen. Auf Basis dieses analytischen Modells zum Agenda-Setting aus dem Bereich der Policy-Forschung, liegt das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit in der empirischen Untersuchung eines Fallbeispiels. Die theoriegeleitete Fragestellung lautet, wie der Zeitpunkt der Verkündung des deutschen Mietrechtsnovellierungsgesetzes („Mietpreisbremse“) im April 2015 zu erklären ist. Die Relevanz dieser Fragestellung wird dadurch unterstrichen, dass die Idee eines solchen Eingriffes in den Wohnungsmarkt nicht erst zu diesem Zeitpunkt aufkam. Das Problem steigender Mieten in Ballungszentren und mögliche Lösungsvorschläge existierten bereits Jahre vorher. Mit der Untersuchung sollen deshalb jene Dimensionen der Theorie herangezogen werden, welche versuchen zu erklären, wodurch ein Agenda-Wandel und die Einführung einer neuen Policy zustande kommen. Insgesamt wird hiermit ein Analysebeitrag zur deutschen Wohnungsmarktregulierung mithilfe des Multiple-Streams-Ansatzes geleistet. Beginnen wird die Arbeit mit einer detaillierten Erörterung des Konzeptes nach Kingdon. Im Anschluss daran soll in aller Kürze das Mietrechtsnovellierungsgesetz dargestellt werden, bevor sich die weitere Analyse mit der Anwendung des Multiple-Streams-Ansatzes auf die Empirie konzentrieren wird. Nach einer Auswertung der Analyse wird das Fazit die Fragestellung der Arbeit zusammenfassend beantworten, eine kritische Würdigung des Konzeptes vornehmen und einen Ausblick auf lohnenswerten Forschungsbedarf geben.
2. Multiple-Streams-Ansatz
Aufbauend auf dem Garbage-Can-Model von Cohen, March und Olson formuliert John W. Kingdon als Basis für seinen Mulitple-Streams-Ansatz in seinem Werk “Agendas, Alternatives and Pubic Policies” von 1984 drei Grundannahmen: Erstens können politische Systeme als organisierte Anarchien konzeptionalisiert werden. Zweitens können Entscheidungssituationen über das Denken in Strömen erfasst werden. Drittens ist Agenda-Wandel letztendlich davon abhängig, ob und wie sich diese Ströme verbinden (vgl. Herweg 2015: 326; Kingdon 1984: 91).
Alle Grundannahmen gehen von der Variabilität und Mehrdeutigkeit zentraler Phänomene einer Organisation aus. Damit kann der Ansatz als ein Kontingenz-Modell des politischen Entscheidens gesehen werden, in welchem politische Prozesse somit dem Phänomen der Ambiguität unterliegen (vgl. Räker 2017: 93f.; Rüb 2014: 373ff.; Zahariadis 2014; Böcher/ Töller 2012: 184f.). Zudem ist der Multiple-Streams-Ansatz besonders gut für die Untersuchung von politischen Zeitfenstern geeignet (vgl. Zahariadis 2007: 65ff.; Cairney, P./ Jones, M. 2016: 37ff.).
Dem Multiple-Streams-Ansatz zufolge hängt ein Agenda-Wandel von mehreren Faktoren ab. Zum einen benennt Kingdon die Reife und die Verbindung dreier Ströme: Problem-Strom, Politics-Strom, Policy-Strom (vgl. Kingdon 1984: 93f.). Zum anderen beschreibt er die Existenz eines Policy-Fensters als auch die Aktivitäten eines Policy-Entrepreneurs beziehungsweise Policy Communities als Agenda-Wandel begünstigende Faktoren.
Im Laufe dieses Kapitels sollen alle diese Einfluss ausübenden Faktoren erklärt werden, um sie im späteren Teil der Arbeit auf die Empirie anwenden zu können. Den Anfang machen drei Unterkapitel zu den jeweils voneinander unabhängigen Strömen. Anknüpfend daran folgt ein weiteres Unterkapitel, welches sowohl das Policy-Fenster, als auch den Policy-Entrepreneur samt der Policy Communities innerhalb Kingdons Ansatz genauer darstellt. Zudem hilft es zur Veranschaulichung aller Zusammenhänge dieses Konzeptes die schematische Darstellung des Multiple-Streams-Ansatzes im Anhang dieser Arbeit zu nutzen (siehe Anhang 1).
2.1. Problem-Strom
Der Problem-Strom bildet sich auf Grundlage von Sachverhalten, welche als Probleme wahrgenommen werden und den politischen Willen zur Änderung aufkommen lässt. Dabei ist ein Problem definiert als sogenanntes „mismatch between the observed conditions and one’s conception of an ideal state“ (Kingdon 1984: 116). Vor diesem Hintergrund werden Probleme nur dann als solche erkannt, wenn sie beobachtbar sind und ihnen Aufmerksamkeit zukommt. Zudem werden verschiedene Probleme in der Gesellschaft und im politischen System gehandelt, sodass die Einzelnen unter ihnen um Anerkennung konkurrieren.
Als Mechanismen, welche zur Problemwahrnehmung führen, nennt Kingdon einmalig oder regelmäßig erhobene Indikatoren, fokussierende Ereignisse oder Feedbacks. Anders als die Indikatoren führen fokussierende Ereignisse als solche nicht dazu, dass ein gewisser Zustand als Problem wahrgenommen wird. Sie nehmen vielmehr die Rolle eines Wahrnehmungsverstärkers ein, wenn sie im Zusammenspiel mit auf dasselbe Problem hinweisenden Indikatoren oder weiteren fokussierenden Ereignissen auftreten. Sobald die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Sachverhalt gelenkt wurde, muss dieser noch über eine entsprechende Interpretation als problematisch wahrgenommen werden, um in den Problem-Strom zu fallen. Dies kann beispielsweise durch einen Vergleich der eigenen Leistung mit dem Abschneiden anderer erfolgen, oder dadurch, dass die eigene Leistung vor dem Hintergrund eines neuen oder anderen Kriteriums beurteilt wird. Erst wenn dieser Sachverhalt beziehungsweise Ist-Zustand nach dem neuen Beurteilungskriterium von seinem gewünschten Soll-Zustand abweicht, wird er als Problem wahrgenommen (vgl. Herweg 2013: 326; Kingdon 1984: 103ff.; Rüb 2014: 373ff.).
2.2. Politics-Strom
Der Politics-Strom bezeichnet dagegen den prozessualen Aspekt des Politischen. Nach Kingdon wird dessen Dynamik durch drei Faktoren gekennzeichnet: Erstens die öffentliche Meinung, zweitens Interessengruppen und drittens personelle Veränderungen beziehungsweise Kräfte aus dem politisch-administrativen System, genauer dem Parlament, der Regierung und der Verwaltung (vgl. Kingdon 1984: 153ff.). Nach Kingdon entfalten dabei insbesondere der erste und dritte Aspekt, sprich der Wandel der öffentlichen Meinung und der mit Wahlen einhergehende personelle Wandel, starken Einfluss auf den Agenda-Status von Themen. Kampagnen von Interessengruppen werden eher dann relevant, wenn ein Thema bereits Eingang auf die Agenda gefunden hat und um die konkrete Ausgestaltung einer Policy gerungen wird. Kennzeichnend für den Politics-Strom ist, dass dessen Dynamik unter Anderem durch Lobbyismus oder Gruppenmobilisierung geprägt ist (vgl. Herweg 2015: 330).
2.3. Policy-Strom
Der Policy-Strom beschreibt den inhaltlichen Aspekt des Politischen und besteht aus den diskutierten Ideen der Policy Communities. Diese Ideen stehen im Zentrum dieser Phase, welche von Kingdon als sogenannte Policy-Ursuppe beschrieben wird: „proposals are oated, come into contact with one another, are revised and combined with one another, and oated again“ (Kingdon 1984: 21).
Dies ist ein experimenteller Prozess und wird von Kingdon als Softening-Up bezeichnet. Hier versuchen sogenannte Policy-Entrepreneure Akzeptanz und Zustimmung für ihre Ideen zu erzeugen. Dies geschieht sowohl innerhalb der Policy Community, als auch in dem breiter gefassten interessierten Fachpublikum und der Öffentlichkeit. Diese Phase erhöht maßgeblich die Chance, dass sich eine Idee durchsetzen kann und einen Agenda-Wandel einleitet (vgl. Kingdon 1984: 134; Rüb 2014: 385ff.; Herweg 2013: 326f.). Diese zentrale Auseinandersetzung ist versinnbildlichend für die pluralistische Gesellschaft und stellt den Status-quo mehr oder weniger in Frage. Da nur ein Teil dieser Ideen den Sprung auf die politische Agenda schaffen, stellt Kingdon Kriterien auf, welche über ihren Erfolg entscheiden können: Technische Machbarkeit, Finanzierbarkeit, normative Akzeptanz, antizipierte Zustimmung der Öffentlichkeit und Empfänglichkeit der gewählten Entscheidungsträger (siehe Anhang 1).
2.4. Policy-Fenster & Policy-Entrepreneur
Das Policy-Fenster ist eine Vorraussetzung für einen Agenda-Wandel und das Entstehen einer Policy. Es öffnet sich entweder durch Veränderungen im Problem-Strom oder im Politics-Strom (vgl. Herweg 2013: 327f.; siehe Anhang 1). Zur besseren Unterscheidung spricht Kingdon hierbei von Problem- und Politics-Fenstern (vgl. Kingdon 1995: 173f.). Ihm nach gibt es vorhersehbare und unvorhersehbare Problem- und Politics-Fenster. Vorhersehbar sind zum Beispiel Verhandlungen über den Staatshaushalt oder Wahlen zum Ende einer Legislaturperiode während ein Flugzeugabsturz oder Neuwahlen als Folge einer Regierungskrise unvorhersehbar sind. Sobald sich ein Problem-Fenster öffnet, versucht der sogenannte Policy-Entrepreneur seine favorisierte Policy als Lösung an das Problem anzuhängen und Unterstützung bei den politischen Entscheidungsträgern zu gewinnen. Öffnet sich dagegen ein Politics-Fenster beispielsweise durch den Amtsbeginn einer neuen Regierung, versucht er das veränderte politische Klima zugunsten seiner favorisierten Policy auszunutzen und als Lösung für ein bestehendes Problem darzustellen. Diese Unterscheidung soll insbesondere die Bedeutung des richtigen Timings im Multiple-Streams-Ansatz verdeutlichen (vgl. Herweg 2013: 327f.; Kingdon 1984: 216f.).
Der zentrale Akteur, welcher also Ressourcen aufwendet, um die drei unabhängig voneinander verlaufenden Ströme in Einklang zu bringen, ist der Policy-Entrepreneur. „Finally, we should not paint these entrepreneurs as superhumanly clever. (...) They push for their proposals all the time; long before a window opens, they try coupling after coupling that fails; and by dumb luck, they happen to come along when a window is open.“ (Kingdon 1995: 183). Der Erfolg dieses Policy-Entrepreneurs liegt abgesehen vom richtigen Timing darin, ob er einen Anspruch hat von den politischen Entscheidungsträgern gehört zu werden. Dabei ist einerseits relevant wie gut er politisch vernetzt ist, andererseits ob er über Verhandlungsgeschick verfügt und beharrlich auftritt. Die Policy-Entrepreneure, welche als Experten auf dem relevanten Themengebiet bekannt sind, Repräsentanten einer Interessengruppe oder selbst mit Entscheidungskompetenzen ausgestattet sind, haben insofern einen Vorteil, da sie wahrscheinlicher von den Entscheidungsträgern gehört werden als andere Policy-Entrepreneure, welche diese Kriterien nicht erfüllen.
Neben dem Policy-Entrepreneur wirkt sich ebenfalls der Integrationsgrad der Policy Communities auf die Wahrscheinlichkeit für einen Agenda-Wandel aus. Dieser beeinflusst, wie viele ausgearbeitete Policy-Alternativen verfügbar sind (vgl. Herweg 2015: 331ff.). Wenn es kaum Alternativen gibt, ist es logischerweise auch wahrscheinlicher, dass eine konkrete Idee einer Community Erfolg hat. Alternativ gewinnt die der besseren Argumente.
2.5. Hypothesen auf Basis der theoretischen Grundlage
Auf Basis des vorangegangenen Theoriekapitels und des Aufsatzes “Der Multiple-Streams-Ansatz – ein Ansatz, dessen Zeit gekommen ist?” von Nicole Herweg werden aus den einzelnen Dimensionen der Theorie die folgenden Hypothesen abgeleitet, welche nach der empirischen Analyse validiert oder falsifiziert werden sollen:
1. Eine politikfeldspezifische Krise, zunehmende Missstände oder fokussierende Ereignisse sind Faktoren, die einen Agenda-Wandel wahrscheinlicher machen (basierend auf dem Problem-Strom).
2. In der Zeit nach den regierungsbildenden Wahlen, welche auch die Koalitionsverhandlungen einschließt, kommt es wahrscheinlicher zu einem Agenda-Wandel (basierend auf dem Politics-Strom).
3. Wenn eine ausgearbeitete Alternative folgende Kriterien erfüllt, ist die Wahrscheinlichkeit für einen Wandel hoch: Technische Machbarkeit, normative Akzeptanz, Finanzierbarkeit, antizipierte Zustimmung der Öffentlichkeit, Empfänglichkeit der gewählten Entscheidungsträger (basierend auf dem Policy-Strom).
4. Wenn der Anspruch eines Policy-Entrepreneurs hoch ist angehört zu werden, er politisch gut vernetzt ist und er beharrlich auftritt, ist ein Agenda-Wandel annehmbar (basierend auf dem Policy-Entrepreneur).
5. Sofern die bisherigen Hypothesen sowohl zum Problem- (1.), Politics- (2.), Policy-Strom (3.) als auch zum Policy-Entrepreneur (4.) bezüglich eines Agenda-Wandels validiert werden können, ist ein Policy-Output eine realistische Konsequenz.
3. Mietrechtsnovellierungsgesetz („Mietpreisbremse“)
Das Mietrechtsnovellierungsgesetz beziehungsweise die sogenannte Mietpreisbremse wurde vom deutschen Bundestag auf Initiative der Bundesregierung am 21. April 2015 verabschiedet. In ihm werden die Landesregierungen ermächtigt, Gebiete mit angespannten Wohnungsmärkten durch Rechtsverordnungen für die Dauer von höchstens fünf Jahren zu bestimmen. Laut Gesetz handelt es sich um Gebiete mit angespannten Wohnungsmärkten, wenn die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Mietwohnungen in einer Gemeinde zu angemessenen Bedingungen besonders gefährdet ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn…
1. die Mieten deutlich stärker steigen als im bundesweiten Durchschnitt,
2. die durchschnittliche Mietbelastung der Haushalte den bundesweiten Durchschnitt deutlich übersteigt,
3. die Wohnbevölkerung wächst, ohne dass durch Neubautätigkeit insoweit erforderlicher Wohnraum geschaffen wird, oder
4. geringer Leerstand bei großer Nachfrage besteht (Bundesgesetzblatt 2015: 610).
Ziel des Gesetzes ist die Dämpfung des Mietanstiegs auf angespannten Wohnungsmärkten und die Stärkung des Bestellerprinzips bei der Wohnungsvermittlung. In seinem Gesamtkontext betrachtet ist es als eine Reaktion auf die problematischen Auswirkungen zunehmend angespannter Wohnungsmärkte und Gentrifizierungstendenzen in Deutschland zu bewerten (vgl. Bundesrat 2014: 1f.; Voigtländer 2013: 2ff.; Breckner 2010; Friedrichs/ Kecskes 1996).
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