„Das Theater ist Wirklichkeit und diese Theater“. Mit diesem Zitat bezieht sich Nägele auf die Theateraufführungen innerhalb Manns „Untertan“ und lässt damit anklingen, dass das Theater in Bezug auf die Romanwirklichkeit eine wichtige Rolle spielt. So stellt das Theater in Manns Werk ein zentrales Motiv dar.
Es finden sich nicht nur zwei Aufführungen – „Die heimliche Gräfin“ und „Lohengrin“ – innerhalb des Romans wieder, vielmehr prägt der Theatertopos dessen Gesamtstruktur. Er dient zudem als analytische Kategorie der Gesellschaft bzw. als „Schlüsselkategorie“, um die Gesellschaft zu deuten. Werkübergreifend konnte Karl Lemke als erster auf die grundlegende Bedeutung der Theateraufführungen in Manns Romanen hinweisen, die das Geschehen komprimiert darstellen und zu ihrer Auslegung beitragen.
Inhalt
Einleitung
1. Persönlichkeitsinszenierung
2. Kalkulierte Besetzung des Stücks
3. Rollenverständnis des Publikums
4. Theater als Schauplatz politischer und gesellschaftlicher Belange
5. Scheinmoral der Gesellschaft
Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
„Das Theater ist Wirklichkeit und diese Theater“[1]
Mit diesem Zitat bezieht sich Nägele auf die Theateraufführungen innerhalb Manns „Untertan“ und lässt damit anklingen, dass das Theater in Bezug auf die Romanwirklichkeit eine wichtige Rolle spielt. So stellt das Theater in Manns Werk ein zentrales Motiv dar. Es finden sich nicht nur zwei Aufführungen – „Die heimliche Gräfin“ und „Lohengrin“ – innerhalb des Romans wieder, vielmehr prägt der Theatertopos dessen Gesamtstruktur. Er dient zudem als analytische Kategorie der Gesellschaft[2] bzw. als „Schlüsselkategorie“[3], um die Gesellschaft zu deuten. Werkübergreifend konnte Karl Lemke als erster auf die grundlegende Bedeutung der Theateraufführungen in Manns Romanen hinweisen, die das Geschehen komprimiert darstellen und zu ihrer Auslegung beitragen[4].
Die vorliegende Arbeit richtet ihren Fokus auf „Die heimliche Gräfin“, die im Vergleich zu „Lohegrin“ in der Forschung weitgehend unbeachtet geblieben ist[5]. Die Theateraufführung stellt innerhalb der Arbeit die situationsgebundene Einheit dar, die in Form der Bühnenhandlung stattfindet und als zweite Fiktionsebene bezeichnet werden kann. Nur durch die Verknüpfung der Bühnenhandlung und der Zwischenhandlung der Romanebene bzw. ersten Fiktionsebene kann das Werk vollständig analysiert und die Funktion der Theateraufführung interpretiert werden[6].
Ziel der Arbeit ist folglich, die Funktion der Theateraufführung „Die heimliche Gräfin“ herauszuarbeiten. Hierfür wird zu Beginn aufgezeigt, in welcher Art und Weise die Besucher des Stücks das gesellschaftliche Ereignis zur eigenen Inszenierung nutzen und inwieweit die Besetzung des Stücks auf gesellschaftliche Verbindungen zurückzuführen ist. Anschließend verlagert sich der Fokus auf das Rollenverständnis des Publikums sowie die verschwimmenden Grenzen der Romanwirklichkeit und der Bühnenhandlung. Folgend werden die Motive der Gespräche zwischen den Figuren als geschäftlich und politisch aufgedeckt, um schließlich die Doppelmoral der Netziger Bürger offenzulegen.
1. Persönlichkeitsinszenierung
Bereits vor der eigentlichen Theateraufführung wird deutlich, dass diese auch als Schauplatz zur Inszenierung der eigenen Persönlichkeit dient. Dies zeigt sich, als Diederich „fest entschlossen [ist,] nicht […] zu früh zu kommen“[7], da sonst „die ganze Wirkung der Persönlichkeit [...] zum Teufel [gehe]“[8]. Der Auftritt als Person inklusive des Zeitpunkts des Erscheinens spielt hier folglich eine essentielle Rolle für Diederich, der die Theateraufführung nicht nur als Freizeitveranstaltung wahrnimmt, sondern ihr darüber hinaus eine gesellschaftliche Präsentationsfunktion zuschreibt.
Diese These stützend, spielt es auch eine Rolle, wer mit wem zur Aufführung erscheint. So werden beispielsweise vor Beginn Mutmaßungen von Diederichs Schwestern geäußert, ob Guste Daimchen und Wolfgang Buck, trotz Inzestvorwürfen, gemeinsam zu dem Ereignis erscheinen oder nicht. Nach Magdas Auffassung würden sie die Gerüchte bei Nichterscheinen bestätigen[9]. Das Theater dient demnach erneut als gesellschaftlicher Ort, um sich darzustellen, unerwünschte Gerüchte zu nivellieren und ein gewünschtes Bild zu erzeugen.
Für die Inszenierung spricht auch, dass Aussagen grundlegend bedacht geäußert werden und das Auftreten somit reiner Kalkulation folgt. Dies wird deutlich, als Diederich unüberlegt äußert, wie „schrecklich“[10] die Person auf der Bühne sei. Es stellt sich heraus, dass er Frau Wulckows Nichte meint und er diesen Umstand nur verschleiern kann, da Frau Wulckow davon ausgeht, er spreche von der anderen Schauspielerin. Die Situation mündet in Beteuerungen und Schmeicheleien seitens Diederichs. Folglich dienen jegliche Aussagen im Rahmen der Aufführung der Inszenierung der eigenen Persönlichkeit und dem Ausbau nützlicher Beziehungen untereinander. In keinem Fall dient das Stück der Äußerung der freien Meinung oder dem Freizeitvertreib als solchem. Vielmehr kann von einem rein gesellschaftlichen Zweck gesprochen werden.
2. Kalkulierte Besetzung des Stücks
Die Besetzung der Theateraufführung folgt, wie die angesprochene Persönlichkeitsinszenierung, bestimmten gesellschaftlichen Zwecken und nicht der Maximierung der schauspielerischen Leistung des Stücks. Im Falle des Major Kunze begründet Frau Wulckow ihre Wahl damit, dass er zwar „nicht besonders gut [sei], aber [...] im Vorstand der Harmonie“[11] sitze und somit einen Mehrwert für sie und ihre Aufführung darstelle.
Dementsprechend erklärt sich auch die Besetzung von Emmi und Magda, Diederichs Schwestern, die nach erfolgreichem Prozess seitens Diederichs sowie seiner Aufnahme im Kriegsverein von Frau Wulckow zum Tee eingeladen werden und Rollen im Stück erhalten[12]. Die Freude im Hause Heßlings ist groß, da die Besetzung einer gesellschaftlichen Anerkennung gleichkommt und sich weniger auf die schauspielerische Leistung der zwei Mädchen bezieht.
Anders verhält es sich mit Guste Daimchen, die als Verlobte von Wolfgang Buck „seinetwegen [...] nicht eingeladen“[13] wird, mitzuspielen. Grund hierfür bietet derselbe Prozess, in dem Wolfgang verlor. Diederich betont an der Stelle, dass „ihre [Gustes] Verbindung mit den Bucks [ihr] jetzt in der Gesellschaft nicht [...] nützt.“[14] Hier wird erneut deutlich, dass die Besetzung des Stücks gesellschaftlichen Zwecken und Beziehungen folgt und dementsprechend kalkuliert ist.
3. Rollenverständnis des Publikums
An mehreren Stellen der Theateraufführung zeigt sich, dass das Publikum die Charakterdarstellungen der Schauspieler auf ihre wirkliche Persönlichkeit projizieren und es ihnen nicht möglich ist, die im Bühnenvorgang verkörperten Rollen von den Privatpersonen bzw. das Bühnenschauspiel vom Realkontext zu differenzieren[15].
Ein Beispiel hierfür bietet der Auftritt von Jadassohn, der in dem Theaterstück einen „schlechten Charakter“[16] spielt. Dieser Umstand wird von Diederich als eingängig bewertet, ohne den Inhalt des Stücks oder Jadassohns Schauspielrolle zu kennen. Als Frau Wulckow zudem mit dessen Darstellungsleistung unzufrieden ist, beschließt sie, ihn zu diffamieren, indem sie ihrem Mann – dem Regierungspräsidenten – berichten will, dass Jadassohn „als Staatsanwalt unmöglich“[17] sei. An dieser Stelle wird deutlich, wie die Romanrealität und die zweite Fiktionsebene der Bühne ineinander verschwimmen. Jadassohn ist für die Verbindung beider Fiktionsebenen erneut relevant, da er auf der Bühne den Grafensohn verkörpert, der seiner Schwester ihr zustehendes Erbe streitig macht und ihre rechtmäßigen Ansprüche unterbindet. Jadassohns Theaterrolle, die insbesondere durch Streben nach Macht und Reichtum sowie der Durchsetzung von Unrecht charakterisiert ist, kontrastiert in extremer Form mit seinem Beruf und somit seiner gesellschaftlichen Funktion auf Romanebene, innerhalb deren er sich als anstrebender Staatsanwalt dem Gesetz verpflichtet[18].
Die Verbindung der Romanwirklichkeit und der Bühnenhandlung zeigt sich auch in der Verschmelzung der Theaterrollen und Realfiguren, die in Form der Benennung stattfindet. So werden innerhalb von Kommentaren fast ausschließlich die Namen der Privatpersonen verwendet und nicht die Namen der gespielten Rollen[19].
„Der Leutnant aus dem ersten Akt, der arme Vetter, der die heimliche Gräfin hätte heiraten sollen, er war Magdas Verlobter! Man fühlte die Zuschauer vor Spannung beben.“[20]
Hier wird hervorgehoben, von wem die Rolle gespielt wird – nämlich von Magdas Verlobtem. Die Betonung seitens des Autors durch ein Ausrufezeichen lässt deutlich die Ironie erkennen. Die Publikumsbegeisterung ist als Reaktion auf die Rollenbesetzung zurückzuführen. Es findet folglich erneut eine Vermischung der beiden Ebenen statt.
Eine weitere Parallele bietet der Auftritt von Magda, die in der Aufführung sich selbst spielt, ohne dies reflektieren zu können. Hinzu kommt, dass sie innerhalb der Bühnenhandlung ihren Teil dazu beiträgt, dass die heimliche Gräfin als Tauschobjekt gehandelt wird, während Magda selbst von ihrem Bruder Diederich für die Firma an Kienast eingetauscht wird[21]. An dieser Stelle verschiebt sich Theater- und Wirklichkeitsebene[22].
Zusammenfassend wird die dargestellte Gesellschaft durch ihre Reaktion auf das Theaterstück analysiert und charakterisiert[23]. Das Stück bildet zudem die Wirklichkeit ab, sodass die Theater- und Wirklichkeitsebenen ineinander übergehen und sich indirekt entlarven.
4. Theater als Schauplatz politischer und gesellschaftlicher Belange
Es konnte bereits aufgezeigt werden, dass das Theaterstück gesellschaftliche Zwecke erfüllt. Auch Freiherr von Wulckow nutzt die Aufführung als gesellschaftliches Ereignis, um seine privilegierte Position in Netzig zu festigen[24]. Ziel seiner Unterredung mit dem Bürgermeister Scheffelweis ist, den städtischen Arbeitsnachweis – ein Bestreben der freisinnigen Partei, um die Arbeitslosenquote zu senken – zu beenden, da ihm dadurch billige Arbeitskräfte entzogen würden[25]. Es findet folglich eine Vermischung geschäftlicher, politischer Angelegenheiten und dem gesellschaftlichen Ereignis statt.
[...]
[1] Nägele 1973: 47.
[2] Vgl. Holzheimer 2014: 184.
[3] Hummelt-Wittke 1987: 61.
[4] Vgl. Lemke 1946: 38 ff.
[5] Vgl. Hocker 1977: 46.
[6] Vgl. Ebd.: 11.
[7] Mann 1991: 296.
[8] Ebd..
[9] Vgl. ebd..
[10] Ebd.: 272.
[11] Mann 1991: 272.
[12] Vgl. ebd.: 247.
[13] Ebd..
[14] Ebd.: 248.
[15] Vgl. Nägele 1973: 47.
[16] Mann 1991: 273.
[17] Mann 1991: 276.
[18] Vgl. Hocker 1977: 50f.
[19] Vgl. Mann 1991: 274ff.
[20] Ebd.: 289.
[21] Vgl. Mann 1991: 194ff.
[22] Vgl. Nägele 1973: 47.
[23] Vgl. Kantorowizc 1951: 1092.
[24] Vgl. Hocker 1977: 48f.
[25] Vgl. Mann 1991: 287f.
- Quote paper
- Anonymous,, 2018, Die Funktion der Theateraufführung "Die heimliche Gräfin" in Heinrich Manns "Untertan", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/451354
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