Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffe und Definitionen – Gewalt, Macht und Machtmissbrauch
3. Die Lehrer-Schüler-Beziehung
3.1 Grundlegende Charakteristika der Lehrer-Schüler-Beziehung
3.2 Wandel der wissenschaftlichen Betrachtungsweise
3.3 Das transaktionale Modell der Schüler-Lehrer-Beziehung (nach Nickel 1976)
3.4 Erwartungen als Stör- und Fehlerquellen für die Wahrnehmung und die Handlungsentscheidung
4. Gewalt und Machtmissbrauch von Lehrern gegenüber Schülern
4.1 TIMMS-Studie in Österreich (vgl. Krumm/Lamberger- Baumann/Haider 1997)
4.2 Studentenbefragung (vgl. Krumm/Weiß 2000a; Krumm 1999b)
4.3 Bremer Schülerbefragung (vgl. Leithäuser/Meng 2003)
4.4 Qualitative Arbeit zum Mobbing von Lehrern gegenüber Schülern (vgl. Hoos 1999)
5. Erklärungsansätze für Lehrergewalt bzw. Machtmissbrauch von Lehrern gegenüber Schülern
5.1 Struktureller und situativer Erklärungsansatz
5.2 Personenbezogenen Erklärungsansätze
6. Breitflächiges Supervisionsprogramm als Maßnahme gegen Machtmissbrauch von Lehrern?
7. Schluss
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In dieser Bachelor-Arbeit wird sich der Verfasser mit dem Thema „Lehrergewalt und Machtmissbrauch als spezifische Aspekte der Lehrer-Schüler-Beziehung“ auseinandersetzen. „Gewalt in der Schule“ stellt laut Wawretschek-Wedemann ein international bestehendes soziales Problem dar, welches „mit je spezifischem Fokus besonders in den USA (harte Formen der Gewalt), in den skandinavischen Ländern (Bullying) und westeuropäischen Ländern (physische und verbale Gewalt), in Japan und Südafrika (sexuelle Gewalt) öffentlich und wissenschaftlich diskutiert worden ist“ (Wawretschek-Wedemann 2013, 97). Einige spektakuläre Einzelfälle haben in den 1990er Jahren in Deutschland eine intensive mediale Debatte und in der Folge eine rege empirische Forschung zur tatsächlichen Verbreitung von Gewalt in Schulen ausgelöst. Die Studien der letzten zwei Jahrzehnte bezogen sich dabei fast ausschließlich auf die Gewalt von Schülern1 (ebd., 97). Auch Klewin et al. (2002, 1078) beschäftigen sich in ihrem Beitrag zum Internationalen Handbuch der Gewaltforschung nicht eingehend mit der Gewalt, die von der Institution Schule und ihren Vertretern ausgeht. Damit folgen die Autoren der aus ihrer Sicht dominanten Diskussions-und Forschungsperspektive (ebd., 1078). Krumm analysierte über 50 empirische Untersuchungen mit dem Thema „Gewalt in der Schule“ und kam zu dem Ergebnis, dass fast nur Gewalt von Schülern gegen Schüler, Lehrer und Sachen untersucht wurde (Krumm 1999a, 4). Auch das verbreitete Werk zur „Forschung über Gewalt an Schulen“ (Holtappels et al., 1999) enthielt außer in einer Fußnote im Beitrag von Krumm (ebd., 64) keinen Hinweis auf Lehrergewalt gegen Schüler.
Die wissenschaftliche Forschung zu diesem Thema wurde und wird einseitig betrieben. Strohm, der in dem knapp 50 Seiten umfassenden Vorspann seiner Dissertation zum Thema „Lehrergewalt und Strukturelle Gewalt an Schulen in der öffentlichen Diskussion“ darstellt, „welche Hürden [ihm] von Seiten der Universität Bremen in den Weg gelegt wurden“ (Strohm 2012, 3), bestätigt die Randständigkeit dieser Perspektive in Wissenschaft und Medien.
Wissenschaftler scheuten das Thema Lehrergewalt, da es sie in Konflikt mit Behörden und Vorgesetzten bringen könne, was wiederum nicht vorteilhaft für ihre Karrieren sei (ebd., 232). Aber auch in den Medien zeichne sich dieser Blickwinkel durch Randständigkeit aus. Sie fürchten laut Strohm die gut organisierte Lehrerschaft, die einen großen Anteil der Abonnenten ausmache; so verlor beispielsweise die “Lübecker Zeitung“, welche wochenlang über Lehrergewalt geschrieben hatte, rund hundert Abonnenten in der Lehrerschaft (ebd., 232). Desweiteren habe Strohm versucht, die “Süddeutsche Zeitung“, die “Zeit“, den “Stern“ und den “Spiegel“ für dieses Thema zu interessieren. Ein Redakteur der Süddeutschen Zeitung „recherchierte über mehrere Wochen und wurde zurückgepfiffen“ (ebd., 232). Wissenschaftliche Fakten seien im Journalismus oft weniger wichtig als Unterhaltung und Popularität (ebd., 232). Darüber hinaus werde in der Presse in der Regel das Weltbild der Eigentümer repräsentiert (ebd., 231).
Krumm (1999a, 4) hält es für „unwahrscheinlich, dass von den mächtigen Personen in der Schule den prinzipiell machtloseren und abhängigeren Schülern gegenüber keine untersuchungswürdige Gewalt ausgeht“. Krumm, Lamberger-Baumann und Haider (1997, 258) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass beispielsweise in der umfassenden Literatur über Gewalt in der Familie fast ausschließlich die Eltern und erwachsenen Verwandten als Gewaltäter gegenüber den Heranwachsenden auftauchen. An der Stelle nimmt man selbstverständlich an, dass die „Starken“ die „Schwachen“ misshandeln. Dort wird kaum untersucht, in welchem Ausmaß Kinder und Jugendliche gewalttätig gegenüber ihren Eltern bzw. erwachsenen Verwandten sind.
Terhart lässt keinen Zweifel an der Existenz schlechter Lehrer, die den Schülern gegenüber gewalttätig1 sind, aufkommen. Er nimmt diesbezüglich gar kollektive Einigkeit der Rezipienten an, wenn er postuliert:
Jeder weiß, daß [sic!] es sie gibt. Jeder kennt einen. Jeder hatte schon mal einen. Einen schlechten Lehrer. Einen wirklich schlechten Lehrer. […] Und es sind immer die gleichen Elemente, die genannt werden: fehlendes oder veraltetes Fachwissen, nicht vorhandene didaktisch-methodische Fähigkeit, unzusammenhängendes und unverständliches Unterrichten, Ignoranz gegenüber Lehrplanvorgaben, unberechenbares, unverständliches und unzuverlässiges Zensieren, völlige Unfähigkeit, auf Kinder und Jugendliche eingehen zu können, bizarre Unterrichtsmethoden, strafbare Disziplinierungstechniken, offen zu Schau gestellte Verachtung von kollegialem Miteinander, eisige Herablassung (oder vollkommene Distanzlosigkeit) zu Schülern, Eltern, Kollegen, Intrigantentum, perfekte Minimalisierung des Arbeitseinsatzes, Verbreitung von allgemeinem Zynismus und so weiter. (Terhart 1999, 37-38)
Die Entdeckung dieser Einseitigkeit des öffentlichen und medialen Diskurses und der wissenschaftlichen Forschung über „Gewalt in der Schule“ hat in mir den Wunsch entstehen lassen, mich mit jener Perspektive zu beschäftigen, die sich bislang durch Randständigkeit ausgezeichnet hat: Lehrergewalt bzw. Machtmissbrauch von Lehrern gegenüber Schülern.
In Kapitel 2 sollen einige für die vorliegende Arbeit grundlegende Begriffe geklärt und Definitionen vorgeschlagen werden. Kapitel 3 beschäftigt sich mit der sozialen Beziehung zwischen Lehrern und Schülern. Dabei werden zunächst grundlegende Charakteristika der Beziehung erläutert. Im Anschluss an die Einführung von Nickels transaktionalem Modell der Lehrer-Schüler-Beziehung werden einige Stör- und Fehlerquellen für die Wahrnehmung und die Handlungsentscheidung erläutert. In Kapitel 4 wird eine Auswahl unterschiedlicher quantitativer und qualitativer Arbeiten zum Thema Lehrergewalt vorgestellt. Nach diesen Informationen über Ausmaß und Qualität von Lehrergewalt werden in Kapitel 5 Erklärungsansätze bzw. Ursachen für machtmissbrauchendes Lehrerverhalten geliefert, zu deren Bekämpfung in Kapitel 6 ein einzelner Ansatz vorgestellt wird.
2. Begriffe und Definitionen – Gewalt, Macht und Machtmissbrauch
Gewalt ist gleichzeitig einer der schillerndsten und zugleich schwierigsten
Begriffe der Sozialwissenschaften. Er ist deshalb schwierig, weil er für Einzelpersonen oder soziale Gruppen heterogen konnotiert ist. Imbusch (2002, 26) spricht von einer hochgradigen „kognitive[n] Diffusität des Gewaltbegriffs. Der Begriff Gewalt lässt sich aus dem indogermanischem bzw. althochdeutschen waltan ableiten und steht für „stark sein, beherrschen, Macht ausüben“ (Krall 2004, 9 zitiert nach Tetens 2013, 84).
Es ist zunächst grundsätzlich zwischen Mikrogewalt und Makrogewalt zu unterscheiden. Auf der Makroebene wird in der Regel mindestens zwischen vier Gewaltformen unterschieden, wobei diese vom Wesen her gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen: Institutionelle, strukturelle, kulturelle und symbolische Gewalt. Im Folgenden soll nur die institutionelle Gewalt näher erläutert werden. Auf die außerdem genannten Formen der Makrogewalt wird im weiteren Verlauf der Arbeit nicht weiter eingegangen. Institutionelle Gewalt zielt auf „dauerhafte Abhängigkeits- und Unterwerfungsverhältnisse“ ab (Imbusch 2002, 39). Ein Prototyp dieser Gewaltform sei der „Hoheits- und Gehorsamsanspruch, mit dem der Staat dem einzelnen gegenübertritt“ (Waldmann 1995, 431 zitiert nach Imbusch 2002, 39). Zunächst geht es also um „ordnungsstiftende Funktionen“ (Imbusch 2002, 39), wie sie beispielsweise von der Polizei oder dem Militär ausgeübt werden. Institutionelle Gewalt kann überdies auch von anderen Institutionen – im Rahmen dieser Bachelor-Arbeit von der Institution Schule – ausgeübt werden. Sie ist systemimmanent und lässt sich nicht auf eine Einzelperson als „Täter“ zurückführen; sie hat, wie sich im weiteren Verlauf dieser Arbeit herausstellen wird, jedoch durchaus Einfluss auf individuelle Akteure: Sie kann „nicht hinreichend schlüssig aus individuellen Verhaltensdispositionen heraus erklärt werden“ (ebd., 43) und besitzt dennoch „eine individuelle Dimension“. So lässt sich ihre Wirkung beispielsweise anhand der ungleichen Machtverhältnissen zwischen Lehrern und Schülern beobachten.
Auf der Mikroebene findet Gewalt im „gesellschaftlichen Nahbereich“ (Imbusch 2002, 43) eines Akteurs oder einer kleinen Gruppe statt. Der Fokus dieser Bachelor-Arbeit liegt auf dieser direkten personellen Gewalt. Sie wird weiterhin unterteilt in psychische und physische Formen von Gewalt. Die direkte physische Gewalt zielt auf Schädigung, Verletzung oder Tötung anderer Personen ab und wird immer manifest und meistens auch intendiert ausgeübt (ebd., 38). Weiterhin ist sie „universell wirksam und muss nicht erst verstanden werden“ (ebd., 38). Psychische Gewalt kann mit Hilfe von Worten, Gebärden, Bildern und Symbolen verbal oder nonverbal ausgeübt werden (ebd., 38). Während physische Gewalt in der Regel offen sichtbare Schädigungen oder Verletzungen hinterlässt, entfaltet psychische Gewalt ihre Wirkung subtil im Verborgenen und ist damit von Außenstehenden häufig schwer festzustellen (ebd., 38). Die Wirkung wird desweiteren in ihrem vollen Ausmaß oft erst zeitlich versetzt – zum Beispiel in Form schwerer Traumata – sichtbar (ebd., 39).
Zusammenfassend kann mit Melzer et al. (2011, 44) „(personelle) Gewalt [als] jede ausgeführte oder angedrohte Handlung (einschließlich Duldung oder Unterlassung) bezeichnet werden, die mit der Absicht oder der perzipierten Absicht ausgeführt wird, eine andere Person psychisch oder physisch zu schädigen“. Für diese Bestimmung reiche es aus, wenn das Opfer eine auf Schädigung ausgerichtete Absicht beim Täter wahrnimmt. Nicht alle Autoren, die sich mit Schulgewalt auseinandersetzen, beziehen diesen Zusatz in ihre Definitionen ein. Er macht sich m. E. jedoch aus zweierlei Gründen erforderlich. Erstens weil Lehrer als Täter und Schüler als Opfer – der Verfasser nimmt im Rahmen dieser Bachelor-Arbeit diesen Blickwinkel ein – „nicht immer darin übereinstimmen, ob eine Handlung Gewalt war oder nicht“ (ebd., 44) und zweitens weil auch jene schädigenden Handlungen mit einbezogen werden sollen, welche der Lehrer nicht mit der bewussten Intention auf Schädigung ausführt.
Im Deutschen werden die Begriffe Gewalt und Macht in unterschiedlichster Weise gebraucht und teilweise synonym verwendet, während beispielsweise im angelsächsischen Sprachraum der Begriff power für den politischen Einfluss bzw. die legitimierte Machtausübung eindeutig vom Begriff violence für nicht- legitimierte, schädigende Gewalt abgegrenzt wird (Imbusch 2002, 28-29). Die fehlende Trennschärfe zwischen den Begriffen Gewalt und Macht schlägt sich auch in der Literatur zur Lehrergewalt nieder. So ist darüber diskutiert worden, welcher der beiden Begriffe – Gewalt oder Machtmissbrauch – zur Bezeichnung des schädigenden Lehrerverhaltens adäquater sei. Posch (1997, 278) hatte in seinem Kommentar zu der Arbeit von Krumm, Lamberger-Baumann und Haider unter anderem kritisiert, dass zur Benennung des untersuchten Lehrerverhaltens der Begriff Gewalt gewählt worden ist. Krumm (1999b, 49) hält mittlerweile aus verschiedenen Gründen den Begriff Machtmissbrauch – zuvor hatte er den Begriff Gewalt präferiert – für geeigneter. Zum einen schließt er auch pädagogisch inakzeptable Handlungen wie z.B. Ausgrenzung, Vernachlässigung und verschiedene Formen der Etikettierung mit ein (ebd., 49). Zum anderen löst er gegebenenfalls weniger Widerstand in der Lehrerschaft aus als der Begriff Gewalt, welcher gegenwärtig im Alltagsgebrauch oft negativ konnotiert ist. Darüber hinaus sprachen sich auch die Studenten, die Krumm im Rahmen seiner Untersuchungen direkt danach befragt hat, für den Begriff Machtmissbrauch aus (ebd., 49).
Wie auch Krumm definiere ich Macht mit Max Weber als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen, gleichviel woraus diese Chance besteht“ (Weber 1956, 38). Mit Krumm verstehe ich unter Machtmissbrauch ein „ pädagogisch nicht gerechtfertigtes schädigendes Lehrerverhalten “ (Krumm 1999b, 49).
Vor dem Hintergrund, dass bei der Erläuterung der unterschiedlichen Gewaltformen auf Mikro- und Makroebene auf der einen Seite ein Bewusstsein für die Diffusität des Gewaltbegriffes geschaffen wurde und auf der anderen Seite der vom Verfasser dieser Arbeit vertretene Gewaltbegriff beschrieben wurde, werde ich trotz der alltagssprachlich negativen Konnotation das untersuchte Lehrerverhalten nachfolgend sowohl als Machtmissbrauch, als auch als Lehrergewalt bezeichnen1. Diese zielt dann beispielsweise auch auf die o.g. pädagogisch inakzeptablen Handlungen ab.
3. Die Lehrer-Schüler-Beziehung
In diesem dritten Kapitel sollen einige grundlegende Aspekte der Lehrer-Schüler-Beziehung genannt und erläutert werden. Dabei soll das Augenmerk auf die grundlegenden Kennzeichen, auf das „Wesen“ jener Beziehung zwischen Lehrern und Schülern gerichtet werden. Diese Grundlegung macht sich m. E. erforderlich, weil sinnvollerweise erst darauf aufbauend die nachfolgenden Kapitel bearbeitet werden können. Die Beschäftigung mit dem Machtmissbrauch von Lehrern gegenüber Schülern (siehe Kapitel 4) und mit Maßnahmen bzw. Konzepten der Gewaltprävention (siehe Kapitel 5) setzt ein elementares Wissen über die zugrundeliegende Beziehung zwischen Lehrern und Schülern voraus.
Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist eine besondere Art der sozialen Beziehung. Beschäftigt man sich mit sozialen Beziehungen, muss man sich stets auch mit Fragen von Macht bzw. Machtdynamiken auseinandersetzen. Christ (2010, 251) postuliert, dass es keine machtfreien Verhältnisse gebe und dass somit jede soziale Beziehung auch immer eine Machtbeziehung sei. Er unterstellt unter Bezugnahme auf Popitz also eine Omnipräsenz von Macht und nimmt an, dass jede Machtanwendung Freiheitsbegrenzung ist und daher der Rechtfertigung bedarf (Popitz 1992, 17 zitiert nach Christ 2010, 253). Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist also stets durch eine asymmetrische Machtverteilung gekennzeichnet. Im Folgenden sollen weitere spezifische Charakteristika dieser sozialen Beziehung aufgezeigt werden (siehe Kapitel 3.1). Die Lehrer-Schüler-Beziehung kann, wie jede soziale Beziehung, aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden, wobei sich die Forschungsperspektive im zeitlichen Verlauf verändert hat (siehe Kapitel 3.2). Die veränderte Betrachtungsweise soll mithilfe von Nickels transaktionalem Modell verdeutlicht werden (siehe Kapitel 3.3). Zuletzt soll auf Effekte auf bzw. Fehler in der Wahrnehmung anderer Person hingewiesen werden, welche Erklärungsansätze für den Machtmissbrauch von Lehrern gegenüber Schülern liefern können (siehe Kapitel 3.4).
3.1 Grundlegende Charakteristika der Lehrer-Schüler-Beziehung
Richey (2016, 16ff.) benennt und erläutert die aus ihrer Sicht grundlegenden Merkmale beruflicher Beziehungen, dazu gehört aus ihrer Sicht auch die Lehrer-Schüler-Beziehung. Die wesentlichen Charakteristika der Lehrer- Schüler-Beziehung sind demnach:
- Die Fremdbestimmung der Bezugspersonen bzw. Unfreiwilligkeit
- Die Fremdbestimmung der Inhalte
- Die asymmetrische Beziehungsstruktur
Mit Thies (2014, 192), die im Wesentlichen die von Richey genannten Charakteristika anführt, lassen sich diese Merkmale als Kontextvariablen definieren, vor deren Hintergrund dann Interaktionen stattfinden1.
Bei der Beziehung zwischen Lehrern und Schülern handelt es sich grundsätzlich zunächst um eine nicht freiwillige Beziehungsform. Beide Seiten können ja nicht entscheiden, ob sie miteinander in Kontakt treten wollen oder nicht. Die Lehrer-Schüler-Beziehung kann im Gegensatz zu persönlichen Beziehungen aus dem Bereich organisierter Freizeitgestaltung, beispielsweise in einem Sportverein, nicht jederzeit abgebrochen werden. Die Zusammensetzung von Schulklassen und deren Zuordnung zu bestimmten Fach- und Klassenlehrern entzieht sich weitgehend bis vollständig dem Einfluss von Lehrern und vor allem dem von Schülern (Richey 2016, 22). Anders als in persönlichen Beziehungen ergibt sich die Beziehung zwischen Lehrenden und Schülerschaft nicht aufgrund einer bewussten Entscheidung oder gegenseitiger Sympathie, sondern aus ihrer Zugehörigkeit zur Institution Schule (ebd., 22).
Die Institution Schule erfüllt bestimmte gesellschaftliche Aufgaben und Funktionen. Prägnant ausgedrückt gehören dazu neben der Vermittlung von Inhalten (Qualifikation) und Normen und Werten (Sozialisation) auch die Erfassung und Bewertung von Leistungen (Selektion)1. Diese gesellschaftlichen Funktionen prägen die Lehrer-Schüler-Beziehung inhaltlich und strukturell. Die Inhalte, d. h. die zu vermittelnden Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten (Qualifikation) werden in Form von Bildungsstandards im Bildungsplan beschrieben bzw. festgelegt (ebd., 23). Welche Fächer in welchem Umfang zu unterrichten sind, geben sogenannten Kontigenzstundentafeln vor. Die Erhebung und Bewertung der Schülerleistungen (Selektion) – z. B. die Anzahl der Klassenarbeiten pro Halbjahr – werden vom Kultusministerium über die Notenbildungsverordnung festgelegt (ebd., 23).
Die Lehrer-Schüler-Beziehung wird durch die gesellschaftlichen Aufgaben der Institution Schule auch strukturell geprägt. Sie ist, wie oben bereits erwähnt, durch ein ungleiches Machtverhältnis zugunsten der Lehrer gekennzeichnet und wird folglich oftmals als asymmetrisch beschrieben (u.a. Schweer 1997; Misamer/Thies 2014; Thies 2014; Richey 2016). Die strukturelle Prägung der Lehrer-Schüler-Beziehung drückt sich in der Tatsache aus, dass Lehrer ein größeres Handlungs- bzw. Machtmittelrepertoire als die Schüler haben, woraus sich wiederum eine Abhängigkeit der Schüler von den Lehrern ergibt (Richey 2016, 23-24). Für Ulich (2001, 78) liegt in der Qualifikation ein „unvermeidliches Moment von Ungleichheit“. Für ihn liegt in dem Qualifikationsvorsprung der Lehrer eine wichtige Quelle der Lehrermacht. In ihm manifestiere sich die Abhängigkeit der Schüler, die bei der Aneignung von Kenntnissen und Fähigkeiten von den fachlichen und methodischen Fähigkeiten ihrer Lehrer abhängen1 (Richey 2016, 24).
Die im Zusammenhang mit der Selektion erforderliche Erfassung und Beurteilung der Schülerleistungen hängen von Entscheidungen der Lehrer ab. Die Anzahl der Klassenarbeiten wird zwar über die Notenbildungsverordnung vorgeschrieben, die Festlegung des genauen Zeitpunkts und der genauen Inhalte der Klassenarbeiten obliegen jedoch genauso wie die abschließende Bewertung den Lehrern (ebd., 24). Auch die Kontrolle des Schülerverhaltens im Bezug auf die (Nicht-)Einhaltung gesellschaftlicher Normen und Werte (Sozialisation) und die Sanktionierung von Regelverletzungen fällt in den Handlungsbereich der Lehrpersonen (Ulich 2001, 78).
3.2 Wandel der wissenschaftlichen Betrachtungsweise
Die Beziehung ganz allgemein zwischen Erziehern und zu Erziehenden hat die Wissenschaftler der Pädagogik und pädagogischen Psychologie seit jeher interessiert. Betrachtet man die Entwicklung der entsprechenden Forschung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dann ist ein deutlicher Wandel der Fragestellungen und Methoden festzustellen (Rosemann/Bielski 2001, 158).
Zunächst war es das Ziel der Forschung, das Verhalten von Lehrern zu beschreiben, dazugehörige Lehrerkategorien zu erarbeiten und die unterschiedlichen Auswirkungen des Lehrerverhaltens auf die Schüler zu untersuchen (ebd., 158). Vorherrschend waren unidirektionale, also einseitige Betrachtungsweisen, d.h. die Lehrer wurden als das Interaktionsgeschehen steuernd, die Schüler hingegen als primär reaktiv (vom steuernden Erzieherverhalten) konzipiert (Thies 2017, 67).
Die Einsicht, dass in der Erziehung von einer multivariaten und reziproken Verhaltensbeeinflussung ausgegangen werden muss, hat eine deutliche Erweiterung des Forschungshorizontes bewirkt (Rosemann/Bielski 2001, 158). Die Lehrer-Schüler-Beziehung wird mit Helsper und Hummerich in einem gegenseitigen „Aushandlungs- und Interpretationsprozess […] situativ in schulischen sozialen Arenen generiert“ (Helsper/Hummerich 2014, 35). Es wird nunmehr davon ausgegangen, dass sowohl der Lehrer die Schüler beeinflusst, als auch die Schüler den Lehrer. In dieser Lehrer-Schüler-Interaktion wird die bestehende Beziehung fortwährend reinterpretiert und umdefiniert (ebd., 35). Diese erweiterte Forschungsperspektive trägt m. E. der hohen Vielfalt und Komplexität von sozialen Beziehungen Rechnung. Eine soziale Beziehung, wie die zwischen Lehrern und Schülern, ist kein starres Konstrukt. Sie verändert sich fortwährend und nimmt immer wieder neue Formen an. Unter Bezugnahme auf Freud bezeichnet Sternfeld (2009) das Erziehen als eine unmögliche Aufgabe. Unmöglich deshalb, weil sie – aufgrund der komplexen wechselseitigen Bezugnahme – niemals vollständig vorhersehbar und planbar ist. Ihr Erfolg bzw. Misserfolg ist wesentlich von der Kommunikation und Interaktion zwischen Pädagogen und Adressaten abhängig.
[...]
1 Im Folgenden werden Begriffe wie Schüler, Lehrer usw. immer als Oberbegriffe verwendet, die ausnahmslos männliche und weibliche Personen umfassen.
2 Die Begriffe und Definitionen, die dieser Bachelor-Arbeit zugrunde liegen, sollen im zweiten Kapitel geklärt werden.
3 Diese Vorgehensweise ist m. E. auch aus Gründen der Lesbarkeit sinnvoll, da andernfalls der Begriff Machtmissbrauch unverhältnismäßig oft gebraucht würde.
4 Die erzieherische Interaktion selbst wird in den Fokus gerückt, wenn in Kapitel 3.3 das transaktionale Modell der Lehrer-Schüler-Beziehung eingeführt wird.
5 Eine detailliertere Beschreibung der Aufgaben und Funktionen der Schule liefert beispielsweise Richey (2016, 19-21).
6 Selbstverständlich ist bei Lernprozessen auch immer u. a. der Einfluss von motivationalen, volitionalen, emotionalen und kognitiven Faktoren auf Seiten der Schülerschaft zu berücksichtigen (Richey 2016, 25).