Henri Bergsons Philosophie der Dauer. Die wirkliche Zeit


Hausarbeit (Hauptseminar), 2017

14 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Einordnung in die Zeit

3. Zeit und Raum

4. Der Fluss der Zeit

5. Konklusion

6. Bibliographie

1. Einleitung

"Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert - das Medium, in dem es erfolgt - ist nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich bedingt."[1]

Die vorliegende wissenschaftliche Arbeit hat die Zeitphilosophie Henri Bergsons zum Gegenstand und wird versuchen, von dieser ein möglichst klares Bild abzulichten. Insbesondere soll hierbei die Differenz zwischen zwei gegensätzlichen Arten der Zeitwahrnehmung herausgearbeitet werden: zum einen unser alltägliches Verständnis der Zeit, welche eine abstrakte, mathematische Form der Zeit ist, sowie zum anderen die von Bergson dargestellten Dauer, welche von ihm als die wirkliche Zeit konzipiert ist und die Schichten unserer Wirklichkeit entfaltet. Die Philosophie Bergsons hat wohl keine Veränderung der Art und Weise der menschlichen Sinneswahrnehmung, wie sie Walter Benjamin im anfänglichen Zitat beschreibt, mit sich gebracht, jedoch kann diese als eine Antwort auf die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert veränderte Daseinsweise in der entstehendne modernen Gesellschaft verstanden werden. Sein Gesamtwerk ist eine Art der Lebensphilosophie, welche eine optimistische Erklärung der Wirklichkeit bietet: einen Ausbruch aus der mechanischen, utilitaristischen und rationalistischen Moderne. Seine Philosophie eröffnet eine Kritik an der Assoziationspsychologie, der materialitischen Theorie des Geistes, der mechanischen Konzeption der Evolution sowie der soziologischen Interpretation der Religion. Obgleich weder seiner Philosophie noch seiner Person an sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts größere Bedeutung beigemessen wurde, ist die Wirkung, die er auf seine Zeitgenossen auslöste, kaum zu unterschätzen. Der als Dichterphilosoph bekannte Nobelpreisträger löste eine Sogwirkung aus, die in der modernen Wissenschaft lediglich mit der des Jean-Paul Sartre vergleichbar ist. Sein poetischer Stil erschafft wirkmächtige Bilder, die versuchen die Wirklichkeit abzubilden und anhand dieser eine Analyse zu ermöglichen. So werden ex­em­p­li cau­sa Ideen, welchen Bergson keinen Wahrheitswert zuschreibt, als Illusionen dargestellt: Trugbilder, die die Wirklichkeit verschleiern.

Die vorliegende Arbeit folgt hinsichtlich der Betrachtung der Zeitphilosophie maßgeblich dem Werk *Philosophie der Dauer* von Henri Bergson, welches von Gilles Deleuze ausgewählte Texte enthält, dem Werk Bergson zur Einführung von Gilles Deleuze sowie Henri Bergson- Ein Dichterphilosoph von Leszek Kolakowski.

2. Einordnung in die Zeit

"Von einer ganzen Generation wird der Bergsonismus wie eine Befreiung aufgenommen: wie die Errettung des Menschen von der Fesslung und dem Zugriff der technischen wissenschaftlichen Rationalisierung des Lebens."[2]

Diese von Deleuze beschriebene Anziehungskraft, die von Bergson zu Lebzeiten ausgieng, erscheint im Rückblick zunächst etwas Befremdliches an sich zu haben: Im gegenwärtigen philosophischen Diskurs tritt die Philosophie Bergsons kaum in Erscheinung. Welche gesellschaftlichen Gegebenheiten führten zu der Popularität der Ideen Bergsons? Woher rührt diese befreiend wirkende Anziehungskraft? Eine summarische Betrachtung der gesellschaftlichen Wirklichkeit des ausgehenden 19. sowie des frühen 20. Jahrhunderts soll diese Fragen erhellen. Wandel und Umbruch sind die Begleiter dieses geschichtlichen Zeitabschnittes: Das sich ausbreitende kapitalistische System, die damit einhergehenden ökonomischen Veränderungen, welche das gesellschaftliche und politische Leben umwälzen, das Aufkommen des Liberalismus, die diesem innewohnende Idee des Individuums und der Freiheit, die utlilitaristische und empiristische Betrachtung der Wirklichkeit in den Naturwissenschaften sowie deren evolutionstheoretische Anschauungen. Diese aufkommenden Ideen und Aspekte bedeuteten eine Umwälzung der bisher gegebenen gesellschaftlichen Wirklichkeit, welche ihren Audruck in den wissenschaftlichen Publikationen der Zeit findet. So ist 1859 nicht nur das Geburtsjahr Henri Bergsons dar, sondern veröffentlichte in diesem Jahr John Stuard Mill sein Werk Über die Freiheit, Karl Marx sein Werk Zur Kritik der politischen Ökonomie sowie Charles Robert Darwin sein Werk Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Insbesondere der sich verändernden Perspektive der europäischen Geisteswelt, die mit dem Werk Darwins in Erscheinung trat, widmet sich Bergson in seiner Philosophie und macht sich einen biologischen Ansatz in seiner Betrachtung der Wirklichkeit zueigen. Die von Deleuze attestierte Befreiung durch den Bergsonismus kann somit auf eine Erklärung des Realen zurück geführt werden, die den mechanischen, den utilitaristischen, den deterministischen und den rationalistischen Strömungen der Zeit entgegenwirkte. Ebenso scheint es, dass seine Philosophie im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Anschauungen einen positiven Ausblick auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten bot: "Es muß [...] erwähnt werden, daß Bergson und James die düstere Stimmung so vieler ihrer Zeitgenossen nicht teilten und für die Zivilisation, in der sie lebten, nicht wie jene das immanente Ende antizipierten. Ihrer beider Philosophie war im Grunde optimistisch."[3] In dieser Tendenz der optimistischen Betrachtung der Wirklichkeit schlummert wohl auch die Begründung des Niedergangs der Popularität Bergsons: Nach den Zerüttungen, die mit den beiden Weltkriegen sowie der Shoah einhergingen, erscheint eine optimistische Betrachtung der Welt allenfalls euphemistisch. Obgleich Bergson für den gesellschaftlichen Diskurs ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum noch von Interesse zu sein scheint, ist seine vergangene Sogkraft nicht zu unterschätzen. Die New York Times widmet seiner Gastvorlesung an der Columbia University 1913 eine ausführliche Darstellung seiner Philosophie und kündigt seinen Vortrag als ein bedeutendes gesellschaftliches Ereignis an.

"No recent force in the world of thought has made so profound an impression as Henry Bergson, Professor of Philosophy at the Collége de France. His lectures here as visiting French professor at Columbia University [...] will be of unusual importance [...]."[4]

Neben der zeitgenössischen Affinität, die die Gesellschaft zu Bergson hat, werden seine Ideen ebenso in der Sphäre der Wissenschaft behandelt: Sowohl Georg Simmel als auch Max Scheler setzen sich in je einem Aufsatz mit seinen Ideen auseinander, Martin Heidegger studiert in seinen frühen Jahren seine Werke,[5] Max Horkheimer analysiert in einem kritischen Aufsatz die Metaphysik Bergsons und schlußendlich, um diesen skizzenhaften und unvollständigen Überblick abzuschließen, setzt sich Gilles Deleuze umfassend mit den bergsonischen Ideen auseinander und bietet Ausblicke, die darüber hinausgehen.

"Die ungewöhnlich große Wirkung ebenso wie der bald darauf eingetretene Verfall seiner Ideen sind als kulturelle Phänomene bemerkenswert und müssen als ein Aspekt der allgemeinen Veränderung des europäischen Geisteslebens im letzten halben Jahrhundert gesehen werden."[6]

3. Zeit und Raum

In dem vorliegenden Kapitel soll eine Anschauung erfolgen, die das Bild, welches Bergson von der Zeit hat, nachzeichnen soll. Insbesondere soll hierbei eine Abgrenzung zwischen dem alltäglich verwendeten Bergriff der Zeit, die von der physikalisch-mathematischen Betrachtung dieser geprägt ist, und dem was Bergson als wirkliche Zeit, als Dauer bezeichnet, erfolgen.

"Zeit ist wirklich."[7]

Diese auf den ersten Blick unbedarft wirkende Aussage, mit welcher Leszek Kolakowski die Philosophie Bergsons in einer einzigen Idee zusammenzieht, enthält den Kern, der die bergsonische Anschauung der Zeit entfaltet. Welche Attribute sind dieser Idee der Zeit zu eigen, damit sie wirklich sein kann? Wenn die bergsonische Zeit wirklich ist, gibt es eine andere Zeit, die dies nicht ist?

"Das, was wir Zeit nennen, ist kein einfacher Begriff, sondern das Ergebnis einer Synthese zweier heterogener Elemente: der Dauer und des Raumes."[8] Diese Synthese, diese Vermengung der Zeit mit dem Raum ist das, was wir alltäglich als Zeit wahrnehmen. Diese Wahrnehmung ist jedoch eine scheinhafte, denn es besteht ein Unterschied zwischen der Zeit und dem Raum. In der Differenzierung dieser beiden Elemente liegt die Idee der wirklichen Zeit verborgen. Sowohl in unserer alltäglichen Vorstellung von der Zeit als auch in der klassischen Physik und der Relativitätsphysik wird im eigentlichen Sinn nicht die Zeit dargestellt. Die Zeit wird dort wahrgenommen, als ob sie eine andere Art von Raum wäre: "Eine Reihe von homogenen, nebeneinander angeordneten Abschnitten, die zusammen eine unbegrenzt lange Linie bilden."[9] Diese Attribute, die dem Raum zu eigen sind, werden somit irrtümlich auf die Zeit übertragen und als ein in sich geschlossenes System aufgefasst. Der Materie, dem Raum, ist die Tendenz zu eigen, isolierbare, geometrisch behandelbare Systeme zu bilden, jedoch denkt Bergson diese Isolierung nicht als eine vollständige: Solche isolierten Systeme sind stets mit anderen verbunden und bilden ein Ganzes.[10] Dieses reale Ganze stellt eine unteilbare Kontinuität dar, die in diesem abgegrenzten Systeme sind keine Teile dessen, sondern lediglich partielle Anblicke des Ganzen.[11] Die Totalität der Wirklichkeit wird von Bergson als atomare Kontinuität gedacht, in welcher die Materie zwar dazu neigt isolierbare Systeme herauszubilden, diese jedoch stets als ein partieller Aspekt des Ganzen verbleiben. Die wirkliche Zeit - la durée, die Dauer - ist weder homogen noch teilbar, sie stellt eine Kontinuität dar.[12] "Dauer ist das Unteilbare und Substantielle."[13] Die Dauer, die wirkliche Zeit, ist als eine unteilbare Kontinuität von Veränderung zu denken: Die Dauer ist somit die unteilbar wahrgenommene Zeit.[14] Bergson denkt die menschliche Psyche als eine, die auf der Grundlage von Nützlichkeiten strukturiert ist, um die Reproduktion des Lebens zu ermöglichen. Der Verstand ist nicht an einer wahrhaften Wirklichkeit interessiert, sondern nur an ihrer etwaigen Nützlichkeit: Die Wirklichkeit wird entsprechend der menschlichen Bedürfnissen zerlegt und rekonstruiert.[15] Anhand dieser Idee wird augenscheinlich, woher die Affinität zur Annahme der abstrakten, physikalischen Zeit rührt. Die utilitaristische menschliche Psyche bedient sich einer Wahrnehmung der Zeit, mittels welcher eine praktische Zergliederung der Wirklichkeit erfolgen kann. Die abstrakte Zeit wird über die Wirklichkeit gestülpt, wohingegen die wirkliche Zeit eine erfahrbare ist und somit in uns selbst verborgen liegt: "Wir kennen sie intuitiv, aus direkter Erfahrung."[16] Die Dauer ist also als eine psychologische Erfahrung zu denken, als "ein Werden, aber ein Werden das dauert, und ein Wandel, der selbst Substanz ist."[17] Dauer ist mehr noch als gelebte Erfahrung, sie ist gleichzeitig ebenso die Bedigung von Erfahrung. Reine Dauer ist ein innerliches Nacheinander ohne Äußerlichkeit, wohingegen der Raum eine Äußerlichkeit ohne Nacheinander ist.[18] Die Vermengung von Raum und Zeit, die Angleichung der Zeit an den Raum lässt den Schein eines Determinismus aufblitzen: Alles erscheint, als sei es gegeben.[19] Dieser Schein ist unvermeidlich, sobald die Zeit verräumlicht wird. Bergson lehnt die Vorstellung eines Determinismus ab, in welchem jedes Ergebnis lediglich die bereits fertige Wirklichkeit entfaltet.

[...]


[1] Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1963, S. 14.

[2] Deleuze, Gilles: Bergson zur Einführung, Hamburg 1989, S. 13.

[3] Kolakowski, Leszek: Henri Bergson. Ein Dichterphilosoph, München 1985, S. 18.

[4] Levine, Louis, The Philosophy of Henri Bergson and Syndicalism, in: New York Times (Archives), URL: [https://timesmachine.nytimes.com/timesmachine/1913/01/26/100250821.pdf] (27. September 2018).

[5] Bergson, Henri: Schöpferische Evolution, Hamburg 2013, S. XIII.

[6] Kolakowski, Bergson, S. 8.

[7] A.a.O., S. 9.

[8] Bergson, Evolution, S. XXXI.

[9] Kolakowski, Bergson, S. 10.

[10] Bergson, Henri: Philosophie der Dauer. Textauswahl von Gilles Deleuze, Hamburg 2013, S. 19.

[11] A.a.O., S. 20.

[12] Kolakowski, Bergson, S. 10.

[13] Bergson, Dauer, S. 28.

[14] Bergson, Dauer, S. 28.

[15] Kolakowski, Bergson, S. 15f.

[16] A.a.O., S. 10.

[17] Deleuze, Bergson, S. 53.

[18] Ebd.

[19] A.a.O., S. 131.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Henri Bergsons Philosophie der Dauer. Die wirkliche Zeit
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Philosophisches Seminar)
Veranstaltung
Probleme der Zeitphilosophie im 20./21. Jahrhundert
Note
1,3
Autor
Jahr
2017
Seiten
14
Katalognummer
V452444
ISBN (eBook)
9783668849037
ISBN (Buch)
9783668849044
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Philosophie, Zeit, Zeitphilosophie, Dauer, Bergson
Arbeit zitieren
Kevin-Michael Neimeier (Autor:in), 2017, Henri Bergsons Philosophie der Dauer. Die wirkliche Zeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/452444

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