Das entwurzelte Selbst. Die Perspektive des Kommunitarismus


Seminararbeit, 2018

25 Seiten, Note: 2

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Definition des Kommunitarismus
2.1. Was bedeutet ״Kommunitarismus“?

3. Kritik des ungebundenen Selbst - Michael Sandei
3.1. Das ungebundene Selbst
3.2. Rawls Prinzipien der Gerechtigkeit

4. Kritik des atomischen Individuums - Charles Taylor
4.1. Vertragstheorie
4.2. "Wie viel Gemeinschaft braucht die Demokratie?“

5. Die kommunitarische Kritik am Liberalismus - Michael Walzer
5.1. Erster Einwand
5.2. Zweiter Einwand
5.3. Die vier Mobilitätsformen

6. Resümee

7. Quellen

1. Einleitung

Seit dem Anfang der 1980er Jahren prägt eine neue Welle des Denkens, die aus Nordamerika stammt, die politische Debatte. Es handelt sich dabei um den ״Kommunitarismus“. Abgeleitet wird dieser Begriff von dem englischen Wort ״Community“, das Gemeinschaft oder Gemeinwesen bedeutet. Genau dies ist auch der Appell des Kommunitarismus. Der Kommunitarismus sieht die Gerechtigkeit als ein Problem der (westlichen) Gesellschaft an, die sowohl liberal (universalistisch) als auch kommunitär (partikularistisch) funktioniert (vgl. Opielka 1995, s. 54). Deshalb fordern die Kommunitarier mehr Gemeinschaft und mehr Solidarität in der Gesellschaft. Aus diesem Grund kann man den Kommunitarismus auch als Gegenbewegung zum Liberalismus ansehen.

Zu den Vertretern des Kommunitarismus zählen insbesondere Soziologen und Philosophen, wie zum Beispiel der Soziologe Amitai w. Etzioni oder Michael Walzer, die sich für eine Reformierung und eine Politisierung der Bürgerschaft einsetzen (vgl Kallscheuer 1994, s. 115). Etzioni und Walzer gründeten eine Gruppe, mit der sie gemeinsam am 18. November 1991 eine kommunitarische Plattform entwickelten (vgl. Meier 2001, s. 11).

Kommunitarier sehen die wachsende Individualisierung als Gefahr für die Gesellschaft an. Wenn die Gemeinschaft stark genug ist, erst dann kann sich der einzelne als gesellschaftliches Wesen in einer Gesellschaft frei entfalten. Laut Alexis de Tocqueville, der 1840 in seiner Demokratieanalyse die amerikanischen Gesellschaft beschrieb, artet der Individualismus in der amerikanischen Gesellschaft nicht aus, da es ein lebhaftes Gemeinschaftsleben und eine hohe soziale Verantwortung des Einzelnen gegenüber dem Gemeinwesen gibt (vgl. Tocqueville 1962, s. 125ff.). Tocqueville beschreibt außerdem, dass die Menschen nach einem Zerfall der Gemeinschaft, nebeneinander stehen, ohne dass sie ein gemeinsames Band zusammenhält (vgl. Tocqueville 1962, s. 432).

Der Kommunitarismus ist eng mit dem Begriff der ״sozialen Gerechtigkeit“ verbunden. Im Zentrum von sozialer Gerechtigkeit steht hier die Idee der Reziprozität. So definiert Etzioni: ״Jedes Mitglied der Gemeinschaft ist allen etwas schuldig, die Gemeinschaft schuldet jedem ihrer Mitglieder etwas. Gerechtigkeit erfordert verantwortungsbewusste Individuen in einer verantwortlichen Gemeinschaft. Verlangt wird nicht heroische Selbstaufopferung, sonder das stete Bewusstsein, dass keiner eine Insel ist, vom Schicksal anderer unberührt bleibť (Etzioni 1998a, s. 295).

In dieser Arbeit möchte ich auf einige Vertreter des Kommunitarismus näher eingehen und ihre Grundzüge erläutern. Zuerst werde ich versuchen, den Begriff des ״Kommunitarismus“ zu definieren, um deutlich zu machen, was genau darunter zu verstehen ist.

Danach gehe ich auf Michael Sandei ein, der ein Schüler von Charles Taylor war. Er argumentiert gegen John Rawls Buch ״Liberalism and the Limits of Justice“, da er der Meinung ist, dass Rawls zwei Grundprinzipien zu einem Widerspruch führen. Außerdem steht das ״ungebundene Selbst“ im Zentrum von Sandels Kritik.

Charles Taylor lehnt die Vertragstheorie von Hobbes und Locke ab, die von einem atomischen Menschenbild ausgeht. Er ist der Meinung, dass ein Mensch nicht unabhängig, frei ohne jeglicher sozialer Bindung leben kann. Außerdem stellt er drei Theoriekonzeptionen vor; er findet aber nur die letzte Theoriekonzeption, die des liberalen Republikanismus, als zutreffend.

Michael Walzer sieht die kommunitarische Kritik als eine ständige Begleiterscheinung des Liberalismus an. Jedoch hat er zwei Einwände gegen diese Kritik, die ich in diesem Kapitel erläutern werde.

Zu guter Letzt folgt ein Resümee zu den gezeigten Theorien von diesen drei Vertretern, Sandei, Taylor und Walzer und ein Ausblick, ob die Ansätze und Anforderungen des Kommunitarismus in Zeiten des Individualismus überhaupt durchgeführt werden können.

2. Definition des Kommunitarismus

2.1. Was bedeutet ״Kommunitarismus“?

Zunächst kann man unter dem Begriff des ״Kommunitarismus“ nur ein begriffliches Konstrukt verstehen, indem unterschiedliche, meist nicht homogene Ideen von unterschiedlichen Autoren miteinander verbunden sind. Ausgehend von Nordamerika nahm das ״kommunitarische Denken“ seit den achtziger Jahren einen bedeutenden Einfluss sowohl auf die Intellektuellen als auch auf die Politik. Mitunter beschäftigten sich abstrakte fachwissenschaftliche Diskussionen über das vorherrschende individualistische Menschenbild aber auch Artikel von publikumswirksamen Bestsellern in demselben Maßen mit dem Thema ״Kommunitarismus“. Das kommunitarische Denken kann man als eine Antwort auf den rücksichtslosen ökonomischen Individualismus der Reagan-Jahre, die Ausweitung von Armut, die Schließung von Fabriken, die die Arbeiter und Angestellten hart trafen und auf das Streichen von Sozialprogrammen, sehen (vgl. Reese-Schäfer 1994, S.7/27).

Um was konkret handelt es sich also bei dem ״Kommunitarismus“ bzw. bei dem ״kommunitarischen Denken“? Das Ziel von Kommunitariern ist es, die vorherrschenden philosophischen und politischen Auffasungen in den westlichen Gesellschaften einer gründlichen Selbstreflexion und Kritik zu unterziehen. Kommuni tari sten sind der Meinung, dass ״eine Gesellschaft, die sich konsequent auf atomisierte, voneinander isolierte und ihrem Eigeninteresse folgende Individuen stützen will ihre eigenen Grundlagen dadurch untergräbt (Reese-Schäfer 1994, S.7). Der Kommunitarismus geht im Gegensatz zum Liberalismus von einer Gemeinschaftsorientierung des Individuums aus. Dabei soll der Staat nicht nur auf individuelle Zwecke eingehen, sondern auch das Gemeinwohl ins Zentrum ihrer Aufgaben stellen (vgl. Meier 2001, s. 15).

Man kann zwar behaupten, dass das liberale Menschenbild am Anfang eine befreiende Wirkung gegenüber herkömmlichen Ordnungen hatte, jedoch konnte die liberale Gesellschaft nicht ohne das Mitwirken von Bürgertugenden und Bürgerengagements funktionieren. Kommunitaristen appellierten deshalb, sich an Traditionen und eingelebte Verhaltensweisen zu halten. Hierfür bezogen sie sich auf konkrete Fälle und Beispiele. Der Kommunitarismus und deren Vertreter haben sich zum Ziel gemacht, einen guten Staatsbürger zu schaffen. Dafür nahmen sie insbesondere die amerikanische Gesellschaft als Beispiel (vgl. Meier 2001, s. 14). Walzer definierte ein gutes Leben dementsprechend folgend: ״Ein gutes Leben zu führen, heißt, politisch aktiv zu sein, mit seinen Mitbürgern zusammenzuarbeiten, kollektiv unser gemeinsames Schicksal zu bestimmen - nicht um dieser oder jener konkreten Entscheidung, sondern um der Tätigkeit des politischen Handelns selbst willen, in der unsere höchsten Fähigkeiten als vernünftige und moralische Wesen ihren Ausdruck finden(Walzer 1996, s. 67).

In der heutigen modernen Gesellschaft gibt es immer mehr einzelne Individuen anstelle von einer Gemeinschaft. Wenn man nur seine eigenen Interessen und Ziele verfolgt, verliert das Individuum seinen Wert als soziales Wesen und somit zerstört es das Netz der gesellschaftlichen Bindungen (vgl. Meier 2001, s. 14).

Etzioni sieht das Problem in dem Zerfall der modernen Gesellschaften darin, dass einzelne Gruppen bzw. Gemeinschaften, wie zum Beispiel die Familie, ihren Funktionen nicht mehr nachgehen. So kommen Familie nicht mehr ihrer Erziehungsfunktion nach, die Familien selber werden durch Scheidungen zerstört, was wiederum andere nachkommende Beziehungsstrukturen zerstören kann. Außerdem vermitteln Schulen und Universitäten keine Moral und keine Werte mehr und auch die Bereitschaft zur Solidarität in der Arbeitswelt nimmt ab (vgl. Etzioni 1998b). Für eine funktionierende Gemeinschaft sind fünf Punkte erforderlich: ein Netz guter Beziehungen, ein einfacher und offener Zugang, gegenseitiges Kennenlernen und Verstehen, Dialog und Feedback und eine gemeinsame Erinnerung bzw. eine Geschichte, die man miteinander teilt (vgl. Meier 2001, s. 15).

Das kommunitarische Denken kann nicht als neues politisches Denken aufgefasst werden. Vielmehr soll dieses Denken als Anleitung dienen, wie man zurück zur Wirklichkeit des Basiskonsens kommt, was die Grundlage für pluralistische Gesellschaften ist. Kommuni tari sten setzen sich für sozialwissenschaftliche Argumentationsweisen ein, indem man Urteilsvermögen, historische Informiertheit und Klugheit als Arbeitswerkzeuge einsetzen soll. Außerdem sind sie gegen die inhaltsleeren Deduktionen der akademischen Moralphilosophie. Anhand dieser Herangehensweise schaffen sie es, dass ihre Argumentationen stärker Anklang bei Fragen finden, in denen es zum Beispiel um die multikulturelle Gesellschaft und/oder die Einwanderungspolitik geht (vgl. Reese­Schäfer 1994, s. 10f.).

Ihre Herkunft haben die kommunitarischen Denkweisen in den klassischen Themen der politischen Philosophie. Dabei geht es vor allem um Themen, wie den Aristotelismus und Neoaristotelismus, den Unterschied antiker und moderner Vorstellungen von Freiheit, den Gegenteil von Republikanismus und Demokratie, den Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft, Patriotismus und Universalismus, wie auch um den Unterschied von positiver und negativer Freiheit. Aber auch die Auseinandersetzung mit der Basisdemokratie und den modernen Formen von politischer Zivilreligion gehören dazu (vgl. Reese-Schäfer 1994, s. 11.).

Ausgehend von der USA, nahm der Kommuni tari smus und somit die kommunitarische Kritik am Liberalismus auch im europäischen Raum eine tragenden Rolle ein, zum Beispiel bei Diskussionen um das Bürgerengagement und die direkte Beteiligung der Bürger sowohl inner- als auch außerhalb des Parteiensystems, aber auch bei der Kritik an zentralisierten Bürokratien und Regionalbewegungen (vgl. Reese-Schäfer 1994, s. 8).

Zu den bekanntesten ״Kommunitariem“ zählen Robert Bellah, Amitai Ezioni, Alasdair MacIntyre, Michael Sandei, Charles Taylor und Michael Walzer. Obwohl sie alle als Vertreter des Kommuni tari smus angesehen werden, unterscheiden sich diese sechs Autoren hinsichtlich ihrer Ideen, Argumentationen und Herangehensweisen. Dennoch haben sie die Gemeinsamkeit, dass sie einen zunehmenden Individualismus sowohl in der Sozialwissenschaft als auch in der Gesellschaft ablehnen.

3. Kritik des ungebundenen Selbst - Michael Sandei

Michael Sandels Buch ״Liberalism and the Limits of Justice“ aus dem Jahre 1982 trug vor allem dazu bei, dass der Begriff ״kommunitarisch“ eine bedeutende Rolle zugetragen wurde. Mit diesem Buch hat die kommunitarische Kritik an den liberalen Vorstellungen begonnen.

Hier argumentierte Sandei gegen John Rawls Buch ״Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (1979). Dieses Buch war mitunter das Hauptwerk der politischen Philosophie, da Rawls Kerngedanken von Immanuel Kant in die Diskussion einführte. Rawls stellt klar, dass für ihn die Gerechtigkeit als Fairness eine politische Gerechtigkeitskonzeption ist, die er für politische, gesellschaftliche und ökonomische Institutionen herausgearbeitet hat (vgl. Rawls 1992, s. 255f.).

Der Hauptgedanke, den Rawls in diesem Buch aufnimmt, ist, dass nicht Glück und das gute Leben Grundprinzipien von der politischen Ethik sein sollten. In einer gerechten Gesellschaft sollte nicht das Fördern von bestimmten Zielen im Vordergrund Stehen. Man sollte den Bürgern vielmehr Raum zur Entfaltung von eigenen Zielen geben, die sich aber mit den Freiheiten jedes einzelnen decken sollten (vgl. Honneth 1993, s. 19/Reese-Schäfer 1994, s. 13).

Für Rawls hat das Gerechte Vorrang gegenüber dem guten Leben (steht im Gegensatz zu teleologischen Konzepten) und es soll kein individuelles Recht dem Allgemeinwohl geopfert werden. Diese Aussage von Rawls steht stark im Gegensatz zu den Forderungen des Utilitarismus. Diese sieht das größte Glück der größten Zahl als Ziel an (vgl. Honneth 1993, s. 19). Somit wäre eine Gesellschaft, die das Glück einzelner zugunsten des Glücks der Allgemeinheit opfern würde, eine ungerechte Gesellschaft (vgl. Reese-Schäfer 1994, s. 14).

Damit man Sandels kommunitarische Kritik an Rawls verstehen kann, muss man außerdem einige weitere Gedanken seiner Theorie aufgreifen. So ist es wichtig zu wissen, dass Rawls Kants Idee vom autonomen Subjekt durch die Konstruktion eines Urzustandes ersetzt hat. In diesem Urzustand sind alle gleich. Entscheidungen werden ohne Wissen über mögliche individuelle Besonderheiten, die zu bestimmten Vor- oder Nachteilen führen können, getroffen. Jedoch weiß keiner, welcher Gruppe er angehört - den Armen oder Reichen, den Privilegierten oder den Benachteiligten. Somit wissen die Beteiligten auch nicht, ob ihre Entscheidungen zu einem Vorteil für ihre Person selbst oder für die Gruppe führen werden. Das nennt Rawls die Prinzipien der Gerechtigkeit (vgl. Reese­Schäfer 1994, s. 15).

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Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Das entwurzelte Selbst. Die Perspektive des Kommunitarismus
Hochschule
Universität Salzburg
Note
2
Jahr
2018
Seiten
25
Katalognummer
V452585
ISBN (eBook)
9783668850286
ISBN (Buch)
9783668850293
Sprache
Deutsch
Schlagworte
selbst, perspektive, kommunitarismus
Arbeit zitieren
Anonym, 2018, Das entwurzelte Selbst. Die Perspektive des Kommunitarismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/452585

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