Multiperspektivität im Geschichtsunterricht


Hausarbeit (Hauptseminar), 2018

12 Seiten, Note: 2,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.0 Einleitung

2.0 Das multiperspektive Prinzip

3.0 Schwachpunkte des multiperspektiven Prinzips

4.0 Unterrichtsentwurf

5.0 Ausblick

6.0 Quellen- und Literaturverzeichnis

1.0 Einleitung

Multiperspektivität ist ein geschichtsdidaktisches Prinzip, welches von Klaus Bergmann konzipiert wurde und dem „traditionellen Geschichtsunterricht“1, der einem „Prinzip der Monoperspektivität“2 folge, diametral gegenübersteht. Im Folgenden werde ich eine begründete Definition der „Multiperspektivität“ nennen und sie abgrenzen von anderen Themen. Anschließend werden Problematiken der Multiperspektivität dargestellt, die dem „traditionellen Geschichtsunterricht“ entgegenstehen. Abgeschlossen wird diese Ausarbeitung mit einem Unterrichtsbeispiel, orientiert an der multiperspektiven Methodik und einer eigenständigen Bewertung des Themas.

Das sich dieses Prinzip etabliert hat, ist erkennbar daran, dass das Prinzip der Multiperspektivität in den Rahmenlehrplänen aller deutschen Bundesländer wiederzufinden ist. Für die Aufbereitung der Unterrichtsinhalte und die Organisation des Lernprozesses soll die Lehrkraft neben der Multiperspektivität folgende weitere Prinzipien beachten: Problemorientierung, Kontroversität, Pluralität und Interkulturalität, Wissenschaftsorientierung, Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung und Handlungsorientierung.3 Die Grundlage, auf der Bergmann sein Prinzip konzipiert hat, ist der Terminus „Perspektivität“. Dieses definiert er wie folgend: Perspektivität sei ein „Grundsachverhalt menschlicher Wahrnehmung und Deutung der Wirklichkeit-bei der Orientierung in der Wirklichkeit und bei den Handlungsabsichten gegenüber der Wirklichkeit“4. Perspektivität ist somit ein Merkmal des Wesens des Menschen und dient ihm als Orientierungshilfe in der Wirklichkeit. Der Ursprung dieses Terminus liegt in der Malerei und wurde von der Literaturwissenschaft übernommen, um Erzähltexte analysieren zu können. Die Bedeutung der Multiperspektivität liegt auf den Ebenen der Erfahrung, der Orientierung und der Deutung. Und ist somit ein elementarer Bestandteil des historischen Erkennens.5

Nach Klaus Bergmann ist die Multiperspektivität unabdingbar, denn der traditionelle Geschichtsunterricht sei nur ein Belehrung- und Gesinnungsunterricht gewesen. Statt historische Tatsachen zu lehren, hätten sie bestimmte Narrative über die Vergangenheit gelehrt, die nur dazu gedient hätten den Schüler bzw. die Schülerin zu vereinnahmen, um sie zu unmündigen Bürger zu erziehen. Nach Bergmann hätte es bis zur Revolution der 68 Jahren nur ein Kanon an Unterrichtinhalten gegeben, die wiederspruchlos von den Adressaten aufgenommen worden wären.6 Diese Änderung von der monoperspektivischen, einseitigen Sicht zu der multiperspektivischen historischen Sicht war unabdingbar, denn der klassische Historismus konnte die Moderne und die komplexen Aufgaben der aufkommen neuen Teilbereiche der Geschichte, wie die Sozialgeschichte, die Alltagsgeschichte oder die Kulturgeschichte nicht lösen. Die Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft wurde daher gezwungenermaßen neu aufgenommen.7 Historiker und Historiker erkannten, dass jede Geschichte perspektivisch sei und daher die Standpunktreflexion essentiell sei. Ohne Reflexion der Standpunktabhängigkeit wäre die Geschichtstheorie weiterhin nur ein „naiver Dogmatismus.“8 Auch die Sicht über den Zweck der Lehre änderte sich radikal. Nicht nur die Abhängigkeit zwischen dem Geschichtsunterricht und der Geschichtstheorie wurde von der Geschichtsdidaktik richtig erkannt, sondern auch, dass die Lehre frei sein sollte von jeglichen Einflüssen von außen, wie z.B. dem Staat. Bildung sei nicht mehr eine Ansammlung von geistigen Besitztümern, sondern etwas reflektiver Prozess, in der sich der Mensch selbst bilde und Sinn finden würde.9 Übertragen auf den Geschichtsunterricht hieß die Änderung des lehrerzentrierten Unterrichts hin zu einem schülerorientierten Unterricht. Jeder Schüler und jede Schülerin sollte dazu motiviert werden, selber historisch zu denken, um „die Kategorie eigener kritischer Welterfassung und -bemeisterung“10 zu erlernen. Durch dieses historische Denken lernen sie auch in Auseinandersetzung der Gegenwart mit den Zusammenhängen des eigenen Lebens die Wirklichkeit zu betrachten. Diese Kompetenz wird auch „narrative Kompetenz“ genannt und beschreibt die Fähigkeit „auf eine vernünftige Weise sich selber eine verantwortbare Antwort auf eine historische Frage geben zu können- eine vertretbare „historische Sinnbildung“ zu erarbeiten und erzählen zu können.11 Dieses ermöglicht die Gegenwart gedanklich zu transzendieren und aus der Erinnerung an die Vergangenheit eine Vorstellung von einer lebenswerten Zukunft zu entwickeln.12 Um diese Kompetenzen zu erreichen, wurde die Perspektivität historisches Erkennens in das Konzept des historischen Lernens integriert. Historische Sachverhalte werden von den Schülern und Schülerinnen aus den Perspektiven verschiedener Menschen betrachtet, die an einem historischen Ereignis beteiligt oder von einem historischen Ereignis betroffenen waren. Alle diese Menschen haben das historische Ereignis in ihrer jeweiligen Lebenssituation verschieden wahrgenommen und hatten auch unterschiedliche Intentionen auf die Situation einzuwirken oder nicht. Diese Diversität der Wahrnehmungen kommt dadurch zustande, dass die Menschen in verschiedene Herrschaftsverhältnissen verwickelt waren, verschiedene Geschlechter hatten, oder verschiedene politische oder religiöse Überzeugungen in sich trugen. Die Schüler und Schülerinnen werden nun mit dieser Vielzahl an verschiedenen Perspektiven auf ein historisches Ereignis konfrontiert, damit sie sich historisch denkend mit ihnen auseinandersetzen.13 Also handelt es sich um den Begriff der Perspektivität eher um eine „soziale Perspektivität“14.

2.0 Das multiperspektive Prinzip

Multiperspektives Lernen wird nach Bergmann erst durch die folgenden fünf essentiellen Operationen historischen Denkens und historischer Erkenntnis möglich. Um vergangene Wahrnehmungen überhaupt bewusst zu übernehmen und nachbilden zu können, ist unbedingt ein Einüben in Verstehen und Empathie notwendig.15 Denn eine Wahrnehmung nachbilden zu können, bedeutet auch die emotionale Ebene der Wahrnehmung nachempfinden zu können (Fremdverstehen). Und das ist ohne Empathievermögen nur schwer möglich. Dieses ist der erste Operator. Der zweite Operator ist das Einüben von Rahmenbedingungen, in dem der Schüler und die Schülerin vergangene Perspektiven in den historischen Kontext einordnen kann. Der dritte Operator ist das Erkennen der Schüler und Schülerinnen, dass mithilfe von Deutungen von historischen Quellen die vergangene Wirklichkeit rekonstruiert wird und es daher zu unterschiedlichen Ansichten führen kann.

Der vierte Operator ist die Erkenntnis, dass die Deutungsfähigkeit unbestreitbar verbunden ist mit der eigenen subjektiven Perspektive. Der letzte und fünfte Operator ist das Erlernen und Einüben eines reflektierten Urteilsvermögens, um das „Handeln und Leiden von Menschen in ihrer Zeit mit Sach- und Werturteilen bewerten zu können.“16 Das Prinzip der Multiperspektivität fordert daher nicht nur auf, verschiedene perspektivistische Quellen im Unterricht zu verwenden, sondern auch Fach und Sekundärtexte zu nutzen. Die Multiperspektivität hat nach Bergmann drei Ausdrucksformen. Zum einen die Multiperspektivität aus den Quellen der Vergangenheit, in dem die Menschen, in einem historischen Sachverhalt denkend lebten. Zum anderen findet die Multiperspektivität ihren Ausdruck in der Betrachtung des historischen Sachverhaltes von späteren Forschern oder anderen Betrachten, die ihre Sicht über den Sachverhalt übermittelten. Diese Ausdrucksform nennt Bergmann Kontroversität. Die letzte Ausdrucksform der Multiperspektivität ist die Pluralität: Die Schüler und Schülerinnen setzen sich mit den multiperspektivistischen und kontroversen Darstellungen auseinander und bilden unterschiedliche Ansichten und Urteile über einem bestimmten historischen Sachverhalt.17

3.0 Schwachpunkte des multiperspektiven Prinzips

Doch leider hat dieses Prinzip einige Schwachpunkte, die im Folgenden erläutert werden. Die Lernenden benötigen Hintergrundinformationen, um die Quellen historisch richtig einordnen zu können, sogenannte Hintergrundnarrative. Sie müssen in der Lage sein, die gesellschaftlichen, sozialen, politischen oder religiösen Hintergründe der jeweiligen Zeit zu verstehen. Außerdem soll der Schüler und die Schülerin befähigt werden, sich in die Perspektive anderer zu versetzen, in dem sie die Quelle bearbeiten. Dieses soll nach Bergmann möglichst in einer Ich-Form geschehen. Hier zeigt sich nach Michael Lücke schon das erste Problem. Denn die Hintergrundnarrative, die dem Lernenden aufbereitet werden, sind schon ein Narrativ der Vergangenheit an sich, das heißt, sie sei absichtsvoll und verdichtet konstruiert worden. Bergmann ist sich dieses Problems bewusst, doch dieser schlägt vor, den Lernenden durch chronikartige Verknüpfung von Ereignissen der Vergangenheit , Hintergrundinformationen zu liefern, also ein Minimum an Fakten zur Verfügung zu stellen.18 Doch auch hier sieht Michael Lücke ein Dilemma: Erhalten die Schüler und Schülerinnen zu wenig Informationen, sein die Schüler und Schülerinnen nicht in der Lage multiperspektive Quellen zu verstehen oder gar kritisch zu interpretieren. Würde man den Schüler und Schülerinnen dagegen zu viele Hintergrundnarrative zur Verfügung stellen, wäre es bereits ein zu starkes perspektivistisches Konstrukt an sich.19 Stattdessen sollten die Schüler und Schülerinnen die narrative Kompetenz lernen, Informationen, die vermeintlich minimal perspektivistisch erscheinen, kritisch zu hinterfragen, und die perspektivistische Deutung der Vergangenheit von den Elementen der unstrittigen historischen Fakten trennen.20

Das zweite Problem, dass Michael Lücke an dem multiperspektivistischen Prinzip sieht, ist das Reden der Schüler und Schülerinnen in der Ich-Form. Sie sollen so erlernen eine Perspektive zu übernehmen. Genauer gesagt sei dieses die „Fähigkeit, die Welt mit den Augen der anderen zu sehe und sich selbst mit den Augen der anderen zu sehen.“21 Zwar sei diese Fähigkeit zielführend, um eine interkulturelle Kompetenz zu erlernen, allerdings präferiert er andere Methoden, wie z.B. das Umerzählen perspektivischer Texte oder ein opponierendes Erzählen, in dem der Lernende eine Stellung gegen etwas bezieht. Denn die Forschung hätte gezeigt, dass es sehr schwierig sei aus Selbstzeugnissen der Vergangenheit die authentische Subjektivität oder soziale Identität eines Menschen aus einer vergangenen Zeit nachzuempfinden. Denn zunächst ist eine Quellenkritik von Nöten, der die jeweiligen Vorstellungen von Person, Subjektivität und Identität beachtet, die in dieser Zeit vorherrschend waren. Diese Problematik nennt Michael Lücke „das Problem der Authentizität in Selbstzeugnissen.“22

Ein weiteres Problem an dem multiperspektivistischen Konzept sieht Lücke in der Gefahr, dass die „stummen Gruppen“, wie z.B. Bauern oder Sklaven, stereotypisch beschrieben werden und historische Narrative entwickelt werden, die nur auf Spekulationen aufbauen, um diese „Lücken“ der stummen Gruppen zu füllen. Stattdessen solle man einsehen, dass diese Gruppen wohl stumm bleiben sollten, weil erstens die Quellen fehlen und zweitens, weil dieses gerade ihre reale Machtlosigkeit innerhalb der Herrschaftsverhältnisse zeige.23 Dennoch sieht Michael Lücke, trotz dieser Problematiken das multiperspektivistische Konzept als essentiellen Bestandteil des historischen Lernens, der die Schüler und Schülerinnen dazu befähige, selber Geschichte zu denken.24

4.0 Unterrichtsentwurf

Im Folgenden werde ich mithilfe dieser multiperspektiven Methode ein Unterrichtsbeispiel für die Sekundarstufe 2 skizzieren. Zur Hilfe werden die neuen Fachanforderungen für Schleswig-Holstein, die 2018 erschienen sind, für das Fach Geschichte herangezogen.

Ein verbindliches Thema für die Sekundarstufe ist die „Betrachtung von Deutschland und Europa seit 1945: Von der Spaltung zur Integration?“25. Historische Inhalte wie die DDR, die BRD, und die Rolle Deutschlands in Europa sollen

[...]


1 Martin Lücke, Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch, Bd. 1, S.281.

2 Martin Lücke, Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch, Bd. 1, S.281.

3 Schleswig-Holstein: Fachanforderungen Geschichte Sekundarstufen I/II, Seite 12.

4 Martin Lücke, Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch, Bd. 1, S.282.

5 Martin Lücke, Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch, Bd. 1, S.282.

6 Martin Lücke, Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch, Bd. 1, S.282.

7 Klaus Bergmann: Multiperspektivität: Geschichte selber denken. Schwalbach/Ts.2000, S.21.

8 Klaus Bergmann: Multiperspektivität: Geschichte selber denken. Schwalbach/Ts.2000, S.22.

9 Klaus Bergmann: Multiperspektivität: Geschichte selber denken. Schwalbach/Ts.2000, S.22.

10 Klaus Bergmann: Multiperspektivität: Geschichte selber denken. Schwalbach/Ts.2000, S.23.

11 Klaus Bergmann: Multiperspektivität: Geschichte selber denken. Schwalbach/Ts.2000, S.22.

12 Klaus Bergmann: Multiperspektivität: Geschichte selber denken. Schwalbach/Ts.2000, S.24.

13 Martin Lücke, Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch, Bd. 1, S.284.

14 Martin Lücke, Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch, Bd. 1, S.284.

15 Martin Lücke, Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch, Bd. 1, S.285.

16 Martin Lücke, Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch, Bd. 1, S.285.

17 Martin Lücke, Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch, Bd. 1, S.285.

18 Martin Lücke, Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch, Bd. 1, S.286.

19 Martin Lücke, Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch, Bd. 1, S.287.

20 Martin Lücke, Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch, Bd. 1, S.287.

21 Martin Lücke, Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch, Bd. 1, S.287.

22 Martin Lücke, Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch, Bd. 1, S.287.

23 Martin Lücke, Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch, Bd. 1, S.288.

24 Martin Lücke, Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch, Bd. 1, S.288.

25 Fachanforderung: S.21.

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Multiperspektivität im Geschichtsunterricht
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel
Note
2,3
Jahr
2018
Seiten
12
Katalognummer
V453059
ISBN (eBook)
9783668870369
ISBN (Buch)
9783668870376
Sprache
Deutsch
Schlagworte
multiperspektivität, geschichtsunterricht
Arbeit zitieren
Anonym, 2018, Multiperspektivität im Geschichtsunterricht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/453059

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