Leseprobe
Gliederung/Inhaltsverzeichnis
O.) Hinführung zum Problem des „Zeit-Raums als Ab-grund“ in Heideggers Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis)
I.) Die Konzeption des „dreifach gestreuten Gründens“ in Vom Wesen des Grundes als Vorverständigung über den Begriff des Ab-grunds in den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis)
II.) „Sicheröffnen des Sichverbergenden“. Rekonstruktion zentraler Gedankengänge aus Heideggers Bestimmung des Zeit-Raums als Ab-grund
II.1) „Wahrheit als Grund“. Die Verschränkung von Seins- und Wahrheitsfrage im Konzept des Zeit-Raums als Ab-grund
II.2) Fügungen des „zögernden Sichversagens“. Über einige sprachliche und sachliche Paradoxien im Beiträge – Kapitel „Der Zeit Raum als der Ab-grund“
II.3) Über den Zeit-Raum als Entrückungs – Berückungs- Gefüge und die Genese der differenten Zeitigungweisen
Literaturverzeichnis
“Nicht hier, nicht am Anfange von Zeit und Raum wurde die Frucht vom Baume der Lust und des Todes gebrochen und gekostet. Das liegt vorher. Der Brunnen der Zeiten erweist sich als ausgelotet, bevor das End- und Anfangsziel erreicht
wird, das wir erstreben; die Geschichte des Menschen ist älter als die materielle Welt, die seines Willens Werk ist, älter als das Leben, das auf seinem Willen steht.“ (Thomas Mann, Höllenfahrt)
O.) Hinführung zum Problem des „Zeit-Raums als Ab-grund“ in Heideggers Beiträgen zur Philosophie
Ausgangs des fünften Kapitels seiner Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) hat Heidegger einen Teilabschnitt unter dem Titel „Der Zeit-Raum als der Ab-grund“ eingeschoben. Dieses fünfte Kapitel korreliert dem Anspruch der Beiträge nach der sogenannten fünften Fügung der Seinsfuge, deren Genese Heidegger seinsgeschichtlich auseinander zu legen trachtet, und es firmiert als Die Gründung. Um die Problematik des Zeit-Raums als Abgrund innerhalb der „Gründung“ als Fügung weiter einzukreisen, so lässt sich mit Seubert mutmaßen, dass die Frage nach dem Zeit-Raum ebenso wie die Frage nach dem Wesen der Wahrheit als „Entfaltungen“[1] einer Initialfrage, nämlich „nach dem Dasein in seinem Verhältnis zum geschichtlichen Seinsgeschehen“[2] anzugehen sei. In diesem Dreischritt des Fragens organisiert sich Heideggers emphatische Auffassung der Gründung als ein Doppelgeschehen im Ereignis: So sehr es dann einerseits das Seyn ist, das sich in eigendynamischer Bewegung dem Dasein zuwerfend ereignet und dieses Dasein als seinen Grund im Sinne etwa von „Heimstatt“ gründet, so sehr bleibt es dem Dasein aufgegeben, denkerisch-vorbereitend diese Gründungs-Stätte aller erst mitzugründen. Diese interne Doppelung der „Gründung“ hat Heidegger an früher Stelle des gleichnamigen Kapitels klar gestellt:
„ 1. Der Grund gründet, west als Grund (vgl. Wesen der Wahrheit und Zeit-Raum).
2. Dieser gründende Grund wird als solcher erreicht und übernommen.“[3]
Im Zuge der Diskussion des Zeit-Raums als Ab-grund wird nachzuzeichnen sein, welche Figur der
Einheit sich dieser doppelten Grundgebung verbindet.
Wollte man in aller Vorläufigkeit den Hauptzusammenhang der Heideggerschen Zeit-Raum- Konstruktion fixieren, der in den Beiträgen massiver als in früheren Schriften Heideggers an einen Gründungsvollzug (nämlich den Vollzug eines ab-gründigen Gründens) rückgekoppelt wird, so lässt sich zunächst eine Argumentation ex negativo nachzeichnen. Bei dieser Argumentation handelt es sich um Heideggers Aufweis, dass Raum und Zeit als philosophiegeschichtlich tradiertes Kategorienpaar an jener Verfallsgeschichte partizipieren, in der „die griechische Erfahrung der Seiendheit“ zunächst durch eine „christliche Auslegung des Seienden (...) unter Beibehaltung der Ergebnisse des Aristoteles“[4] und dann schubweise durch metaphysische Theoreme überlagert worden sei. Diese Traditionslinie korrumpierter Theoriebildung von „Raum und Zeit“ nimmt Heidegger zufolge ihren Ausgang von der Verschüttung einer kryptisch wirkenden „griechischen Erfahrung“, entwickelt sich über die aristotelisch-christliche Ontologie weiter zum (augustinisch-aquinischen) ordo – Gedanken, welcher seinerseits in säkularisierter Gestalt die Substanzontologien der Neuzeit diktiert und schließlich in „rechenhaft vorgestellter Verbindung“ im transzendentalen Idealismus Kantischer Prägung kulminiert[5].
Heideggers Diagnose lautet, dass sich Raum und Zeit in ungebrochener Fortführung des aristotelischen Modells philosophiegeschichtlich zu ihrer „rechenhaft vorgestellten Verbindung“ verstetigt haben und seither in den Dienst jenes Herrschafts- und Verfügungsdenkens genommen wurden, das sich innerhalb und außerhalb der Philosophie anschickt, ausnahmslos jedes Seiende in „Systeme“ einzuspannen. In scharfer Frontstellung zu dieser Verfügungsgeschichte, die spätestens mit der durch Kant abgesicherten Szientifizierung der Philosophie virulent wird, versucht Heidegger hinter die geläufigen Umgangsweisen mit Raum und Zeit zurückzufragen und ihre Herkunft aus einem Wahrheitsgeschehen zu verorten. Mehr noch: Raum und Zeit sind zwar auf einen vorgängigen „Zeit-Raum“ als ihr unverfügbarer Einheitspunkt zurückverwiesen, jedoch nur dann, wenn sie in ihrer spezifischen „Geschiednis“ und Inkommensurabilität aufgefasst werden.
Erst in dieser Gedankenwendung wird die Originalität der Neubeschreibung von Raum und Zeit, die Heidegger in den Beiträgen erahnen lässt, erkennbar: Was sich als „Wahrheit“ vollzieht und erfahrbar wird, kann nicht durch die apriorische Angabe seiner Ermöglichungsbedingungen formalisiert werden, sondern bindet sich vielmehr an das Geschehnis des „Zeit-Raums“:
„Was Wahrheit selbst ist, lässt sich nicht zuvor zureichend für sich sagen, sondern gerade im Begreifen des Zeit-Raumes.“[6]
Interessant ist hier die Reformulierung der Raum- und Zeitproblematik in Abhängigkeit von der Wahrheitsfrage, aber so, dass Raum und Zeit nicht transzendentalphilosophisch als reine Formen der Anschauung geltend zu machen sind. Vielmehr konstituieren sich sie umgekehrt in der Selbstentfaltung eines ihnen gegenüber Vorgängigen, das Heidegger als Zeit-Raum bzw., wie später nachzuvollziehen sein wird, als „zögerndes Sichversagen“[7] kenntlich macht.
Dieser vorgängige Zeit-Raum (oder genauer: „die ereignete Zerklüftung der Kehrungsbahnen des Ereignisses“[8]) erhellt für Heidegger offenkundig auch das Geschehen von Wahrheit. Eine erste Arbeitshypothese zu Heideggers Betrachtungen über den Zeit-Raum als Ab-grund muss also einschließen, dass einzig der Zeit-Raum ein Verständnis für „Wahrheit selbst“[9] eröffnen kann, sofern er als hervorgegangen aus einem noch zu klärenden ab-gründigen Gründungsvollzug begriffen wird. Methodisch ist für diese gedankliche Operation bereits in Anschlag gebracht, dass Raum und Zeit in Verkehrung sowohl von Transzendentalphilosophie als auch von Fundamentalontologie als Substrate eines unverfügbaren Gründungsvollzugs auftreten.
Im Folgenden soll versucht werden, der doppelten Struktur der Gründung, die Heidegger seiner Analytik von Raum und Zeit in den Beiträgen unterschiebt, vor dem Hintergrund der Kehrigkeit von „Seyn“ und „Da-sein“ kurz nachzugehen. Dies soll mit einem Seitenblick auf Heideggers Überlegungen geschehen, die sein Aufsatz Vom Wesen des Grundes präsentiert. In Sonderheit soll gezeigt werden, wie schon in diesem Text die Konstruktion eines „dreifach gestreuten“ Gründens an die seinsgeschichtliche Problematik rührt, die Heidegger in den Beiträgen vertieft. In einem letzten Schritt soll es darum gehen, die „Geschiednis“ von Raum und Zeit über eine Lesart der Entrückungs- bzw. Berückungsbewegungen zu erläutern, die das Kapitel über den Zeit-Raum offeriert.
I.) Die Konzeption des „dreifach gestreuten Gründens“ in Vom Wesen des Grundes als Vorverständigung über den Begriff des Ab-grunds in den Beiträgen zur Philosophie
Begreift man die Beiträge zur Philosophie werkgeschichtlich-sachlich nicht nur als Revision der Problemstellung von Sein und Zeit, sondern auch jener Vorlesungen und Aufsätze, die in den späten 20er Jahren entstehen, so verspricht Heideggers Traktat „Vom Wesen des Grundes“ zunächst kaum Aufschluss über den Terminus der „Gründung“, der in den Beiträgen so gewichtig wird. Und doch scheint es sich – auch angesichts der Tatsache, dass zwischen der Ausarbeitung der genannten Abhandlung und der Arbeitsstufe der Beiträge weniger als zehn Jahre liegen – nicht um miteinander völlig unverträgliche Argumentationsschritte zu handeln. Folglich lohnt sich ein Resümee der zentralen Bestimmung von „Grund“ bzw. „Gründung“, die in Vom Wesen des Grundes festgehalten sind.
Bemerkenswert ist jedenfalls die im Vorwort zur dritten Auflage von 1949 vorausgeschickte Aufforderung Heideggers an „die Besinnlichen“, das „nichtende Nicht des Nichts“[10], durch welches sich gemäß der Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? (und getreu Sein und Zeit) das vom Seiende erfahrene Sein kennzeichnet, zusammenzudenken mit dem „nichtenden Nicht“ zwischen Seiendem und Sein, also der ontologischen Differenz. Tatsächlich hatte es Heidegger diesem Vorwort zufolge geflissentlich unterlassen, das genannte Sachproblem in einem eigenen Text aufzugreifen, und insofern bleibt der Aufsatz Vom Wesen des Grundes jedenfalls aus der Warte von 1949 auf die Klärung der ontologischen Differenz restringiert – oder doch nicht?
Heidegger plädiert in Vom Wesen des Grundes nach bekanntem Muster dafür, eine Wahrheitsdimension aufzumachen, die sich der prädikativ-begrifflichen, logisch zweiwertigen Auffassung von Wahrheit als Richtigkeit der Aussage entzieht. Er verdeutlicht dort, dass der Satz vom Grunde als logisch-metaphysisches Prinzip in einen spezifischen „Bezirk der Transzendenz“ zurückverlegt werden muss. Mehr noch: Exklusiv in der „Verklammerung von Wahrheit, Grund und Transzendenz“ gerinnt jene „ontologische Wahrheit“, welche die in logischen Aussagen referierten Gegenstände als offenbar gewordenes Seiendes begegnen lässt und diese „Offenbarkeit von Seiendem“ über den Vollzug eines sich enthüllenden Seins erklärlich macht.
Wenn nun Heidegger im Durchgang durch einen philosophiehistorischen Exkurs über den Weltbegriff „Transzendenz“ mit dem „In-der-Welt-sein des Daseins“[11] zusammenschließt und aufzeigt, dass unter „Begründen“ kein logisch-praktisches Begründungsverhältnis, sondern „soviel wie Ermöglichung der Warumfrage“[12] fassbar ist, so ist in diesen Formulierungen selbstverständlich der von Sein und Zeit inspirierte, hermeneutisch operierende Seinsbegriff niedergelegt. Es wird zu zeigen sein, dass die Beiträge gegenüber dem Integrationsversuch von Ontologie und Hermeneutik, den Heidegger in den 20er Jahren und nicht zuletzt in Vom Wesen des Grundes liefert, eine markante Veränderung bedeuten. Spätestens in den Beiträgen ist nicht mehr aufrechtzuerhalten, was Heidegger „andeutungsweise“[13] in Vom Wesen des Grundes konzeptualisiert: Dass nämlich die (gleich kurz zu erläuternden) Weisen des Gründens „der Sorge der Beständigkeit und des Bestandes entspringen, die selbst wiederum nur als Zeitlichkeit möglich ist.“[14]
Die neuralgische Stelle in Heideggers Klarlegung, was das Wesen des Grundes sei, ist mithin im gleichnamigen Aufsatz das Dasein, und zwar in dessen Ausübung eines Gründungsakts, der letztlich als Transzendenz und mithin als eine Weise der Zeitigung zu beschreiben ist. Heidegger hat das so ansetzende Verständnis von Gründung auf drei Ebenen spezifiziert. Danach bedeutet Gründung zunächst soviel wie „stiftendes Gründen“, d.h. die Vorgabe von Existenzmöglichkeiten kraft Weltentwurf des Daseins. Komplementär zu dieser Figur ist nach Heidegger jene „Eingenommenheit im Seienden“, die aus dem schon immer überschießenden „Möglichen“, das den Entwurf bedingt, erhellt. Diese beiden Weisen des Gründens werden in einem eigentümlichen dritten Schritt aufgelöst, mit dem Heidegger idiosynkratischen Gebrauch von einem transzendentalphilosophischen Argument macht. Die beiden ersten Gründungsweisen (Möglichkeit, Boden) sollen nämlich eingeholt werden durch das Vermögen des Daseins, Seiendes in seiner Faktizität ontologisch auszuweisen, also etwa kausal oder psychologisch-deskriptiv zu „rechtfertigen“. Diese Überlegung Heideggers pointiert sich jedoch gerade darin, dass „es im Dasein jeweils der Freiheit überlassen sei, wie weit die Ausweisung getrieben wird und ob sie sich gar zur eigentlichen Begründung, d.h. Enthüllung ihrer transzendentalen Möglichkeiten versteht“.[15]
[...]
[1] Seubert, S. 203.
[2] Ebd.
[3] Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), S. 307.
[4] Ebd., S. 373.
[5] Bergsons lebensphilosophischer Ansatz einer „erlebten Zeit“, der in die „ekstatisch-horizontale Zeitlichkeit“ aus Sein und Zeit affirmativ mindestens als Moment der Verflüssigung funktional eingebaut zu sein scheint, bildet, in einem Nachsatz auftretend, für Heidegger den überraschenden Schlusspunkt dieser auf die Rechenhaftigkeit und Mathematisierung von Raum und Zeit zulaufenden Verfallsgeschichte. Vgl Ebd., S. 373.
[6] Ebd., S. 372.
[7] Ebd., S. 381.
[8] Ebd., S. 372.
[9] Ebd.
[10] Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 123.
[11] Ebd., S. 161.
[12] Ebd., S. 166.
[13] Ebd., S. 169.
[14] Ebd.
Einige Sätze später findet sich das wohl schlagendste Indiz dafür, dass Heidegger in diesem Text nahezu bruchlos das Theorem von Sein und Zeit weiterdiskutiert, das in der phänomenologischen Auszeichnung des Daseins vor allem Seienden gleichsam den Subjektgedanken neuzeitlicher Dualismen wiedergewinnt. Heidegger schreibt: „Zum Wesen des Seins aber gehört Grund, weil es Sein (nicht Seiendes) nur gibt in der Transzendenz als dem weltentwerfend befindlichen Gründen.“ Ebd., S. 169f.
[15] Ebd., S. 167.