Die vorliegende Arbeit diskutiert kurz die Implikationen von Geschichtskultur im Allgemeinen und untersucht dann das Mittelalter als Teil der Geschichtskultur im Besonderen. Die kategoriale und unterrichtspraktische Bedeutung von Geschichtskultur wird am Beispiel des Mittelalters für Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht beleuchtet. Den Ausführungen ist ein kurzer Abriss der Entwicklung vorangestellt, die zu den heutigen Versuchen des Brückenschlags zwischen Wissenschaft und Leben geführt hat, um das seit erst relativ kurzer Zeit bestehende Interesse von Geschichtsdidaktik und -unterricht an diesem Phänomen im historischen Kontext der Geschichtswissenschaft zu verorten.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Zum Thema
1.2. Ein erweiterter Geschichtsbegriff
1.3. Zur Definition des Begriffs Geschichtskultur
2. Geschichtskultur und Geschichtsdidaktik
3. Geschichtskultur und Geschichtsunterricht
4. Das Mittelalter als Teil der Geschichtskultur
4.1. Außerhalb von Forschung und Lehre
4.2. In Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht
5. Zusammenfassung
6. Literaturverzeichnis
1. Einführung
1.1. Zum Thema
Im Folgenden sollen Geschichtskultur im Allgemeinen und das Mittelalter als Teil der Geschichtskultur im Besonderen in ihrer kategorialen und unterrichtspraktischen Bedeutung für Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht untersucht werden. Um das seit erst relativ kurzer Zeit bestehende Interesse der letzten Beiden an diesem Phänomen im historischen Kontext der Geschichtswissenschaft zu verorten, soll ein kurzer Abriss der Entwicklung vorangestellt werden, die zu den heutigen Versuchen des Brückenschlags zwischen Wissenschaft und Leben geführt hat.
1.2. Ein erweiterter Geschichtsbegriff
Mit der Ausweitung der Perspektive von der weit bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein dominanten politischen Geschichte - besonders der der ‘großen Männer’ - auf Bereiche wie Geschlechter-, Mikro-, Geistes-, Mentalitäts- oder Alltagsgeschichte, um nur einige zu nennen, wurde die Geschichtswissenschaft auch offener für Modelle, die Geschichte als ein gesellschaftliches, kulturelles Konstrukt auffassten[1]. In diesem Zusammenhang waren es vor allem französische und angelsächsische Soziologen wie M. Halbwachs, P. Bourdieu oder A. Giddens, die wichtige Impulse aussandten und zunächst in ihren Herkunftsländern und etwas später auch in Deutschland Wirkung zeitigten. All dies muss verstanden werden vor dem Hintergrund der Frage, ob die Fachwissenschaft, in einer Zeit in der man eine zunehmende Geschichtsverdrossenheit festzustellen meinte[2], sich selbst genügen oder sich mit ihren Ergebnissen einem möglichst breiten Publikum öffnen sollte. Diese Frage haben besonders die französische „Annales-Schule“ und die in ihrer Tradition stehenden Historiker zu Gunsten des Publikums beantwortet.
Desweiteren brachte die seit den späten siebziger Jahren in Deutschland in Gang gekommene Theoriediskussion neben der Einsicht in die Perspektivität historischen Denkens auch die Einbindung von Wissenschaft und Leben in ein System. J. Rüsen hat hier mit seinem „Regelkreis des historischen Denkens“ Grundlegendes geleistet. Die nun auch immer zahlreicheren Beiträge der deutschen historischen Forschung zur Geschichtskultur hat B. Schönemann in fünf Themenbereiche gegliedert: Geschichte als politisches Argument, National- und Kriegerdenkmäler, Feste und Feiern, Öffentlichkeitshistorismus und schließlich Erinnerungs- und Memorialkultur.[3] Großen Einfluß auf diese Entwicklung hatte die Arbeit des Ägyptologen J. Assmann zum „kulturellen Gedächtnis“, welches er als Außenbereich des Kommunikationssystems versteht, „in den Mitteilungen und Informationen - kultureller Sinn - ausgelagert“[4] und von wo aus sie wieder aktiviert werden können. „Dieses Gedächtnis ist kulturell, weil es nur institutionell, artefiziell realisiert werden kann, und es ist ein Gedächtnis, weil es in bezug auf gesellschaftliche Kommunikation genauso funktioniert wie das individuelle Gedächtnis in bezug auf Bewußtsein.“[5]
Überhaupt scheint der Kulturbegriff im letzten Jahrzehnt eine neue Konjunktur zu erfahren. A. Pecar spricht von der „Neuakzentuierung der Geschichtswissenschaft als Kulturwissenschaft“[6], die zumindest in Deutschland zu einem „Gefecht zwischen den Vertretern der Kulturgeschichte“ und denen der Sozial- bzw. Gesellschaftsgeschichte geführt habe; ein Gefecht, das sich insbesondere an der unterschiedlichen Sicht des strukturellen Aspekts von Kultur entzündet. So nähmen Kulturhistoriker Strukturen vorrangig als Handlungsfolge, Sozialhistoriker diese jedoch als Handlungsbedingungen wahr. Pecar sieht in einem Strukturmodell von A. Reckwitz, das beide Positionen zu vereinen sucht, eine Lösung und kommt zu dem Ergebnis, dass Kulturgeschichte darauf verzichten solle, „‘Kultur’, also den Bereich der Regeln (Reckwitz), vornehmlich im Individuum aufzuspüren“, sondern vielmehr ihren strukturellen Aspekt zu untersuchen. Wahrnehmung, Erfahrung und Erinnerung seien „als soziale Vorgänge zu begreifen, ermöglicht und begrenzt durch ein historisch und sozial vermitteltes Raster an sich stets wandelnden Dispositionen, jenseits derer keine individuelle Wahrnehmung denkbar ist.“[7]
1.3. Zur Definition des Begriffs Geschichtskultur
Den allgemeinen Kulturbegriff in seinen vielen Deutungen[8] zu diskutieren, kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Was jedoch den Begriff der Geschichtskultur angeht, so wurde dieser in seinem Verhältnis zur Geschichtsdidaktik wohl erstmals 1984 von K. Pellens so formuliert:
Der Begriff Geschichtskultur zielt systematisch auf den kommuni- kativen Prozeß historisch-politischer Identitätsfindung und Verstän- digung. An diesem Prozeß sind alle Gruppen und kommunikativen Instanzen einer Gesellschaft beteiligt, insbesondere Schulen, Hoch- schulen, Museen und Massenmedien.[...] Es interessieren vor allem die Ziele, Inhalte und Formen historischer Darstellung und histori- schen Lernens im Wert- und Strukturzusammenhang der verschie- denen Gesellschaften. Dieser Begriff von ‘Didaktik der Geschichte’ geht zwar von der Schule aus, bezieht aber alle anderen Instanzen und Formen der gesellschaftlichen Geschichtsvermittlung in die Betrachtung mit ein.[9]
Pellens unterstreicht hier die Ablösung der Geschichtsdidaktik von einer bloßen Unterrichtsmethodik und ihre Neubestimmung als eigenständige Fachwissen-schaft, die sich als „Wissenschaft vom historischen Lernen“[10] versteht und die ihre pragmatische Aufgabe darin sieht, „historisches Lernen als Vermittlung von Geschichtsbewußtsein in intentionalen Prozessen auf eine verantwortbare, ‘vernünftige’ Weise ins Selbstverständnis der Gegenwart einzubringen“.[11] Mit Bezug auf das Geschichtsbewusstsein als zentrale Kategorie der Geschichts-didaktik definiert J. Rüsen Geschichtskultur als die „praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewußtsein im Leben einer Gesellschaft“[12] und liefert damit den heute weithin akzeptierten Orientierungsrahmen für das Operieren mit dieser weiteren Kategorie. Den großen Vorteil des Begriffs sieht beispielsweise H.T. Grütter unter anderem darin, „daß er die unterschiedlichen Agenturen und Praxisfelder der historischen Erinnerung mit der Erforschung und Vermittlung von Geschichte in Universität und Schule verbindet.“ Dafür spräche „nicht nur die gemeinsame lebensweltliche Verankerung, sondern auch die bei aller medialer und funktionaler Differenzierung der unterschiedlichen Bereiche gemeinsame Strategie des Denkens.“[13]
2. Geschichtskultur und Geschichtsdidaktik
Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts hielt der Begriff Geschichts-kultur also schrittweise Einzug in die geschichtsdidaktische Diskussion. Nach Schönemann kann hierbei in zwei Phasen unterteilt werden.[14] Bis zum Beginn der neunziger Jahre wurde das Phänomen als „Geschichte in der Öffentlichkeit“[15] oder „Geschichte in der Alltagswelt“[16] angesprochen. Wie schon angedeutet, bildet K. Pellens eine Ausnahme, jedoch rechtfertigt es seine ebenfalls vornehmliche Orientierung auf den Geschichtsunterricht, ihn zu dieser ersten Phase zu zählen.[17] Zur Kategorie der Geschichtsdidaktik avancierte Geschichtskultur erst Anfang der neunziger Jahre mit J. Rüsen als einem der wichtigsten Protagonisten. Dessen Motivation erklärt sich aus seiner Aussage, „[d]er Graben, den Hochschulen von der Praxis der Geschichtskultur in und außerhalb der Schule trennt, [sei] größer geworden. Für die Geschichtsdidaktik [sei] es lebensnotwendig, ihn zu überbrücken.“[18] Rüsen versteht Geschichtskultur als die äußere Seite historischen Lernens, neben dem Geschichtsbewusstsein als der inneren[19], und weist ihr sechs Dimensionen zu: die ästhetische (z.B. Denkmäler, Museen, Historiographie), die politische (z.B. öffentliche Gedenktage, staatlich organisierter Geschichtsunterricht), die kognitive (z.B. die historischen Wissenschaften), die emotionale, die religiöse und die weltanschauliche.[20] Diese Dimensionen seien „anthropologisch fundiert, nämlich in den elementaren mentalen Operationen des Fühlens, Wollens und Denkens“.[21] Rüsen verweist also auf die Beziehung von Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur, welche den „Sitz des Geschichtsbewußtseins im Leben, seine Erstreckung in verschiedenen Dimensionen der Kultur und deren inneren Zusammenhang“[22] bezeichne.
[...]
[1] Vgl. Ankersmit (1996).201-209. Schönemann (2000), S. 27-35. Jacobmeyer/Schönemann (2000), S. 30f.
[2] Vgl. Fuhrmann (1988), S. 268.
[3] Vgl. Schönemann (2000), S. 30.
[4] Assmann (1999), S. 22.
[5] Ders., S. 24.
[6] Pecar (2001), S. 351. Vgl. dazu auch Medick (2001) aus der Sicht der Historischen Anthropologie; hier besonders S. 84-87.
[7] Pecar (2001), S. 362. Einer der ‘Urväter’ dieser Entwicklung ist K. Lamprecht, der schon 1896 formulierte: „Die Kulturgeschichte aber, [...] im Sinne einer Wissenschaft des sozialpsychischen Gesamtverlaufs, ist für alle geschichtliche Richtungen oberste Bedingung. Auch für die individu- alistische. Denn da diese niemals wird leugnen können, daß die Tätigkeit der historischen Persön- lichkeiten mindestens auf den Voraussetzungen, in Wirklichkeit aber auch mit auf den Wirkungen der einmal sich auslebenden Summe sozialpsychischen Lebens beruht [...], so ist auch für sie die Erforschung des sozialpsychischen Lebens Vorbedingung jedes intimeren Verständnisses ihres besonderen Tatsachenkreises.“ (so zitiert bei Schleier (1988), S. 272).
[8] Vgl. Kroeber, A.L., Kluckhohn, C., Culture: A Critical Review of Concepts and Definitions. New
York, 1963; Conrad, C., Kessel, M. (Hg.), Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte
Beziehung. Stuttgart 1998.
[9] Pellens (1984), S. 7.
[10] Rüsen (1994a), S. 77. Vgl. Hoffmann (1984), S. 93: „Heute ist die Geschichtsdidaktik in der
Bundesrepublik dabei, [...] zur Reflexionsinstanz der geschichtlichen Kultur zu werden.“
[11] Jeismann (1988), S. 3.
[12] Rüsen (1994b), S. 5. Zum Geschichtsbewusstsein vgl. auch Goetz (1998), S. 9-12.
[13] Grütter (1997), S. 601.
[14] Schönemann (2000), S. 36-42.
[15] Vgl. Kampen, W. van/Kirchhoff, H.-G. (Hg.), Geschichte in der Öffentlichkeit. Tagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom 5. bis 8. Oktober 1977 in Osnabrück. Stuttgart 1979.
[16] Vgl. Schörken, R., Geschichte in der Alltagswelt. Wie uns Geschichte begegnet und was wir aus
ihr machen. Stuttgart 1981.
[17] Vgl. Kuss (2001), S. 11. Schönemann (2000), S. 40.
[18] Rüsen (1994a), S. 138.
[19] Vgl. Rüsen (1994a), S. 131. Geschichtsbewusstsein ist nach Rüsen als Lernprozeß zu verstehen, in dem „Fähigkeiten des wahrnehmend-erfahrenden, deutenden und orientierenden Umgangs mit der Vergangenheit“ erworben werden. Rüsen (1994a), S. 133.
[20] Vgl. Rüsen (1997), S. 38ff. Auf die letzten drei Dimensionen geht Rüsen jedoch nicht genauer ein, so dass ihr Verhältnis zu den anderen Dimensionen bzw. ihr eigentlicher Inhalt nicht völlig klar wird.
[21] Rüsen (1997), S. 39.
[22] Rüsen (1997), S. 38.
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