Die Floskel „Dichtung und Wahrheit“ wird oft in der Umgangssprache verwendet, wenn Zweifel an einer Aussage zum Ausdruck gebracht werden sollen. Die Historiker drücken eben diesen Tatbestand in ihrem wissenschaftlichen Sprachgebrauch mit den Worten „Überrest und Tradition“ aus, wobei ein Überrest in jedem Fall etwas Wahres kennzeichnet, während unter dem Oberbegriff „Tradition“ sowohl richtige als auch unwahre Aussagen zusammenfallen. Historiographische Darstellungen sind in jedem Falle als Tradition einzuordnen. Kompliziert wird die Bewertung ihres Wahrheitsgehaltes dann, wenn zu ihrer Überprüfung nur wenige Überreste zur Verfügung stehen, oder wenn unterschiedliche Darstellungen voneinander differieren, weil die Autoren entweder selbst nur schlecht informiert waren oder das Geschehene bewußt in ein anderes Licht rücken wollten.
Dies soll in der vorliegenden Arbeit am Beispiel der ottonischen Geschichtsschreibung thematisiert werden. Nach dem Ende der Fuldaer Annalen (901) und der Chronik Reginos (908) schwieg die Historiographie im ostfränkischen Reich für länger als ein halbes Jahrhundert. Die erste Hälfte des 10. Jhdt.´s ist für das gewählte Thema deswegen interessant, weil uns aus dieser Zeit mit Ausnahme einiger Urkunden nur wenige Quellen vorliegen. Alles, was wir aus diesem wichtigen Zeitraum zu wissen glauben, entstammt den Federn einiger weniger Geschichtsschreiber, die das Geschehen rückwirkend aus der ottonischen Perspektive zusammenfaßten. Gerade in diesen Jahren vollzogen sich aber fundamentale Veränderungen: Die karolingische Dynastie wurde nach einer langen Schwächeperiode von den Ottonen abgelöst, und das sogenannte Ostfränkische Reich emanzipierte sich langsam zum späteren Deutschen Reich. Dabei wurden die innen- und außenpolitischen Herausforderungen so gut gelöst, daß sich aus einem schwachen Königtum eine Macht entwickelte, die die Kaiserwürde für sich in Anspruch nehmen konnte, weil sie außenpolitisch die führende Stellung in Europa erlangt hatte.
ie die Historiographen auf eine solche Erfolgsstory zurückblickten, soll anhand eines Beispiels untersucht werden. Gleich nach dem Herrschaftsantritt Ottos 936 kam es im ganzen Reich zu einer Serie von Aufständen des Hohen Adels gegen ihn. An ihnen soll aufgezeigt werden, wie die Autoren das Bild einer Epoche absichtlich oder unabsichtlich verändert haben.
Inhaltsverzeichnis
- Dichtung und Wahrheit
- Die Historiographie zur Zeit Ottos des Großen
- Geschichtsschreibung als Auftragsarbeit
- Die Autoren und ihr Berichtshorizont
- Continuator Reginos
- Liutprand von Cremona
- Widukind von Corvey
- Hrotsvith von Gandersheim
- Die Schilderung der Aufstände
- Besonderheiten der ottonischen Geschichtsschreibung
- Die Auseinandersetzungen im Kontext der Adelsgesellschaft
- Die Aufstände im Spiegel der Geschichtsschreibung
- Die Darstellung der Handlungsträger
- Otto
- Eberhard und Giselbert
- Thankmar
- Heinrich
- Friedrich
- Das Verhältnis von Tradition und Intention
- Die Darstellung der Handlungsträger
- Der Sieger schreibt die Geschichte
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit analysiert die ottonische Geschichtsschreibung anhand der ersten Aufstände gegen Otto den Großen. Sie untersucht, wie historische Ereignisse von verschiedenen Autoren dargestellt werden und welche Intentionen dahinter stecken. Ziel ist es, die Besonderheiten der ottonischen Geschichtsschreibung aufzuzeigen und die Frage zu beleuchten, wie die Darstellung der Aufstände das Bild einer Epoche beeinflusst.
- Die Rolle der Historiographie als Auftragsarbeit im ottonischen Reich
- Die Unterschiede in den Darstellungen von verschiedenen Autoren
- Die Intentionen der Historiographen bei der Schilderung der Aufstände
- Der Einfluss von Tradition und Intention auf die Geschichtsschreibung
- Die Bedeutung von Überresten und Tradition für die historische Forschung
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel beleuchtet den Begriff "Dichtung und Wahrheit" im Kontext der Historiographie und stellt die Herausforderungen der Quellenkritik dar. Im zweiten Kapitel wird die ottonische Geschichtsschreibung als Auftragsarbeit der sächsischen Führungselite präsentiert, wobei die Autoren und ihre Perspektive beleuchtet werden. Im dritten Kapitel werden die Besonderheiten der ottonischen Geschichtsschreibung im Hinblick auf die Aufstände gegen Otto den Großen untersucht. Das vierte Kapitel analysiert die Darstellung der Handlungsträger und das Verhältnis von Tradition und Intention in den verschiedenen Quellen.
Schlüsselwörter
Ottonische Geschichtsschreibung, Aufstände, Historiographie, Quellenkritik, Tradition, Intention, Überreste, Adelsgesellschaft, Otto der Große, Sachsen, Historiker, Mittelalters.
- Quote paper
- Stefan Dengel (Author), 2001, Tatsachenverzerrung und Geschichtsinterpretation: Die Schilderung der ersten Aufstände gegen Otto I., Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45551