Arno Schmidt weist in den Berechnungen darauf hin, dass es in der bisherigen Literatur keine Traumspiele gibt, sondern dass es sich dabei immer um Varianten des Längeren Gedankenspiel handelt (BIII, 275). Im Essay Sylvie & Bruno hinterfragt Schmidt selbst die Möglichkeiten literarischer Traumdarstellungen und kommt zum negativen Ergebnis, dass es bisher keine gelungenen Traumdarstellungen gäbe. Er legt in der Folge keine Texte zur Prosaform des Traums vor.
Tina Grahl
Arno Schmidts unvollendete Träume
Die Prosaform des Traums in der Theorie der Berechnungen
I. Träume in der Literatur
Angestoßen durch Sigmund Freuds Psychoanalyse und die Rezeption des Hauptwerks Die Traumdeutung setzt sich gerade die Literatur der Moderne inhaltlich und formal mit dem Traum und dem Unbewussten auseinander. Der Traum als Phänomen ist bestimmt durch alogisch und assoziativ verknüpfte Bilderfolgen. Literarische Traumdarstellungen setzen diese Merkmale insbesondere durch die Darstellung von Passivität, Alogischem und Assoziativem um. Der literarischen Verarbeitung des Traums ist dabei allerdings immer die Gefahr immanent, dass die Darstellung des Traums durch die Darstellung seiner Deutung ersetzt wird. Denn erstens müssen die visuellen Traumbilder in Sprache transformiert werden, zweitens wird der Traum durch das wache Individuum rationalisiert und drittens beinhaltet die literarische Verarbeitung immer auch eine ästhetische Bearbeitung.
II. Arno Schmidts Prosaform des Traums
Arno Schmidts Prosatheorie der Berechnungen umfasst vier Essays aus den Jahren 1953 bis 1956, die sich den neuen Prosaformen Fotoalbum, Musivisches Dasein, Längeres Gedankenspiel und auch der Form des Traums widmen.[1] Während Schmidt zu den ersten drei Prosaformen sehr konkrete und ausführliche Angaben macht, benennt er zur vierten Prosaform kaum Merkmale. Die Charakteristika dieser vierten Prosaform können daher fast ausschließlich über den Vergleich beziehungsweise die Abgrenzung zum Längeren Gedankenspiel bestimmt werden. So äußert Schmidt in den Berechnungen II (BII, 275 f.), dass sowohl Längeres Gedankenspiel als auch die Form des Traums zur Gruppe der doppelten Handlung gehören, das heißt aus einer Erlebnisebene I, der objektiven Realität und einer Erlebnisebene II, der subjektiven Realität bestehen. Die doppelte Handlung bzw. die beiden Erlebnisebenen werden typografisch umgesetzt. Im Unterschied zum Längeren Gedankenspiel, in dem das literarische Individuum die subjektive Realität aktiv mitgestaltet, wird die Erlebnisebene II im Traum passiv erlebt. Schmidt berücksichtigt hier also das Unbewusste als Ursprung des Traums. Weiter führt er als Bestandteile des Traums Unerwünschtes, Rücksichtsloses, Empörendes, Alpträume und mythisches Grauen an (Vgl. BII, 275): eine durchweg negative Konnotation des Trauminhaltes.[2] Weitere Ausführungen macht er in den Berechnungen I allerdings nicht, sondern verweist auf eine Fortsetzung – sobald literarische Umsetzungen der Formen vorliegen: „Da jedoch die hierfür entwickelten Transformationsgleichungen noch nicht an, dem Publikum vorliegenden, Veröffentlichungen erläutert werden können, habe ich jetzt nur der Vollständigkeit wegen darauf hinweisen wollen“ (BI, 168).[3]
Neben den wenigen theoretischen Ausführungen zur vierten Prosaform fehlt auch die literarische Umsetzung der Versuchsreihe des Traums. Später äußert Schmidt im Essay Sylvie Bruno[4] (1962/63), dass zum Traum kaum die notwendigen Techniken entwickelt und erprobt seien, noch gäbe es sprachliche und orthografische Annäherungen (Vgl. S B, 259). Dennoch führt er hier ein weiteres Merkmal der Prosaform an, so verarbeite der Traum in einer „Serie von Bilderfluten“ das „dringendste=unerledigte Problem des Vor=Tages“ (S B, 253).
III. Unvollendete Träume
Zur Frage, warum Arno Schmidt die Ausführungen zur Prosaform des Traums in den Berechnungen nicht fort- und die Versuchsreihe IV literarisch nicht umsetzt, gibt es in der Forschung verschiedene Hypothesen. Zum Einen vertreten Marius Fränzel, Jörg Drews, Georg Czapla und Ulrich Goerdten die These, dass es sehr wohl – zumindest in Ansätzen – eine literarische Umsetzung der Prosaform Traum gibt.[5] Zum Anderen wird die Hypothese angeführt, dass Arno Schmidt die Berechnungen nicht beendet, weil sich durch die Freud-Lektüre und die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse gegen Ende der 1950er Jahre eine Neuorientierung im Werk ergibt. Abschließend soll hier eine weitere These zur Diskussion gestellt werden: Arno Schmidt entwickelt die theoretischen Ausführungen und die literarische Umsetzung zum Traum nicht weiter, da die stilistischen Eigenheiten seiner Prosa, insbesondere der dominante Ich-Erzähler, einer Darstellung des Traums entgegenstehen.
a) Literarische Umsetzung der Versuchsreihe IV
Die These, Schmidt habe die Versuchsreihe des Traums in den Berechnungen zwar nicht weiter theoretisch verfolgt, sie aber – zumindest in Ansätzen – literarisch umgesetzt, wird in der Arno-Schmidt-Forschung durch eine Reihe von Einzelbelegen aufrecht erhalten. Marius Fränzel sieht einen Versuch dieser Umsetzung in Nebenmond und rosa Augen.[6] Nebenmond und rosa Augen wurde als erster Entwurf 1958 verfasst, erfüllt die Merkmale des Passiven aber an keiner Stelle, da der Ich-Erzähler durch Kommentare, Reflexionen, Erinnerungen und Vorahnungen ständig sichtbar ist. Ralf Georg Czapla und Jörg Drews ordnen die Erzählung Trommler beim Zaren, insbesondere aber den Prosaband Kühe in Halbtrauer der Versuchsreihe des Traums zu.[7] Auch Ulrich Goerdten sieht in den Texten aus Kühe in Halbtrauer, vor allem in den Erzählungen Windmühlen und Caliban über Sebetos die Realisierung der Versuchsreihe IV.[8] Gegen die These, dass die Erzählungen aus Kühe in Halbtrauer als Versuchsreihe zur Prosaform des Traums gelten können, spricht zunächst ihre Entstehungszeit. Die Erzählung Windmühlen ist als erste im Jahr 1960 verfasst worden, die weiteren Erzählungen wurden in den folgenden Jahren bis 1963 verfasst. In die Entstehungszeit der Erzählungen fällt also nachweisbar die Freud-Lektüre. Belegbar ist diese beispielsweise in der Erzählung Kundisches Geschirr, die vielmehr Deutung des Traums als Darstellung des selbigen ist.[9] Zudem ist Kühe in Halbtrauer bereits der mittleren Werkphase zuzuordnen. So können die Erzählungen nicht mehr ausnahmslos an die Ideen der Berechnungen angeschlossen, sondern höchstens in Teilen als Weiterentwicklung betrachtet werden. Diese Tatsache wird allerdings – beispielsweise von Jörg Drews und Georg Czapla, die den Freud-Einfluss und die Weiterentwicklung im Werk erkennen – nicht weiter verfolgt oder problematisiert.[10]
Abschließend lässt sich zudem festhalten, dass keiner der vorgeschlagenen Texte eine typografische Umsetzung der doppelten Handlung aufweist. Stattdessen nutzt die Mehrzahl der angeführten Beispiele die Raster- bzw. Pointiliertechnik. Da Schmidt auf die typografische Umsetzung seiner Werke – insbesondere der in den Berechnungen entwickelten Prosaformen – großen Wert gelegt hat, erscheint es unwahrscheinlich, dass er diese dann doch vernachlässigt haben soll.
b) Neuorientierung im Werk durch die Freud-Lektüre
In der Forschung wird die These, dass sich Arno Schmidt durch die Beschäftigung mit den Werken Freuds und die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse literarisch neuorientiert hat und daher die Prosaform des Traums unvollendet lässt, immer wieder aufgegriffen. Bernd Rauschenbach geht sogar weiter und führt die Überlegung an, es sei Arno Schmidt gar nicht möglich gewesen, weiter an der Prosaform des Traum zu arbeiten, da sich durch die Freud-Lektüre wahrscheinlich die Einsicht ergab, eine Wiedergabe des Traumprozesses sei nicht ausreichend. Vielmehr müsse neben der Traumhandlung auch die Bedeutung des Traums wiedergegeben werden. Denn „nur manifester und latenter Trauminhalt geben den Traum vollständig wieder […]“.[11] Die Wiedergabe von Inhalt und Deutung des Traums widerspricht allerdings dem Ansatz der Berechnungen, denn die dort vorgestellte Prosaform will den Traum einzig in der Struktur seines Prozesses abbilden. Problematisch an dieser These ist, dass es bisher nicht genau zu bestimmen ist, ab welchem Zeitpunkt sich Arno Schmidt mit Freud beschäftigte. Rauschenbach datiert die Freud-Lektüre auf den Zeitraum zwischen „der zweiten Hälfte der 1950er [...] und [...] 1960“[12], Georg Czapla legt den terminus post quem auf das Jahr 1958.
[...]
[1] Arno Schmidt: Berechnungen. In: BA III/3, S. 101–106 (B0); Arno Schmidt: Berechnungen I. In: BA III/3, S. 163–168 (BI); Arno Schmidt: Berechnungen II. In: BA III/3, S. 275–284 (BII) und Arno Schmidt: Berechnungen III. In: BA Supplemente I, S. 261–270 (BIII).
[2] In den übrigen Traumdarstellungen des Prosawerkes ist diese allerdings nicht zu bemerken. Ausnahme bildet der Glimmerglas-Traum aus der Gelehrtenrepublik (Gelehrtenrepublik, S. 335). Die negativen Bilder wie die Operation des Bösen sind hier allerdings auf eine Radierung Hogarths (The Reward of Cruelty) zurück zu führen.
[3] Als letztes Merkmal des Traums benennt Schmidt die Äquivalenz zur w-Ebene (BI, 168). Im Vergleich dazu setzt Schmidt das Längere Gedankenspiel mit der z-Ebene gleich. Die Idee der Ebenen vernachlässigt Schmidt jedoch bereits in den Berechnungen II.
[4] Arno Schmidt: Sylvie Bruno. In: BA III/4, S. 246–264 (S B).
[5] Marius Fränzel: »Dies wundersame Gemisch«. Eine Einführung in das erzählerische Werk Arno Schmidts, Kiel 2002; Jörg Drews: Caliban Cast Out Ariel. Zum Verhältnis von Mythos und Psychoanalyse in Arno Schmidts Erzählung »Caliban über Sebetos«. In: Gebirgslandschaft mit Arno Schmidt. Grazer Symposium 1980, hg. v. dems., München 1982, S. 46-65; Ralf Georg Czapla: Mythos, Sexus und Traumspiel. Arno Schmidts Prosazyklus »Kühe in Halbtrauer«, Paderborn 1993 und Ulrich Goerdten: Symbolisches im Genitalgelände. Arno Schmidts Windmühlen als Traumtext gelesen. In: ders.: Arno Schmidts »Ländliche Erzählungen«, Wiesenbach 2011, S. 9-39.
[6] Fränzel, S. 169.
[7] Dabei konstruiert Czapla die fehlende Poetik aus den Ansätzen der Etymtheorie. Und obwohl Czapla die unterschiedlichen Konzeptionen der einzelnen Erzählungen aus Kühe in Halbtrauer betont, hält er seine These, dass sie alle als Umsetzung der Versuchsreihe IV gelten können, aufrecht. Zwar wird Kühe in Halbtrauer aufgrund der Darstellung eines identischen Milieus in allen zehn Erzählungen oft als Prosazyklus gedeutet, kann aber im eigentlichen Sinne die formalen Eigenschaften eines Zyklus nicht nachweisen.
[8] Windmühlen stellt dabei das symbolische Stück und Caliban über Sebetos das mythologische Stück der Versuchsreihe IV dar, die erwartungsgemäß noch ein etymisches und eventuell ein archetypisches Stück enthalten müsste, so Goerdtens Vermutung. Goerdten, Ulrich: Symbolisches im Genitalgelände. Arno Schmidts Windmühlen als Traumtext gelesen. In: Ders.: Arno Schmidts »Ländliche Erzählungen«, Wiesenbach 2011, S. 9-39, hier S. 12.
[9] Vgl. Bernd Rauschenbach: Ein Bardur. In: Arno Schmidt. Traumflausn, hg. v. Bernd Rauschenbach, Bargfeld 2008, S. 93-118, hier S. 113.
[10] Czapla, S. 11 und Drews, S. 47.
[11] Rauschenbach, S. 108.
[12] Vgl. Rauschenbach, S. 106 ff.
- Quote paper
- Tina Grahl (Author), 2012, Arno Schmidts unvollendete Träume. Die Prosaform des Traums in der Theorie der "Berechnungen", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/455600
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.