‚Söhne‘: Der Titel eines Sammelbandes, unter dem Franz Kafka die Erzählungen „Der Heizer“, „Die Verwandlung“ und „Das Urteil“ ursprünglich veröffentlichen wollte. Zu Lebzeiten Kafkas erschien der Sammelband nie. Der Titel aber, den sich Kafka für ihn aussuchte, steht heute noch symbolisch für viele Interpretationen, die sich mit dem „Urteil“ beschäftigen. Der „Vater-Sohn-Konflikt“ im „Urteil“ wird von vielen Interpreten als das zentral verhandelte Thema angesehen. Während manche von ihnen sich so bei der Deutung ganz auf den familiären Bereich, den Machtkampf zwischen Vater und Sohn, konzentrieren oder die Erzählung „Das Urteil“ vor dem Hintergrund von Kafkas Lebenssituation näher betrachten , gehen einige Literaturwissenschaftler aber einen Schritt über die Ebene des Familie hinaus. Sie interpretieren „Das Urteil“ als eine allgemeine Darstellung zweier gegensätzlicher Lebensentwürfe innerhalb eines patriarchalischen, bürgerlichen Machtgefüges. So sieht Richard Gray Georg und seinen Freund als die Verkörperung zweier „gegensätzlicher Reaktionen auf die Forderungen des bürgerlichen Lebens“ an und Thomas Anz meint, die Erzählung spiele „zwei verschiedene Möglichkeiten der Emanzipation von Macht“ durch. Georg entscheidet sich für die „Anpassung an die Machstrukturen“, der Freund für die Isolation, die „Flucht“. Diesen Auffassungen soll hier gefolgt werden. Die Arbeit hat den Anspruch, herauszuarbeiten, dass der im „Urteil“ beschriebene Machtkampf zwischen Vater und Sohn nicht nur ein Kampf um die Vormachtstellung in der Familie ist, sondern anhand von Georg und seinem Freund zwei mögliche Lebensentwürfe innerhalb eines bürgerlichen Machtsystems thematisiert, die beide misslingen: Georgs Weg als Beispiel für die scheiternde Strategie der Anpassung an das Machtsystem und der Lebensentwurf des Freundes als Beispiel für den unglücklichen Weg der Flucht aus dem Machtgefüge.
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Am Ende soll sich die These bestätigt haben, dass im „Urteil“ zwei Lebensalternativen dargestellt werden, die beide fehlschlagen. Beide, Georg und der Freund, versuchen mit dem System, in dem sie leben, umzugehen. Beide scheitern.
Das „Urteil“ gibt keine Lösungen vor, es zeigt nur die Ausweglosigkeit derer, die versuchen, in einem bürgerlichen, patriarchalischen Machtgefüge aufzuwachsen.
Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- II. Der Freund in der Fremde und Georg zu Hause – „Das Urteil“ als Darstellung zweier (un)möglicher Lebensentwürfe innerhalb eines bürgerlichen Systems
- 1. Georg und der Freund – zwei entgegengesetzte Lebensentwürfe
- 1.1. Georg und die Anpassung an das bürgerliche Leben
- 1.2. Der Freund außerhalb des bürgerlichen Lebens
- 1.3. Die Unvereinbarkeit der beiden Lebenswege
- 2. Georgs Weg: Der Versuch einer Anpassung an das System
- 2.1. Georgs Eintritt in das bürgerliche Leben und der familiäre Machtkampf
- 2.2. Der Vater bleibt Vater, der Sohn bleibt der Sohn
- 2.3. Ein unschuldiges Kind und ein teuflischer Mensch
- 2.4. „Ein unendlicher Verkehr“ – Das System überlebt
- 3. Der Freund in der Fremde – Emigration als einziger Ausweg?
- III. Fazit und Ausblick
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht Kafkas „Das Urteil“ und argumentiert, dass die Erzählung nicht nur einen familiären Machtkampf darstellt, sondern zwei gegensätzliche Lebensentwürfe innerhalb eines bürgerlichen Machtsystems beleuchtet, die beide zum Scheitern verurteilt sind.
- Die Darstellung von zwei Lebensentwürfen: Anpassung an das bürgerliche Leben vs. Flucht in die Isolation
- Der Konflikt zwischen Vater und Sohn als Ausdruck der Spannungen zwischen zwei Generationen und Lebensmodellen
- Die Unvereinbarkeit der beiden Lebenswege und die Ausweglosigkeit des Einzelnen in einem patriarchalischen Machtgefüge
- Die Bedeutung der „Heimat“ und der „Fremde“ in Kafkas Erzählung und ihre Verbindung zu den Lebensentwürfen der Figuren
- Die Ambivalenz der Figur Georg: Unwissender Sohn vs. Schuld beladener Mensch
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die Erzählung „Das Urteil“ im Kontext Kafkas Gesamtwerk vor und führt die Interpretation des Textes als Darstellung zweier (un)möglicher Lebensentwürfe ein. Die Analyse des zweiten Kapitels beleuchtet die Opposition zwischen Georg und seinem Freund, wobei der Freund als Verkörperung der Isolation und Georg als Repräsentant der Anpassung an das bürgerliche System dargestellt wird. Das Kapitel geht auf Georgs scheiternde Anpassungsstrategie ein, die sich in einem Machtkampf mit dem Vater niederschlägt, der schließlich mit dem Urteil und dem Tod von Vater und Sohn endet. Im dritten Kapitel wird untersucht, warum der Freund, obwohl unschuldig und frei von der Schuld Georgs, ebenfalls auf seinem Weg zur Isolation langsam zu Grunde geht. Abschließend fasst das Fazit die Erkenntnisse der Arbeit zusammen und eröffnet einen Ausblick auf weitere Interpretationsmöglichkeiten.
Schlüsselwörter
Die Analyse von Kafkas „Das Urteil“ konzentriert sich auf die zentralen Themen der Anpassung an das bürgerliche Leben, die Flucht in die Isolation, den Vater-Sohn-Konflikt, die Machtkämpfe innerhalb eines patriarchalischen Systems, die Schuld des Einzelnen und die Ausweglosigkeit der Lebensentwürfe in der erzählten Welt. Die Erzählung beleuchtet die Ambivalenz des Protagonisten Georg, der einerseits ein unschuldiges Kind ist, andererseits aber durch seine Anpassungsversuche zum „teuflischen Menschen“ wird.
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- Melanie Jansen (Author), 2018, Anpassung an das bürgerliche Leben oder Flucht in die Isolation, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/456021