Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, eine Verbindung zwischen dem Protagonisten des 'Untertan' und der typologischen Einordnung des autoritären Charakters als sado-masochistische Persönlichkeit im Sinne Erich Fromms herzustellen. Anhand ausgewählter Belege sollen die sado-masochistischen Komponenten in der Persönlichkeitsstruktur Diederich Heßlings skizziert und im Hinblick auf die von der Forschung ermittelten Kriterien des autoritären Syndroms betrachtet werden.
Inhalt:
1. Zielbestimmung
2. Die von Diederich Heßling masochistisch erfahrene Macht
2.1 Der Begriff der Macht und seine Entwicklung im Bewußtsein Diederich Heálings
2.2 Die Ambivalenz im Verhältnis Diederich Heßlings zur Macht
3. Diederich Heßlings Identifikation mit der Macht
3.1 Grundstrukturen des Identifikationsprozesses
3.2 Die Identifikation mit der die Macht repräsentierenden Körperschaft
3.3 Von der Imitation zur Identifikation mit dem obersten Machthaber
4. Die von Diederich Heßling sadistisch vertretene Macht
5. Schlussbemerkung
6. Literaturverzeichnis
1. Zielbestimmung:
In seiner Studie über Autorität und Familie[1] interpretiert E. Fromm den autoritären Charakter als sado-masochistische Persönlichkeit.[2] Dabei deutet er den Umgang dieses Charakters mit Macht und Ohnmacht anhand der im Begriff des Sado-Masochismus ausgedrückten Beziehungsmuster und stellt der masochistischen Abhängigkeits- und Schmerzerfahrung beim Erleben von Macht die sadistische Weitergabe von selbst erfahrener Aggression gegenüber.[3]
Heinrich Manns Roman 'Der Untertan' wird spätestens seit Jochen Vogt[4] als eine frühe literarische Studie zum autoritären Charakter, vereinzelt sogar als "Bildungsroman der autoritären Persönlichkeit"[5] betrachtet.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, eine Verbindung zwischen dem Protagonisten des 'Untertan' und der typologischen Einordnung des autoritären Charakters als sado-masochistische Persönlichkeit im Sinne E. Fromms herzustellen. Anhand ausgewählter Belege sollen die sado-masochistischen Komponenten in der Persönlichkeitsstruktur Diederich Heßlings skizziert und im Hinblick auf die von der Forschung ermittelten Kriterien des autoritären Syndroms betrachtet werden.[6]
2. Die von Diederich Heßling masochistisch erfahrene Macht:
2.1 Der Begriff der 'Macht' und seine Entwicklung im Bewußtsein Diederich Heßlings:
Als erster faßbarer Vertreter der Macht im Leben Diederich Heßlings tritt der Vater auf und bricht in Diederichs zunächst eher trieb- und lustorientierte Kindheit mit der Forderung nach Triebverzicht ein. Als "weiches Kind"[7], das am liebsten träumt, Märchenbücher liest und mit seiner Mutter "vermittels Gesang, Klavierspiel und Märchenerzählen den letzten Tropfen Stimmung"[8] aus den Festen herauspreßt, gerät er rasch in einen Gegensatz zu den strengen Lebensprinzipien des Vaters, der "immer nur methodisch, Ehrenfestigkeit und Pflicht auf dem verwitterten Unteroffiziersgesicht, den Stock geführt hatte"[9] und "mit der gefühlsseligen Art seiner Frau"[10] gleichzeitig den Charakter des der Mutter ähnlichen Kindes unterdrückt. Der Vater als Oberhaupt der Familie scheint für das Kind mit nahezu schrankenlosen Machtmitteln ausgestattet zu sein[11] und die von ihm geforderte Anpassung z.B. durch körperliche Züchtigung zu erzwingen. Diederich Heßling lernt die Macht als durch den Vater repräsentierte Instanz, die unter Zuhilfenahme von Gewalt andere Menschen gegen deren Willen zum Triebverzicht zu zwingen vermag, zunächst aus der passiv erleidenden Position kennen. Das Ergebnis der väterlichen Repressionen ist fast zwangsläufig die innere Verdrängung der Triebregungen des Kindes.[12] Diese Verdrängung führt über die Ablehnung der Mutter[13] als ihm ähnliche, selbst zur Beherrschung der eigenen Triebe unfähige[14] Persönlichkeit bis zur Ablehnung des eigenen, als unwert empfundenen Ichs:
"[...] aber er fühlte gar keine Achtung vor seiner Mutter. Die Ähnlichkeit mit ihm selbst verbot es ihm. Denn er achtete sich selbst nicht, dafür ging er mit einem zu schlechten Gewissen durch sein Leben, das vor den Augen des Herrn nicht hätte bestehen können."[15]
Das Verhältnis Diederichs zu seinem Vater entspricht dem des autoritären Charakters zu den übergeordneten, die Macht repräsentierenden 'Gewalten', das E. Fromm folgendermaßen charakterisiert:
"Im Grunde seines Gefühles dem Stärkeren und Mächtigeren gegenüber ist die Furcht. Diese ist aber als solche verhältnismässig wenig bewußt, aus ihr entwickelt sich Ehrfurcht, Bewunderung und Liebe. Wo dieser Charakter Macht spürt, muss er sie beinahe automatisch verehren und lieben. Dabei ist es gleich, ob es sich um die Macht eines Menschen, einer Institution oder eines durch die Gesellschaft anerkannten Gedankens handelt. Man könnte für ihn mit Recht das bekannte Sprichwort umdrehen und sagen: 'Wer ihn züchtigt, den liebt er'."[16]
Im Falle Diederich Heßlings lassen sich Äußerungen dieser Persönlichkeitsstruktur bereits bei seinem Verhältnis zum Vater beobachten:
"Fürchterlicher als Gnom und Kröte war der Vater, und obendrein sollte man ihn lieben. Diederich liebte ihn. Wenn er genascht oder gelogen hatte, drückte er sich so lange schmatzend und scheu wedelnd am Schreibpult umher, bis Herr Heßling etwas merkte und den Stock von der Wand nahm. Jede nicht herausgekommene Untat mischte in Diederichs Ergebenheit und Vertrauen einen Zweifel."[17]
Es wird deutlich, daß Diederich seine Furcht vor dem Vater - also vor der Autorität - in eine von masochistischen Zügen durchsetzte Liebe umwandelt. Diese Liebe wird durch das Wissen um den eigenen Unwert und die uneingeschränkte Macht des Vaters gerechtfertigt. Jede "nicht herausgekommene Untat", also jede Unvollkommenheit des vermeintlich vollkommenen Vertreters der Macht, läßt Zweifel an der Berechtigung des internalisierten Unterordnungssystems aufkommen. Diederich selbst trägt jedoch dazu bei, daß solche Zweifel gar nicht erst entstehen: Er drückt sich so lange am Schreibpult herum, bis die "Untat" geradezu zwangsläufig aufgedeckt ist. In diesem "regelrechten Drang nach 'Abstrafung' durch den Vater"[18] dokumentiert sich sein eigenes masochistisches Interesse am Erhalt und der Verfestigung des bestehenden Autoritätsverhältnisses.[19] Wie tief die masochistische Abhängigkeit von Züchtigung ist und wie groß die aus ihr gezogene Befriedigung sein muß, zeigt sich später an Diederichs Reaktionen, als er angesichts des bevorstehenden Todes seines Vaters dessen Hand küßt:
"Diederich dachte daran, wie dieser verkümmerte schwarze Fingernagel auf seine Wange zugeflogen war, wenn der Vater ihn ohrfeigte; und er weinte laut. [...] Diese Hand war schrecklich gewesen; Diederichs Herz krampfte sich, nun er sie verlieren sollte."[20]
Im Laufe der weiteren Sozialisation Diederich Heßlings werden die durch die familiale Erziehung gewonnenen Vorstellungen auf andere Institution übertragen und erweitert. So erweist sich das Bedürfnis nach Unterordnung unter eine Autorität auch in der Schule als bestimmendes Prinzip, wo er immer nur "den scharfen Lehrern ergeben und willfährig"[21] bleibt. Die Macht als unmenschliche, triebunterdrückende Instanz wird schon hier um ihrer selbst willen verehrt; bereits die passive Teilnahme an ihr (in diesem Falle die Unterdrückung der eigenen Persönlichkeit durch die Macht) wird als beglückend empfunden:
"Denn Diederich war so beschaffen, daß die Zugehörigkeit [...] zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus, der das Gymnasium war, ihn beglückte, daß die Macht [...], an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhatte, sein Stolz war. Am Geburtstag des Ordinarius bekränzte man Katheder und Tafel. Diederich umwand sogar den Rohrstock."[22]
Als ein Hilfslehrer "vor der Klasse vom Direktor heruntergemacht und entlassen"[23] und ein Oberlehrer wahnsinnig wird, wird für Diederich klar, daß die Macht als solche eine hierarchische Gliederung aufweist:
"Noch höhere Gewalten, der Direktor und das Irrenhaus, waren hier gräßlich mit denen abgefahren, die bis eben so hohe Gewalt hatten. Von unten, klein, aber unversehrt, durfte man die Leichen betrachten und aus ihnen eine die eigene Lage mildernde Lehre ziehen."[24]
Daß die Unterdrücker der eigenen Persönlichkeit sich ihrerseits einer noch höhere Gewalt unterordnen müssen, relativiert die eigene Position und stärkt Diederichs Begeisterung für das "Aufgehen im großen Ganzen"[25], die noch sein Verhältnis zur Studentenkorporation und später zur Armee bestimmen wird.[26] Dort begreift er sich geradezu als "Rohstoff, an dem ein unermeßlicher Wille knetete"[27] und für den selbst der geheimste Gedanke an Auflehnung "Wahnsinn und Verderben"[28] bedeuten würde. Seine Auffassung, daß man sich nur "gegen die eigene Überzeugung"[29] manchmal drücken könne, spricht für die vollständige Internalisierung, d.h. das vollständige In-sich-Aufnehmen der von der Macht aufgestellten Gesetzmäßigkeiten und Forderungen.
Die Bezugspunkte dieser masochistischen Unterordnung und Identifikation steigen im Bewußtsein der hierarchischen Gliederung der Macht immer höher, bis schließlich nach Abschluß seiner Militärzeit, die gleichzeitig das Ende seiner 'autoritären Lehrzeit' markiert, der Kaiser als letzter Autoritätsträger vor Gott von ihm zum eigentlichen Vertreter der Macht stilisiert wird. Damit wird die Macht zum "Machtmythos"[30], dem von der eigenen Identität bis zur Partnerwahl alles untergeordnet wird: "Nichts Menschliches hielt stand vor der Macht."[31] Der Kaiser ist für Diederich zwar "das höchste Objekt seiner sado-masochistischen Identifikation"[32], bleibt aber letztlich nur ein Repräsentant des allgemeinen Prinzips der Macht und gewährleistet als "ihre Charaktermaske"[33] die Aufrechterhaltung des Systems.[34]
Am umfassendsten werden Ergebnis der Sozialisation Diederichs und sein Verhältnis zur Macht durch seine Gedanken bei der ersten 'Begegnung' mit dem Kaiser charakterisiert:
"Auf dem Pferd dort, unter dem Tor der siegreichen Einmärsche, und mit Zügen steinern und blitzend, ritt die Macht! Die Macht, die über uns hingeht und deren Hufe wir küssen! Die über Hunger, Trotz und Hohn hingeht! Gegen die wir nichts können, weil wir alle sie lieben! Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung darin haben! Ein Atom sind wir von ihr, ein verschwindendes Molekül von etwas, das sie ausgespuckt hat! Jeder einzelne ein Nichts, steigen wir in gegliederten Massen als Neuteutonen, als Militär, Beamtentum, Kirche und Wissenschaft, als Wirtschaftsorganisation und Machtverbände kegelförmig hinan, bis dort oben, wo sie selbst steht, steinern und blitzend! Leben in ihr, haben teil an ihr, unerbittlich gegen die, die ihr ferner sind, und triumphierend, noch wenn sie uns zerschmettert: denn so rechtfertigt sie unsere Liebe!"[35]
[...]
[1] Vgl. Fromm 1987/[1936], 77-135.
[2] Vgl. Fromm 1987/[1936], S. 110 ff. bs. S. 115.
[3] Vgl. Fromm 1987/[1936], S. 112-114.
[4] Vgl. Vogt 1971, S. 58-69.
[5] Vgl. Vogt 1977, S. 32.
[6] Zur Frage der Anwendbarkeit einer sozialpsychologischen Studie auf die fiktionale Gestalt des 'Untertan' vgl. Vogt 1971, S. 58.
[7] Untertan, S. 5.
[8] Untertan, S. 7.
[9] Untertan, S. 6.
[10] Untertan, S. 6.
[11] Vgl. Vogt 1971, S. 59 bzw. Emmerich 1980, S. 45.
[12] Vgl. Horkheimer 1968/[1936], S. 329 ff. bzw. Adorno 1973, S. 323.
[13] Adorno begründet diese Ablehnung mit der gesellschaftlichen Tabuisierung der Liebe zur Mutter in ihrer ursprünglichen Form; der aus dieser Tabuisierung "resultierende Haß gegen den Vater wird durch Reaktionsbildung in Liebe umgewandelt." (Adorno 1973, S. 323).
[14] Vgl. Untertan, S. 6.
[15] Untertan, S. 7.
[16] Fromm 1987/[1936], S. 115 f.
[17] Untertan, S. 5.
[18] Emmerich 1980, S. 45.
[19] Vgl. Fromm 1987/[1936], S. 114.
[20] Untertan, S. 33.
[21] Untertan, S. 8.
[22] Untertan, S. 8.
[23] Untertan, S. 8.
[24] Untertan, S. 8.
[25] Untertan, S. 37.
[26] Zur Frage der Aufgabe der eigenen Persönlichkeit und der Identifikation mit der Macht vgl. Punkt 3. dieser Arbeit.
[27] Untertan, S. 36.
[28] Untertan, S. 36.
[29] Untertan, S. 36.
[30] Vgl. hierzu Emrich 1981, S. 323.
[31] Untertan, S. 170, vgl. Emrich 1981, S. 323.
[32] Vogt 1971, S. 67.
[33] Vogt 1971, S. 66.
[34] Vgl. Emrich 1981, S. 323 f.
[35] Untertan, S. 47.
- Arbeit zitieren
- Jörg Erdmann (Autor:in), 1994, Zu: Heinrich Mann - 'Der Untertan', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45606
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