Digitales Kino - Alchemie des Computers


Magisterarbeit, 2005

85 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

1: Einführung

2: Nullen und Einsen auf dem Weg ins Kino

3: Merkmale des digitalen Bildes
3.1: Die Virtualität digitaler Existenz
3.2: Der Computer als inneres Auge

4: Ästhetik und Wahrnehmung der digitalen Medien
4.1: Der Doppelcharakter der elektronischen Medien
4.2: Gibt es einen digitalen Look?
4.3: Die Verschmelzung der Medien

5: Ausblick: Digitales Kino im gesellschaftlichen und kulturellen Kontext
5.1: Industrialisierung der Kultur
5.2: Das Paradox des technologischen Fortschritts

6: Schluss

7: Literatur

1: Einführung

„Der Tag wird kommen, an dem Schauspieler überflüssig sein werden. Man wird sie nicht mehr brauchen.“[1] Dieses Zitat von Eddie Murphy ist ein typisches Beispiel für jene tollkühnen Fantasien, zu welchen sich Kritiker, Künstler und Produzenten angesichts der digitalen Revolution spätestens seit Mitte der neunziger Jahre immer wieder hinreißen lassen. Etwa Mitte der achtziger Jahre hat der Computer seinen Einzug in die Kinoproduktion gehalten. Mittlerweile können fast alle Bereiche der Filmherstellung auf computergestützte Systeme zugreifen, sei es in der Bildbearbeitung, im Schnitt, in der Synchronisation oder Kamerasteuerung, um nur einige zu nennen. Besonderes Augenmerk liegt auf der Computeranimation und ihrer Verbindung mit Realfilmaufnahmen.

Eine ganze Reihe von ökonomischen, sozialpolitischen und ästhetischen Fragen, Befürchtungen und euphorischen Prognosen kreist um das Thema der Digitalisierung: Wird es in Zukunft möglich sein, noch wahrscheinlichkeitsnäher in die Welt eines Films einzutauchen, indem neben den visuellen und akustischen Qualitäten auch andere Sinnesreize angesprochen werden, etwa durch spezielle Helme und Handschuhe? Wird die digitale Technologie den 35mm-Film ersetzen? Wird gar die Projektion als solche durch LCD-Leinwände oder ähnliches überflüssig? Wird der traditionelle Filmverleih durch digitale Satellitenübertragung revolutioniert und beschleunigt? Welche Auswirkungen hat die digitale Technologie auf die traditionelle Filmherstellung? Wie verändert sich die Funktionsweise von Studios, wenn die Arbeit immer kleinteiliger wird und die Möglichkeit der digitalen Filmherstellung in immer besserer Qualität zunehmend in den Alltag ganz normaler Haushalte gelangt? Welche künstlerische Revolution geht mit der digitalen Revolution einher? Gibt es überhaupt eine Revolution oder treten die digitalen Bilder nicht im Kostüm einer neuen Technik in die Fußstapfen traditioneller Medien? In welchem Verhältnis steht das digitale Filmbild zum filmspezifischen Abbilden von Realität, wie es etwa Kracauer als das dem filmischen Medium angemessenste Mitteilung definierte? In welche Art der Auseinandersetzung tritt der Computer mit dem Gegebenen, wenn als gegeben nur noch die Fantasie eines Filmautors erscheint? Gibt es einen digitalen Look, eine spezifisch computereigene Ästhetik des Bildes oder ahmt der Computer letztlich nur im vorhinein durch andere Medien erzeugte Gestaltungskonventionen nach? Und was passiert mit dem Zuschauer, wenn auf einmal CGI-Figuren die Leinwand bevölkern, ganze Welten aus dem Computer erstehen? Bemerkt er es, und wenn ja, woran? Verändern Computereffekte oder ganze aus dem Computer generierte Filme unsere Wahrnehmung in ästhetischer Hinsicht? Verändert sich möglicherweise mit den Sehgewohnheiten unser Weltbild?

Wiederholt stößt man auf die Vision der globalen Vernetzung aller Medien, wie sie Claudia Meglin folgendermaßen formuliert: „In absehbarer Zeit werden Spielfilme digital aufgezeichnet werden. Alle Informationen sind auf Datenspeichern festgehalten und können unendlich manipuliert werden. Der lineare Prozess des Filmemachens wird sich sozusagen schrittweise selbst auflösen. Mehr noch: Der Film der Zukunft wird vom Verleih direkt auf die Festplatte des Kinobesitzers geladen und via Videobeamer projiziert. Zwischen Fernsehen, Film, Internet und Computerspielen herrscht so etwas wie grenzüberschreitender Verkehr.“[2]

Die neue Technologie gewinnt aber nicht nur für das Kino an Bedeutung: Die ‚Neuen’ – digitalen – Medien dringen zunehmend in alle Lebensbereiche vor und sind Zeichen einer globalen Entwicklung zur Informationsgesellschaft und des damit einhergehenden fortschreitenden Abstraktionsprozesses der Kommunikation. In starker Wechselwirkung mit einer massiven Expansion des Wirtschaftsfaktors leitet die zunehmende elektronische Durchdringung der Gesellschaft neue Strukturen im Herstellungs- und Distributionsverfahren ein und wirkt sich nachhaltig in einer spezifisch technischen Ästhetik und einer entsprechend technisch orientierten Wahrnehmung aus.

Dieser Trend löst auf der einen Seite eine Welle der Euphorie aus, die im Technokult vor allem junger Leute aber auch in den hoffnungsvollen Wirtschaftsprognosen des Medienbereichs ihren Ausdruck findet. Auf der anderen Seite beobachten Kritiker mit Sorge und Misstrauen die unaufhaltsamen Veränderungsprozesse, die der Computer in Kultur und Gesellschaft herbeiführt: Veränderungen des Weltbildes, zunehmende Schnelllebigkeit, Erfahrungsverlust des Körpers zugunsten einer Immaterialisierung von Arbeitsmitteln und -prozessen, was Buckminster Fuller das „Ephemerwerden der Arbeit“ nannte. An der Schnittstelle der Extreme führt die Auseinandersetzung mit der neu entstehenden Medienumwelt, zu der auch das digitale Kino gehört, zu einer Fülle von ethischen, anthropologischen und kulturellen Konflikten.

Ziel der folgenden Arbeit ist es, einige der zentralen wissenschaftlichen Thesen aus bereits vorliegenden Publikationen aufzugreifen und einander gegenüberzustellen, sowie neue mögliche Untersuchungsfelder zu erschließen. Zunächst soll ein kurzer historischer Abriss Aufschluss darüber geben, in welchem Zeitrahmen wir uns bewegen und mit welchen Techniken wir es zu tun haben. Anhand von Beispielen beginnend mit ersten Experimenten über Simulationstechniken beim Militär bis zu den ersten volldigitalen Artefakten im Kino, werden die Meilensteine dieser Entwicklung vorgestellt. Zweitens sollen die theoretischen Grundlagen des digitalen Filmmediums dargelegt werden. Es geht hier um Fragen der Wesenheit digitaler Artefakte und der Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Vergleich mit analogen Medien. Im Zentrum dieses Kapitels steht die Frage nach dem wesentlich Neuen, welches die digitale Technologie in die Medienwelt einbringt. Im dritten Kapitel nähern wir uns der ästhetischen Auseinandersetzung, indem wir den schöpferischen Prinzipien computergenerierter Bilder auf den Grund gehen. Schließlich kommen wir auf die oben genannten Probleme der Ästhetik und Wahrnehmung digitaler Medien im Kontext des Kinofilms zu sprechen. Behandelt werden hier die Auswirkungen der technischen Besonderheit digitaler Artefakte auf ihre Ästhetik und ihre Wahrnehmung durch den Zuschauer. Im vierten und letzten Teil geht es schließlich um die Beurteilung der digitalen Medien im kulturellen und gesellschaftlichen Kontext, wobei hier die Frage nach der Produktivität des Zuschauers im Mittelpunkt steht.

2: Nullen und Einsen auf dem Weg ins Kino

Durch die digitale Technologie wurde das Filmemachen teilweise von Grund auf revolutioniert. Aber nicht alle digital anmutenden oder digital unterstützten Techniken sind wirklich neu. Zu unterscheiden sind solche Techniken, die durch den Computer lediglich optimiert, vereinfacht oder beschleunigt und solche, die im digitalen Zeitalter erst möglich wurden. Eine kurze Geschichte der Computeranimation und digitalen Bildbearbeitung soll im Folgenden die wichtigsten Techniken anhand von Beispielen vorstellen.

1966 entstand einer der ersten digitalen Computer-Kurzfilme: Permutations. John Whitney sen. filmte Vektorgrafiken von einem CRT-Monitor (Cathode Ray Tube = Kathodenstrahlröhre) ab und kombinierte die einzelnen Elemente mit einem optischen Printer zu Animationen. Bald wurden solche technischen Grafiken in Science-Fiction-Filmen als Displays für Computermonitore eingesetzt, meist als Rückpro eingeblendet. Unter anderem sieht man solche Displays mit einfachen Animationen und Wireframes in Kubricks 2001: A Space Odyssey (1968). Die Entwicklung der Computergrafik wurde durch Luft- und Raumfahrt sowie militärische Forschungsinstitute vorangetrieben. „Am Computer konnte die Landung auf dem Mond ebenso simuliert werden wie die Steuerung eines Jagdbombers oder des modernsten Passagierflugzeugs“.[3]

Anfänglich größtes Problem war die fehlende Raumtiefe der Computergrafiken, da alle abgebildeten Flächen optisch auf einer Ebene lagen und somit keine räumliche Wirkung zustande kam. 1969 wurde ein Prozess entwickelt, mit dem man das Problem der Überschneidungen umgehen konnte. Ab Anfang der 70er Jahre konnte Lichteinfall in einfacher Form ohne Reflexion simuliert werden; der räumliche Eindruck verstärkte sich. Ohne spezifische Textur sahen die Objekte anfangs noch wie Plastik aus. Als man dazu überging, die Oberflächen mit entsprechenden Texturen zu versehen, sahen die Objekte realistischer aus.

Ed Catmull führte 1975 ein Verfahren ein, mit dem man zweidimensionale Bilder oder Muster als Oberflächenstruktur auf dreidimensionale Computerobjekte legen konnte. Im gleichen Jahr entstand an der Universität von Utah mit dem „Teapot“ eine Technik des Modellierens, die lange Zeit Bestand haben sollte. Die Teekanne wurde vermessen und abgezeichnet, wichtige Punkte wurden mit Koordinaten versehen und in den Computer eingegeben. Auf dieser Basis entstand ein Computermodell. Der Teapot entwickelte sich zur Ikone der Computergrafik-Industrie. Potenzielle Geldgeber (Hollywood) zeigten jedoch kein Interesse für die elektronische Spielerei. Noch war die Technik zu kostspielig und zeitaufwändig.[4]

Die erste Berührung zwischen Computer und Spielfilm geschah in Form eines „Motion Control“ genannten Verfahrens. Motion Control bietet die Möglichkeit, Kamerafahrten exakt und beliebig oft zu wiederholen. Das kann von Nutzen sein, wenn man beispielsweise Modell-Aufnahmen mit Real Action Footage kombinieren möchte. Die Daten der Kamerafahrten können an die Computeranimation übermittelt und dort auf die Bewegungen einer virtuellen Kamera übertragen werden. Die erste Motion-Control-Kamera wurde von Douglas Trumball und John Dykstra für Star Wars (1977) entwickelt, um realistische Luftkämpfe aufzunehmen. Knapp zehn Jahre zuvor hatte Trumball die revolutionären Sturzsequenzen in 2001 mit Hilfe einer eigens konstruierten Slit-Scan-Maschine realisiert. Der grandiose Erfolg des Films inspirierte George Lucas zu seinem Weltraumepos Star Wars, dessen Special Effects die berauschende Wirkung von 2001 noch überbieten sollte. Sein kühnes Projekt wurde von den Majors als unverfilmbar abgelehnt, indessen gründete Lucas seine eigene Special-Effects-Firma Industrial Light & Magic, ILM.[5]

Eine Welle von Super-Effekt-Filmen folgte Anfang der 80er Jahre, darunter Dragonslayer (Matthew Robbins, 1981), Poltergeist (Tobe Hopper, 1982) und E.T.: The Extraterrestrial (Steven Spielberg, 1982), die Star-Trek-Kinofilme, Die unendliche Geschichte (Wolfgang Petersen, 1984) und Enemy Mine (Wolfgang Petersen, 1985), was die Entwicklung der Filmtechnologie beschleunigte. „Klar, dass man im Anschluss an Roboterkameras/ Kameraroboter und Kameraleute, die zu Programmierern geworden waren, an Bilder dachte, die ganz und gar synthetisch herzustellen sind.“[6]

1976 gab die Rastergrafik ihr Debüt in einem Spielfilm: In Futureworld (Richard T. Heffron) formt sich der Roboter-Klon eines von Peter Fonda gespielten Reporters. „Anders als die Vektorgrafiken bestehen die Rastergrafiken aus vielen Polygonen, die einzelne Flächen überspannen. Sie erscheinen realistischer, da die Oberflächen Lichtreflexionen simulieren können und somit plastischer wirken.“[7] Auf Peter Fondas weiß geschminktes Gesicht wurde ein Raster projiziert und von zwei Seiten fotografiert. Auf der Grundlage dieser Fotos wurde ein Computermodell erstellt. Im Film rotiert der Kopf und verwandelt sich von einem einfachen Polygon-Modell zu einem plastikartig glänzenden Darstellerkopf. Die gleiche Technik wurde in Looker (Michael Crichton, 1981) angewandt: Susan Deys Körper wurde als Gittermodell nachgebaut, das sich im Film in einen texturierten Körper verwandelt.

Der unvollendete Spielfilm The Works (Alexander Schure 1978-83) ist eine animierte Zukunftsvision, in der die Erde von einem allmächtigen Computer beherrscht wird, während die Menschen in Fabriken schuften müssen. Diese werden aber nicht gezeigt, vielmehr sind Roboter die Protagonisten. Diese retten schließlich die Erde, indem sie den Computer ausschalten. Es wäre wohl der erste vollends computergenerierte Spielfilm gewesen.[8] Das Projekt musste aber wegen Geldmangels eingestellt werden ebenso wie 1993 das französische Projekt 20 000 Meilen unter dem Meer mit digitalen Darstellern von Didier Pourcel. Das verbliebene technische Know-How wurde in der Werbung und für TV-Logos weiterbenutzt.[9]

Die erste ausschließlich auf Computern erstellte Einstellung wurde in Star Trek 2: The Wrath of Kahn (Nicholas Meyer, 1982) gezeigt. Der Genesis-Planet ist „der erste vollständig dreidimensionale Planet, der nicht durch Modelle dargestellt, sondern ausschließlich am Computer erzeugt wurde. (...) Von der Idee, die Sequenz als Computersimulation zu realisieren, musste das produzierende Studio erst überzeugt werden, da Computerbilder als nicht dramatisch genug galten. Das Ergebnis, Verwandlungseffekte von hoher Komplexität und Überzeugungskraft, sind Bilder, die noch nie auf der Leinwand zu sehen waren – mit der Einschränkung allerdings, dass sie im Rahmen der Spielhandlung als Videobilder auftauchen, die dem Protagonisten vorgespielt werden.“[10] Ein weiterer Planet wurde 1984 für Peter Hyams 2010 – The Year We Make Contact digital erzeugt: ein Jupiter mit wirbelndem Ring aus Wolken. Es war der Versuch, Kubricks 2001 durch technische Raffinessen zu überbieten. Der Film floppte jedoch an den Kinokassen.

Für den 1982 entstandenen Disney-Film Tron (Steven Lisberger) arbeiteten die vier damals renommiertesten CGI-Firmen der USA zusammen. Ganze fünfzehn Minuten Computeranimation sind in dem Film zu sehen. „Der größte Teil der Animationen waren Rastergrafiken, die vom Monitor abgefilmt wurden. Eine fertige Einstellung bestand aus einer Vielzahl von einzelnen Animationen, die mehrfach aufgenommen und im optischen Printer miteinander kombiniert wurden.“[11] Im ganzen Film waren die computergenerierten Bilder in der Minderzahl, Hauptteil der Effekte übernahmen klassische Animationstechniken. Für den Cyberspace wurden die Live-Action-Szenen in Schwarzweiß gedreht, Bild für Bild vergrößert und von Hand koloriert und schließlich in mühsamer Kleinarbeit mit tausenden farbiger Computerbilder zusammenkopiert. Die CG-Spezialisten waren enthusiastisch und glaubten an einen Durchbruch mit Dominoeffekt. Der Erfolg blieb jedoch aus: Der technisch-künstliche Look der Computergrafiken wirkte zu kalt und abstrakt, verstörte das Publikum und war zudem schwer mit realen Spielfilmszenen in Einklang zu bringen.

Etwa zur selben Zeit arbeiteten die beiden Experimentalfilmer John Whitney jr. und Gary Demos an Computeranimationen für The Last Starfighter (Nick Castle, 1984). Ästhetisch erinnern die CGI-Sequenzen aus Tron und The Last Starfighter an zeitgenössische Computerspiele und Videogames, die aus Flugsimulatoren hervorgegangen sind. Stilbildend wirkte die „Tunnel-Sequenz“ aus Tron, der Übertritt des Helden in den Cyberspace. Seit Kubricks 2001 waren tunnelartige Sequenzen mit konzentrisch auseinanderstrebenden geometrischen Mustern ein formaler Topos für den Übergang in andere Seinszustände. Solche psychodelischen Bilderströme kehren als Bildzitat in späteren Filmen wie The Lawnmower Man (Brett Leonard, 1992), Stargate (Roland Emmerich, 1994) oder Contact (Robert Zemeckis, 1997) wieder.

Die erste Animation eines künstlichen Menschen präsentierte Robert Abel 1985 mit „Sexy Robot“ in einem TV-Werbespot des National Canned Food Information Council. Die Bewegungen des Chrom-Roboters wirken verblüffend realistisch. Hierfür wurden die Bewegungen einer mit Markern bestückten Schauspielerin von drei Seiten gleichzeitig aufgenommen und zum Abgleichen mit dem parallel entstehenden Gittermodell auf den Computermonitor projiziert.[12]

Mitte der 80er Jahre kamen die ersten 3-D-Softwarepakete auf den Markt. Bis dahin war die Realisierung von 3-D-Räumen nur im Rahmen groß angelegter Forschungsprojekte möglich. In dieser Zeit gründeten sich Software-Firmen wie Alias Research und Wavefront Technology. Im Bereich der Hardware war Silicon Graphics der Vorreiter. Der Markt war für die Verbreitung der Computeranimation noch nicht reif. Die meisten Firmen, die sich auf 3-D-Grafik spezialisiert hatten, gingen im Lauf der 80er Jahre ein. Am Ball blieben nur jene, die eigene Software entwickelten. Diese fand sporadisch im medizinisch-wissenschaftlichen Bereich und beim Militär Anwendung. Regelmäßig wurden Computeranimationen allein in experimentellen Kurzfilmen eingesetzt, die meist von Forschungsinstituten subventioniert wurden.[13] 1990 präsentierte Karl Sims mit Pansermia eine künstliche Pflanzenwelt, in der sich Lebensformen selbständig entwickeln und vermehren. Sie wirken allerdings noch sehr artifiziell und unwirklich. Von der Öffentlichkeit wurden solche Resultate noch weitgehend ignoriert.

1986 erwarb Apple-Mitbegründer Steve Jobs für zehn Millionen Dollar die Computerabteilung von Lucas: das war die Geburtsstunde der Pixar Animations-Studios. Künstlerischer Star der neuen Gruppe war John Lasseter, der unter Disney gezeichnet hatte. 1995 kam Lasseters Toy Story heraus als Joint-Venture von Disney und Pixar. In der Zwischenzeit wurden Hardware und Software weiterentwickelt. Lucas’ ILM mauserte sich zum Marktführer und schaffte 1985/86 den Durchbruch mit der ersten anthropomorphen Figur in Amblin’s Young Sherlock Holmes (Berry Levinson, 1985). Mitte der 80er Jahre gab es noch keine Möglichkeit, Realfilmaufnahmen zu digitalisieren. Um in Young Sherlock Holmes den halluzinierten kämpfenden Ritter, der sich aus einem Kirchenfenster herauslöst, zu kreieren, behalf man sich mit Malerei: Das Kirchenfenster und der Innenraum wurden auf Glas gemalt, abfotografiert und als Einzelbild eingescannt. Das war der erste in eine Realszene integrierte digitale Darsteller.[14]

Die Verbesserung der Scan-Technik Anfang der 90er Jahre ermöglichte die Digitalisierung von Filmstreifen und somit erstmals die Kombination von 3D-Elementen und Live-Action im Computer. Computerelemente konnten nun an Realszenen angepasst und Darsteller etwa in liquide Formen „gemorpht“ werden. Eine Morphing-Software wurde ursprünglich für Willow (Ron Howard, 1988) entwickelt, um einen fließenden Übergang bei der Metamorphose verschiedener Wesen zu erzeugen: Hier mutiert im Laufe der versatzstückreichen Handlung eine Hexe nacheinander in verschiedene Tiere und schließlich zurück in eine Frau. Ein Durchbruch sowohl in technischer wie auch in ästhetischer Hinsicht war James Camerons The Abyss (1989). Für das transparente Wasserwesen wurde zunächst ein Modell gebaut, das per 3-D-Scanner abgetastet wurde. Auf dieser Basis wurde ein Gittermodell erstellt. „Die Lichtbrechung wurde mit eigens entwickelten Algorithmen simuliert. Für die Reflexion des Raumes auf dem digitalen Wasserwesen wurden Setfotos gescannt und im Computer zu großformatigen Bildern zusammengefügt.“[15] Das Zusammenfügen der Realfilmszene mit den digitalen Elementen geschah im optischen Printer.

Dieselbe Technik wurde auch 1991 in Terminator 2: Judgement Day (James Cameron) für die Mutationen des Flüssigmetall-Cyborgs T-1000 angewandt: „Die schier unaufhaltsame Figur, die Terminator Arnold Schwarzenegger durch den Film hetzt, wandert durch Gitterstäbe wie ein Stück weich gewordener Butter, schält sich gummiartig aus dem gekachelten Fliesenmuster des Bodens und lässt die ihm beigebrachten Einschusslöcher, gleich welchen Kalibers, einfach ‚zufließen’. “[16] In der Vorbereitung malte man T-1000-Darsteller Robert Patrick ein digitales Raster auf den Körper und hielt verschiedene seiner Bewegungen auf Video fest. Anhand der Videoaufnahmen konnten die Animatoren studieren, wie sich das Raster beim Gehen, Rennen, Beugen etc. veränderte. Die einzelnen Punkte wurden dann Bild für Bild auf ein 3-D-Modell übertragen.[17]

Trotz dieser grandiosen Fortschritte blieb die Computeranimation zu Beginn der 90er Jahre im Spielfilm noch eine Ausnahme. Zu teuer und zeitintensiv war die Technik, während vor allem im Low-Budget-Bereich schnell und kosteneffizient produziert werden musste. Zudem hatte sich für die optisch-mechanische Realisierung bizarrer Lichterscheinungen, Explosionen und Raumfahrten in Science-Fiction-Filmen eine große Menge an Know-How angesammelt, auf das Geld und Zeit sparend zurückgegriffen werden konnte, während die Rechnerleistung zur Simulation dreidimensionaler Objekte noch zu wünschen übrig ließ. Noch 1991 wurde in Star Trek 4: The Undiscovered Country (Nicholas Meyer) mit traditionellen Tricktechniken und Modellen gearbeitet. „Der Eindruck gestiegener Rasanz ist den immer aufwendigeren Kamerafahrten geschuldet, die ohne das Hilfsmittel Computer nicht mehr auskamen. Zur Simulation von Objekten und Oberflächen wurde er jedoch kaum eingesetzt.“[18] Zum Einsatz kam allerdings die in Terminator 2 perfektionierte Morphing-Software für die Verwandlung des Fotomodells Iman in den Protagonisten Captain Kirk. „Iman, die eine Figur mit dem beziehungsreichen Namen ‚Gestaltumwandler’ spielt, wechselt mitten im Satz das Aussehen, wobei die Überführung der beiden Gesichter ineinander durch die Synchronisierung der Lippenbewegungen verkompliziert wird. Eine weitere Innovation für die junge Morph-Technik war die Verbindung mit Live-Kameraschwenks, wie sie in einer anderen Szene des Films realisiert wird: hier verwandelt sich ein außerirdisches Untier in ein kleines Mädchen, eine Metamorphose, die neben dem zusätzlichen Element der Kamerabewegung noch extreme Veränderung der Größenverhältnisse bewältigen mußte.“[19]

In zwei anderen Sequenzen wurden Computeranimationen genutzt, um ästhetisierende Bilder von herumfliegenden Partikeln zu erzeugen: schwerelos aus den Wunden klingonischer Kämpfer in den Raum strömendes Blut und eine kosmische Explosion. Die für das Blut verwendete Software baut auf den Entwicklungen für das Wasserwesen aus Abyss und die quecksilberhaft wandelnden Körperteile aus Terminator 2 auf. „Es handelt sich um eine Methode, unregelmäßige, wogende Formen durch Einsatz einfacher Kugeln als Modelle für die Computeranimation zu erzeugen. In die entstandenen Formen mit glatter, flüssig erscheinender Oberfläche wurden die Reflexionen der Umgebungslichter ‚hineingerendert’, ebenso wie auf die Umgebung die Schatten der Animationen, um die Interaktion des schwerelosen Blutes mit den anderen Elementen der Handlung glaubhaft zu machen.“[20]

Bezeichnenderweise fallen in den 90er Jahren zwei Entwicklungstendenzen des Kinos zusammen: auf der inhaltlichen Ebene ein Recycling alter Themen, Plots und Motive – was eine Reihe von Remakes zur Folge hatte – und die digitale Revolution auf der technischen Ebene. Ein Recycling-Kino konnte dem Publikum nur schmackhaft gemacht werden, wenn das Seherlebnis sich deutlich vom Gewohnten abhob. „[O]hne die neuen technischen Möglichkeiten würde die hochtourige Wiederverwertungsmaschinerie leer laufen – allzu deutliche und ermüdende Wiederholungen böten keinen Anlaß, ins Kino zu gehen. Der eigentliche ‚Surplus’, den das Publikum erhält, ist ein rein spektakulärer: immer perfekter, immer täuschender wird die Illusion. Die Steigerung der filmischen Illusion bis hin zur 3-D-Wirkung ist eigentlicher Motor der technischen Entwicklung.“[21]

Mit der zunehmenden Bedeutung der digitalen Postproduktion steigerte sich auch die Komplexität der nachzubearbeitenden Szenen. Immer unverzichtbarer wurde in diesem Zusammenhang das so genannte Wire Removal, die nachträgliche Entfernung störender Haltedrähte aus dem Bild. Die digitale Retusche erfordert das direkte Eingreifen in Realaufnahmen, die hierfür zuerst digitalisiert werden müssen. Bevor dies möglich war, konnte man Hilfskonstruktionen bei komplizierten Stunts quasi nur durch den Schnitt oder einen entsprechenden Bildausschnitt kaschieren. Tricksequenzen waren somit klare Grenzen gesetzt. Die Digitaltechnik sprengt diese Grenzen auf, was die gesteigerte Spektakularität und Rasanz vieler Action- und Fantasy-Filme der 90er Jahre erklärt. Cliffhanger (Renny Harlin, 1993) war einer der ersten Filme, in dem das Wire Removal zum Einsatz kam, um die Drähte zu entfernen, an denen Sylvester Stallone über den Abgründen der Rocky Mountains hängt. Ebenso wurden die Haltevorrichtungen in Terminator 2 wegretuschiert, die den atemberaubenden Motorrad-Stunt Arnold Schwarzeneggers erlauben.

Anfang der 90er Jahre war die hochauflösende Bildbearbeitung nur jenen Firmen vorbehalten, die eigene Entwicklungsabteilungen hatten. Doch schon wenige Jahre später schossen Softwarefirmen aus dem Boden, die Kombinationen von 3-D-Computergrafiken und Realfilm anboten. Die zuvor noch langwierige digitale Nachbearbeitung von Film und Video konnte nun in einem Bruchteil der Zeit umgesetzt werden. ILM war inzwischen marktführend in diesem Sektor. Für Death Becomes Her (Robert Zemeckis, 1992) wurden Versatzstücke von Körperteilen im Computer generiert. „CG-Elemente wie Hals und Partien des Kopfes wurden an die Bewegung der Live-Action-Plates angeglichen. Grundlage hierfür war die digitale Bildanalyse, die der Computer selbst durchführt. Automatisch werden ein oder mehrere Bildmuster über den Verlauf der Sequenz verfolgt. Aus diesen Daten lässt sich die Bewegung eines Objektes oder der Kamera ableiten. Im Fachjargon heißt diese Technik ‚Tracking’.“[22] Extensiv genutzt wurde die digitale Bildanalyse 1992 in Steven Spielbergs Jurassic Park: Erstmals gelang hier die tadellose Integration fotorealistischer Lebewesen in Realsequenzen. Die Grenzen von Real- und Computerfilm begannen sich aufzulösen.

Ursprünglich sollten einige der Szenen aus Spielbergs Jurassic Park noch mit klassischer Stop Motion umgesetzt werden, aber die Resultate der Computeranimation waren so verblüffend, dass man sich schließlich für sie entschied. „Programme wie Enveloping manipulierten das Fleisch der urzeitlichen Riesen bei der Bewegung realistisch mit, und dank View Paint konnten sie in einer dreidimensional glaubhaften Weise koloriert werden.“[23] Der zweite Teil, The Lost World (1997), floppte, obwohl technisch noch besser, an den Kinokassen. Der Reiz des Neuen war weg. Mehr Erfolg hatte die BBC mit ihrem semidokumentarischen Dreiteiler Walking with Dinosaurs (Tim Haines, Jasper James, 1999). Wenig später folgte Disney mit sprechenden Dinosauriern.

Die Urtiere für Jurassic Park, Godzilla (Roland Emmerich, 1998), The Flintstones (Briant Levant, 1994) sollten so realistisch wie möglich wirken. Für die BBC-Dokumentarreihe Walking With Dinosaurs wurden wissenschaftlich exakte Ton-Modelle der prähistorischen Tiere angefertigt und mit einem 3-D-Scanner digitalisiert. Für die Bewegungsanimation mussten die so entstandenen Gittermodelle zunächst vereinfacht und mit Steuerungshilfen versehen werden. Die einzelnen Bewegungsphasen wurden durch entsprechende Kurven wiedergegeben.

1994 wurde in Star Trek 7: Generations (David Carson) zum ersten Mal das Modell des Raumschiffs Enterprise in einigen Szenen durch reine Computeranimationen ersetzt. Begründet wurde die Entscheidung von ILM durch die äußerst komplexe Interaktion zwischen Raumschiffen und einem computergenerierten kosmischen Energieband, in dessen Innern die Raumschiffe durch Energietentakeln gefangen gehalten werden. Die Realisierung der entsprechenden Sequenzen bedeutet den Vorstoß in eine neue Generation von filmischen Mitteln, die zum ersten Mal die „Virtualisierung des Raumes, die Dehnbarkeit seiner einzelnen Bestandteile“[24] glaubhaft visualisieren.

Ebenfalls 1994 entstand die Komödie The Mask (Chuck Russell). In dieser Variation des ‚Dr. Jekyll und Mr. Hyde’-Themas wird Jim Carrey zu einer dreidimensionalen Cartoonfigur, die unbeschadet sämtliche Angriffe auf ihren Körper übersteht, was bis dahin allein im Zeichentrick möglich war. Die hier realisierten Animationen befinden sich an der Grenze zum synthetischen Darsteller. „Time was when only animated characters were steamrolled flat, split in two, rolled up like a carpet, had detachable organs and limbs, that could be streched like chewing gum. All this wizardy was locked up in the artist’s brush and ink, to be unleashed upon the mice, cars, rabbits, wolves and dogs that scampered through Hollywood’s craziest cartoons. But no longer. Look at Jim Carey, a flesh-and blood actor in the Mask. He whirls himself into a blur. His legs wrap round his body... When the villain gets to work, he bounced of walls, pierced by bullets. Within a few seconds he is whole again.“[25]

Während die Gestaltung lebendiger Organismen, von Haut und Haaren noch Probleme bereitete, gelangen glatte Oberflächen wie Plastik und Metall hervorragend. Toy Story (John Lasseter, 1995) war das Resultat einer Überlegung, wie man aus der Schwäche der Computeranimation eine Tugend machen könne – und so entstand ein ganzer Spielfilm über lebendig gewordenes Spielzeug. „125 Computertechniker und Trickfilmanimatoren arbeiteten vier Jahre, 300 Sun-Hochleistungsrechner wurden eingesetzt. Um die 114240 Einzelbilder zu errechnen, war ein Speicherbedarf von 500 Gigabyte nötig. Insgesamt leisteten die Computer 800 000 Rechenstunden.“[26]

Zunächst wurde ein klassisches Storyboard erstellt. Die Animatoren legten die exakten Bewegungsabläufe fest, und die von Hand gefertigten Zeichnungen der Figuren wurden eingescannt. Auf dieser Grundlage entwarf man im Computer ein „Wireframe“ genanntes 3-D-Gerüst, wobei von einigen besonders wichtigen Objekten dreidimensionale Tonmodelle angefertigt wurden, die man mit einem 3-D-Scanner digitalisierte. Das im Computer vorliegende geometrische Gittermodell wurde danach mit einer Textur überzogen, ein Vorgang, der sich „Texture Mapping“ nennt. Die eigentliche Animation leisteten spezielle Programme, wobei jede Figur mit hunderten sog. „Avars“ (Articuleated Variables) versehen war, welche die Kontrolle jeder einzelnen Bewegung ermöglichten. Aufwändigster Produktionsschritt war das „Shading“: mit dem Shader-Programm wurde die Feinabstimmung der Oberflächen vorgenommen, die Bearbeitung jedes Objekts mit Schatten, Farben und Texturen, wobei allein das Schreiben des Programms für die Haare der menschlichen Darsteller neun Monate dauerte. Nicht alle Oberflächen wurden unmittelbar im Computer erzeugt, viele wurden von Fotos realer Gegenstände eingescannt. Danach folgte die Beleuchtung der Szenen und die Simulation realistischer Lichtverhältnisse. Am Ende kam das „Rendering“: Mit der von Pixar entwickelten Software Renderman sammelte der Computer die vollständigen Informationen über Oberflächenstrukuren und Bewegungsabläufe und setzte sie in zweidimensionale Bilderfolgen um.[27]

[...]


[1] Eddie Murphy in The Making of Shrek (2001)

[2] Meglin, S. 183

[3] Meglin, S. 171

[4] vgl. Meglin, S. 172

[5] vgl. Christmann, S. 189 f.

[6] Giesen, S. 31

[7] Meglin, S. 175

[8] vgl. Meglin, S. 174

[9] vgl. Giesen, S. 33

[10] Hoberg, S. 96 f.

[11] Meglin, S. 175

[12] vgl. Meglin, S. 175 f.

[13] vgl. Meglin, S. 172 f.

[14] vgl. Meglin, S. 176

[15] Meglin, S. 177

[16] Giesen, S. 34

[17] vgl. The Making of Terminator 2: Judgement Day (1992)

[18] Hoberg, S. 98

[19] Hoberg, S. 99

[20] Hoberg, S. 99

[21] Hoberg, S. 126

[22] Meglin, S. 178

[23] Giesen, S. 34 f.

[24] Hoberg, S. 100

[25] Geoff Brown: „A case of laughter and love at first byte“. In: Times, 18.8.1994, S.29, 1994, S. 29, zit. n. Hoberg, S. 139

[26] Giesen, S. 36

[27] vgl. Giesen 36 f.

Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
Digitales Kino - Alchemie des Computers
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut der Filmwissenschaft)
Note
2,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
85
Katalognummer
V45735
ISBN (eBook)
9783638430876
ISBN (Buch)
9783656253297
Dateigröße
615 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Digitales, Kino, Alchemie, Computers
Arbeit zitieren
Anna Purath (Autor:in), 2005, Digitales Kino - Alchemie des Computers, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45735

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