Das Scheitern eines Ästheten. Über den Protagonisten Max Aue in Jonathan Littells "Die Wohlgesinnten"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2011

21 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Über den Protagonisten Max Aue in Jonathan Littells Die Wohlgesinnten.

I. Charakterisierung eines Ästheten: Vorgehensweise und Zielsetzung S.

II. Das Scheitern eines Ästheten. Über den Protagonisten Max Aue in Jonathan Littells Die Wohlgesinnten. S. 3

1. Zur Ästhetik des Nationalsozialismus: Max Aue als tugendhaftes Vorbild S.

2. Zuschauer/Täter? Der Protagonist als Mitwisser, Beteiligter, Urteilender S.

3. Der Autor Aue: Schreiben als ästhetischer Produktionsprozess S.

4. Das Scheitern des Ästheten als Möglichkeit der Holocaustdarstellung S.

III. Die Zukunft der NS-Vergangenheit in der Kunst S.

IV. Literaturverzeichnis S.

Das Scheitern eines Ästheten.

Über den Protagonisten Max Aue in Jonathan Littells Die Wohlgesinnten.

I. Charakterisierung eines Ästheten: Vorgehensweise und Zielsetzung

„Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist.“1 Es ist kein leich-tes Unterfangen, dem sich der Erzähler des Romans Die Wohlgesinnten widmet. Im Gegenteil erscheint das Vorhaben geradezu anmaßend. Die nachfolgenden Ausführung-en betrachten die Ansprüche, die der Protagonist als Akteur und Autor an sich selbst stellt und inwiefern er ihnen gerecht wird beziehungsweise unmöglich gerecht werden kann.

Immer wieder stilisiert sich der erzählende Protagonist Max Aue im Verlauf seines angeblich authentischen Berichtes zum ästhetischen, humanistisch gebildeten Menschen. Bis zu einem gewissen Grad kann ihm Intelligenz, Intellekt und Geschmack auch keinesfalls abgesprochen werden. Doch gleichzeitig stechen wiederkehrende Brüche in dieser Selbstdarstellung ins Auge, sei es in Form ethisch-moralischer Unfähigkeit, ekelerregender Körperlichkeit oder im perversen Begehren der eigenen Schwester.

Die folgenden Untersuchungen befassen sich mit der Diskrepanz besagter Selbstan-sprüche und deren tatsächlicher Umsetzung hinsichtlich der nationalsozialistischen Karriere des Protagonisten, der Täterschaft und moralischen Urteilsfähigkeit sowie der Autorrolle des Erzählers.

II. Das Scheitern eines Ästheten. Über den Protagonisten Max Aue in Jonathan Littells Die Wohlgesinnten.

Ein Blick auf die Etymologie des Begriffs Ästhetik und dessen Begriffsgeschichte seit seiner philosophisch-wissenschaftlichen Etablierung im deutschsprachigen Raum ab dem 18. Jahrhundert zeigt mehrere unterschiedliche Bedeutungsebenen auf, sodass eine einheitliche und allgemeingültige Definition kaum möglich ist. Zusammen mit der spezifischen Erzählsituation ergibt sich daraus die Strukturierung der folgenden Ausführungen, die den Protagonisten Max Aue aus unterschiedlichen Perspektiven hinsichtlich seiner ästhetischen Ansprüche und seines ästhetischen Daseins betrachten. Die Aufgliederung erfolgt im Anschluss an Margaret-Anne Huttons Beobachtungen zum Erzähler in Die Wohlgesinnten:

„Littell's narrator is an actor in the Holocaust, but he is also a spectator of both others and of himself. […] Aue further occupies a position as a retrospective spectator, looking back some six decades after the events of the Second World War in order to produce the account we are reading. In other words, Littell has chosen to create a self-observing retrospective narrator who is also an author.“2

Der erste Abschnitt zu Max Aues Rolle als Akteur im nationalsozialistischen Regime untersucht sein Auftreten und Handeln innerhalb ästhetischer Konventionen des Nationalsozialismus. Das Hauptaugenmerk liegt hierbei auf der Ästhetisierung des Menschen und seines Lebens innerhalb des totalitären Regimes.

Im nachfolgenden Abschnitt steht Max Aues Position als Betrachter im Mittelpunkt und wird im Zusammenhang mit der Ästhetik der Aufklärung und des Idealismus unter-sucht, reiht sich Aue doch gern auf Grund seiner humanistischen Bildung und intellektu-ellen Fähigkeiten in diese Tradition ein. Zudem bildet die Dimension des Wahrnehmens und anschließender moralischer Urteilsbildung im Geiste der aufklärerisch-humanis-tischen Ästhetik den Maßstab, woran Aues Zuschauerstatus zu messen ist.

Zum Ende liegt der Fokus auf dem Protagonisten als Autor seines Tatsachenberichtes und beleuchtet das Schreiben als ästhetischen, schöpferischen Akt.

1. Zur Ästhetik des Nationalsozialismus: Max Aue als tugendhaftes Vorbild

Der Nationalsozialismus entwickelte eine starke Ästhetisierung aller Lebensbereiche im Sinne der Ideologie. Dazu gehören neben der theatralischen Inszenierung politischer und gesellschaftlicher Ereignisse natürlich die Uniformierung, die Normierung der Kunst, Literatur und Musik unter Ausschluss sogenannter entarteter Werke, aber auch die Gestaltung der Familie und des Menschen nach arischem Ideal3, man denke Beispielsweise an die Institutionen des Lebensborn e.V. Die Ästhetik erhält im Totali-tarismus eine pervertierte politische Dimension und dient maßgeblich zur Etablierung und Aufrechterhaltung der Ideologie. Günter Hartung konstatiert den Zweck der Ästhetik im Rassismus darin, dass sie den Künsten jeden Selbstzweck absprechen, „die Unterwerfung als naturgegebene Einheit von Kunst und 'Leben'“4 darstellen und im Dienste der Propaganda genutzt werden soll. Friedrich Schillers Idee5 des ästhetisch ge-bildeten und damit geistig freien, zu souveränen Entscheidungen sowie demokratischer Partizipation fähigen Menschen erfährt dadurch eine negative Umdeutung, kann der Faschismus doch keine Spielräume der Freiheit dulden, die sich der totalen Funktionalisierung entziehen würden.6 Der NS-Ideologe Alfred Rosenberg ersetzte die aufklärerischen Gedanken bezüglich Wahrnehmung, Urteilsbildung und unvorein-genommener Verständigung durch einen jedes reflektierende Urteil ausschaltenden Absolutheitsanspruch der faschistischen Ideologie.7

Auch die Sprache erfährt eine gewisse Ästhetisierung beziehungsweise Ökonomi-sierung, indem die verbrecherischen Handlungen in sachlich-neutralem Ton und technisch anmutendem Vokabular wiedergegeben werden. Sehr eindrucksvoll ist dies an Rudolf Höß' autobiographischen Aufzeichnungen8 zu beobachten.

Für die spätere künstlerische Rezeption des Nazismus stellt Saul Friedländer als Grund für die Faszination faschistischer Ästhetik fest, was auch im Nationalsozialismus galt:

„Der ästhetische Reiz wird ausgelöst durch den Gegensatz zwischen Kitsch-Harmonie und permanenter Beschwörung der Themen Tod und Zerstörung; das Verlangen wird durch Erotisierung der Macht, der Gewalt und der Herrschaft geweckt, aber gleichzeitig durch Darstellung des Nazismus als des Zentrums aller Entfesselung der unterdrückten Affekte; der Exorzismus schließlich setzt – heute wie damals – sein ganzes Bestreben darein, durch die Sprache Distanz zu halten gegenüber der Realität des Verbrechens und der Vernichtungspolitik, durch Verkehrung der Vorzeichen eine andere Realität zu behaupten – und letztlich uns zu beschwichtigen durch den Beweis, daß die elementaren Moralgesetze immer befolgt worden seien.“9

Kritiker warfen Jonathan Littell vor, mit Die Wohlgesinnten einen Text in bester Nazi-Kitsch-Manier geschaffen zu haben. Betrachtet man beispielsweise den Protagonisten Maximilian Aue in seiner Rolle als nationalsozialistischer Offizier, scheint dieser Vorwurf teilweise sogar gerechtfertigt. Max Aue ist auf den ersten Blick der Inbegriff eines ideologietreuen Nationalsozialisten, der selbstverständlich die von Heinrich Himmler in seiner Posener Rede vom 4. Oktober 1943 aufgezählten Tugenden des SS-Mannes – Treue, Gehorsam, Tapferkeit, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Kameradschaft, Verantwortungsfreudigkeit und Fleiß – erfüllt (zumindest sofern man vom Biss in Hitlers Nase und dem Ende des Romans absieht, doch ist die Szene des Mordes an Thomas keine Handlung innerhalb des Regimes und nicht durch NS-Pflicht gefordert.).

Zunächst erscheint Max Aue als schneidiger Offizier mit fundierter Bildung und Intellekt. Er ist promovierter Jurist10, liest oder zitiert anspruchsvolle Literatur (Stendhal11, Proust12, Lermontow13 und Dante14, um nur einige Beispiele zu nennen. Gern hätte er auch Philosophie und Literatur studiert.15 ) beweist Kenntnis in Musik, Kunst16, Architektur und Geschichte17, spricht mit Französisch, Deutsch, Altgriechisch, Latein und Russisch mehrere Sprachen und besucht Theateraufführungen18. Vor allem die Musik scheint es ihm angetan zu haben. Schon die Titel der einzelnen Kapitel in Anlehnung an die Bestandteile einer barocken Suite zeigen seine Affinität zur Musik, wenngleich er selbst kein Instrument beherrscht und dies auch bereut. Aue äußert sich immer wieder mit überdurchschnittlichem Wissen zu Komponisten unterschiedlichster Epochen, Musikstücken oder deren Interpretation19. Auffällig ist hierbei die häufige Bezugnahme auf Johann Sebastian Bach und nicht, wie man im nationalsozialistischen Kontext vermuten könnte, auf Wagner. Thomas bezeichnet Aue als „Feingeist“20.

Ebenso interessiert sich Maximilian Aue für Philosophie, im Zuge seines Studiums befasste er sich mit Kant und Hegel21, doch erfolgt selten und keinesfalls ein tiefgründ-iges Hinterfragen der faschistischen Ideologie und Handlungen. Eine besonders intensive Beschäftigung schien mit Platons Philosophie22 stattgefunden zu haben, bezieht Aue sich doch vermehrt auf den antiken Philosophen. Der Philosoph und NS-Pädagoge Alfred Bäumler zog in seiner Schrift zur Ästhetik aus dem Jahr 1934 Platons philosophische Grundlagen heran, um die Ästhetisierung der NS-Politik zu begründen.23 Im Gegensatz dazu nutzt Aue Platons Symposion, um die homosexuelle Liebe vor Kameraden zu legitimieren24.

Von seinen heimlichen homosexuellen Neigungen abgesehen will der Protagonist vorbildlich im Dienste der Ideologie tätig sein und zeichnet sich durch eifriges, genaues Arbeiten aus, was ihm mehrere Male Kontakt zu und Lob von hochrangigen Parteimitgliedern einbringt, verknüpft mit ehrenvollen Aufgaben und Posten. Dies ermöglicht ihm zudem den schrittweisen Aufstieg vom Obersturmführer zum Obersturmbannführer innerhalb des Regimes. Aue denkt und argumentiert ganz im Sinne der Rassenideologie und des Führerwillens, was fast gänzlich dem aufklärerisch-humanistischen Denken, mit dem er vertraut zu sein vorgibt, entgegensteht. Auf absurde Weise zeigt dies beispielsweise die Unterhaltung mit einem sowjetischen Intellektuellen und Kriegsgefangenen, der mit Aue die Ähnlichkeiten von Faschismus und Kommun-ismus diskutiert.25

Aus nationalsozialistischer Perspektive reiht sich Maximilian Aue so unter die vorbild-lichsten Vertreter der Ideologie und des Regimes. Er selbst beschreibt seine Beweg-gründe für den Einsatz im Nationalsozialismus folgendermaßen:

„Die Leidenschaft für das Absolute war daran genauso beteiligt wie – eines Tages stellte ich es mit Entsetzen fest – die Neugier: Hier wie bei so vielen anderen Dingen meines Lebens war ich neugierig, bestrebt herauszufinden, wie sich das alles auf mich auswirkte. Unablässig beobachtete ich mich.“26

Der Faschismus ist ein Extrem, weshalb hier das Absolute mit größtmöglicher Annäher-ung erreichbar ist und das eine Unmenge an Erscheinungen, Besonderheiten und Absonderlichkeiten mit sich bringt, die Neugier zu stillen.

Doch allein durch die nationalsozialistisch vorzüglichen Eigenschaften ist der Protago-nist nicht vollständig charakterisiert. Immer wieder wird das Bild des engagierten, vorbildlichen Nationalsozialisten gebrochen durch Schilderungen seiner tragischen familiären Beziehungen und seines perversen Begehrens.

Mehrfach wird Aue in Nazikreisen darauf aufmerksam gemacht, dass es als regimetreuer, arischer Mann zu seiner Pflicht zählt, für Nachkommen zu sorgen. Doch sein Verhältnis zu Frauen ist schwierig. Er begehrt einzig seine Zwillingsschwester Una, mit der es in Kindheits- und Jugendtagen zu inzestuösen Handlungen kam. Da eine Liebesbeziehung über die Grenzen des Familiären hinaus unmöglich ist, Aue sich keiner anderen Frau widmen will, stillt er seine sexuelle Begierde mit Männern, wobei er die Rolle des Passiven, des Penetrierten einnimmt: „In Wirklichkeit, ich bekenne es, ohne rot zu werden, wäre ich lieber eine Frau gewesen.“27 Gleichzeitig dienen auch sadomasochistische Praktiken seiner Befriedigung, in denen er wiederum eine devote Position einnimmt.28

Die familiäre Konstellation destabilisiert ebenfalls den Status des vorbildhaften Nationalsozialisten Aue. Sein leiblicher Vater bildet eine Leerstelle, verließ er doch die Familie in Kindheitstagen und verschwand ohne ein weiteres Lebenszeichen. Dass die Mutter ihren ersten Mann Jahre später für tot erklären ließ und erneut heiratete, belastet das Verhältnis von Max Aue zu ihr. Die nicht vorhandene Vaterfigur erschwert eine Identitätsfindung, die womöglich im Nationalsozialismus Erfüllung finden sollte. Die Krise innerhalb der Familie gipfelt im Mord29 an den Eltern, der von Aue nur nach-träglich in seinen Folgen geschildert wird und so seine berichtende Glaubwürdigkeit untergräbt. Seine Karriere im Nationalsozialismus wäre bei Bekanntwerden der Tat zerstört.

Eine weitere Abweichung von der vorbildlichen NS-Norm lässt sich in den körperlichen Ausscheidungen Aues festmachen, die in absolutem Kontrast zu seiner pedantischen Sauberkeit und Korrektheit seiner Uniform30 stehen. Immer wieder überkommen Aue Anfälle der eruptiven Entleerung indem er sich erbricht oder an Durchfällen leidet:

„Es gelang mir stets, mich des Erbrochenen sauber zu entledigen, in eine Toilette oder ein Waschbecken, ohne allzu viel Aufsehen zu erregen, aber es blieb anstrengend: Die heftige Übelkeit […] entzog mir für lange Augenblicke alle Energie. Wenigstens kam die Nahrung so rasch hoch, dass sie noch nicht sauer war, die Verdauung hatte kaum eingesetzt, das Erbrochene war fast ohne Geschmack, und ich brauchte mir nur den Mund auszuspülen, um mich besser zu fühlen.“31

Derartige Passagen stehen in groteskem Kontrast zu den Schilderungen politischer und geschichtlicher Ereignisse und Verbrechen des Nationalsozialismus. Ähnlich verhält es sich mit den zufällig aufleuchtenden Erinnerungen oder Assoziationen Aues, die ihn oftmals beim Anblick grausamer Szenarien oder bei der eigenen Beteiligung an nationalsozialistischen Verbrechen einholen:

„Bei einer Exekution fiel mein Blick auf einen sterbenden kleinen Jungen in einem Graben: Der Schütze hatte wohl gezögert, jedenfalls hatte die Kugel ihn zu tief, in den Rücken, getroffen. Der Junge zuckte mit den Gliedern, die Augen offen, glasig; und diese grausige Szene überlagerte eine andere aus meiner Kindheit: Ein Freund und ich spielten mit Blechpistolen Cowboy und Indianer. [...]“32

Diese Brüche zerstören das Bild des vortrefflichen Nationalsozialisten und kulturell gebildeten Ästheten Maximilan Aue und begünstigen Zweifel des Lesers an der Glaub-würdigkeit seiner Darstellungen und insbesondere seiner Selbststilisierung, die Figur schwebt zwischen extremen Polen und wird dadurch kaum greifbar, büßt zudem an Identität ein. Die Verknüpfung von Leidwahrnehmung mit unpassenden Erinnerungen weist darüber hinaus auf Aues Unfähigkeit zu menschlichem Mitleiden und morali-schem Werten.

2. Zuschauer/Täter? Der Protagonist als Mitwisser, Beteiligter, Urteilender

Maximilian Aues Auftreten als humanistisch gebildeter, intellektueller Mensch legt es nahe, ihn und sein Verhalten auch unter dem Blickwinkel des aufklärerischen und daraus folgenden klassischen abendländischen Ästhetikdiskurses zu untersuchen. Als Vergleichsfolien dienen hierzu exemplarisch die ästhetischen Ansätze Immanuel Kants und Friedrich Schillers.

Die Ästhetik (griechisch aísthēsis, zu deutsch Wahrnehmung) entwickelt sich im Zuge der Aufklärung zur Wissenschaft von der sinnlichen Wahrnehmung und trägt so dazu bei, „die als niedere[s] Erkenntnisvermögen diskriminierten Sinne philosophisch zu legitimieren.“33 Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica, erschienen im Jahr 1750, bildet den Ausgangs- und Bezugspunkt der nachfolgenden philosophischen Theorien, so auch für Immanuel Kant. In seiner Kritik der reinen Vernunft (1790) koppelt er die ästhetische Empfindung des Schönen an die reflektierende Urteilskraft und stellt so den Bezug zur Ratio her, da sonst die Wahrnehmung lediglich zum Zwecke der Lust oder Unlust diene und zu subjektiv sei. Damit entwickelt sich die Ästhetik in der Rezeption Kants zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin, die dann durch Hegel zur Kunstwissenschaft weitergedacht wird. Friedrich Schiller knüpft in Über die ästhetische Erziehung des Menschen an Kants Überlegungen an und fordert eine ästhetische Erziehung, um den Menschen zum frei denkenden und handelnden Individuum bilden zu können. In diesem Sinne erhält die Ästhetik eine politische Dimension und wird relevant für die Bildung und Aufrechterhaltung des demokratischen Staates. Durch die sinnliche Wahrnehmung von Schönem erlernt der Mensch, das Schöne und damit das Gute zu beurteilen, wird so moralisch gebildet und erhält dadurch die Möglichkeit politischer Partizipation: „Mit einem Wort: es gibt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht.“34 Bezeichnend ist auch Schillers Definition des ästhetischen Staates, wonach das national-sozialistische Reich trotz aller Maßnahmen der politischen Ästhetisierung nicht in Schillers Schema passen würde: „In dem ästhetischen Staate ist alles – auch das dienende Werkzeug ein freier Bürger, der mit dem edelsten gleiche Rechte hat, und der Verstand, der die duldende Masse unter seine Zwecke gewalttätig beugt, muß sie hier um ihre Beistimmung fragen.“35

Beschreibt man einen Ästheten im Anschluss an Schiller als ein politisch bewusstes, souveränes Individuum, das auf kultivierte Gepflegtheit wert legt, von Schönheit und Künstlerischem angesprochen wird und dies auch in seinem Lebensstil ausdrückt, so müsste ein derartiger Mensch im Umkehrschluss von Grausamkeiten, Verbrechen oder Obszönem angewidert oder verschreckt, vor allem aber zu einer moralisch begründeten Verurteilung fähig sein. Oberflächlich betrachtet erscheint Max Aue als Schöngeist, doch lassen seine Reaktionen auf das Übel und sein Verhalten immer wieder seine dunkle Gegenseite durchscheinen. Sein Interesse für Kunst, Literatur und Philosophie, seine Bildung in humanistischer Tradition und die Beschäftigung mit den Ideen der Aufklärung sind bereits im vorhergehenden Abschnitt angeführt.

Eine zentrale Szene für Aues Umgang mit seiner Bildung und seinem Intellekt ist die Unterredung mit Eichmann, worin er Kants kategorischen Imperativ pervertiert und im nationalsozialistischen Interesse auslegt:

[...]


1 S. Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Berlin 2008, S. 9.

2 S. Margaret-Anne Hutton: „Jonathan Littell's 'Les Bienveillantes':Ethics, Aesthetics and the Subject of Judgment.“ In: Modern & Contemporary France. Bd. 1 (18) 2010, S. 6.

3 Dazu Günter Hartung : Deutschfaschistische Literatur und Ästhetik. Gesammelte Studien. Leipzig 2001, S. 284: „So sollte es eine 'Ästhetik des Ebenbildes des Herrn' geben; sie bezog sich auf die Her-stellung menschlicher Zuchtmodelle.“

4 S. Hartung 2001, S.285.

5 Siehe dazu Friedrich Schiller : Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Kommentar von Stefan Matuschek . Frankfurt am Main 2009- [= Suhrkamp Studienbiblikothek, 16].

6 Vgl. Hartung 2001, S. 297. Siehe dazu auch Karlheinz Barck: „Ästhetik/ästhetisch.“ In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hrsg. v. Karlheinz Barck u.a.. Stuttgart, Weimar 2000, S. 385: „Was das Wesensideal eines 'ästhetischen Menschen' zu einem Stein des Anstoßes werden ließ, war ein Begriff von Souveränität des Individuums und Willensfreiheit. Als Bedrohung der 'Gemeinschaft' im Faschismus oder des 'Kollektivs' im Stalinismus wurde Ästhetik in diesem idealistischen Sinn immer auch zu einem Gegenbegriff von Politik.“

7 S. Barck, ebd.

8 Rudolf Höß: Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen. Hrsg. v. Martin Broszat. München 1996.

9 S. Saul Friedländer: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. Vom Autor durchgesehene und erweiterte Ausgabe. München, Wien 1986, S. 14f.

10 Vgl. Littell 2008, S. 21.

11 Vgl. u.a.. ebd., S. 132, 560.

12 Vgl. ebd., S. 680.

13 Vgl. u.a. ebd., S. 376, 403.

14 Vgl. ebd., S. 620,

15 Vgl. ebd., S. 19.

16 Vgl. ebd., S. 699f, 717f.

17 Vgl. ebd., S. 478, 202, 297.

18 Vgl. ebd., S. 362, 565, 665.

19 Vgl. ebd., S. 572, 675, 962.

20 S. ebd., S. 548.

21 Vgl. ebd., S. 97.

22 Vgl. ebd., S. 141.

23 Vgl. Barck 2000, S. 293.

24 Vgl. Littell 2008, S. 276ff.

25 Vgl. ebd., S. 548ff.

26 S. ebd., S. 154.

27 S. ebd., S. 37.

28 Vgl. ebd., u.a. S. 1269ff.

29 Vgl. ebd., S. 741ff.

30 Vgl. ebd., S. 246f, 618.

31 S. ebd., S. 238.

32 S. ebd., S. 155 oder S. 184: „Manchmal musste man […] über die Leichen gehen […]. Es war entsetz-lich und erfüllte mich mit unüberwindlichem Ekel, wie an dem Abend in Spanien, in der Latrine mit den Küchenschabe, ich war noch klein, [...]“

33 S. Barck 2000, S. 308.

34 S. Schiller 2009, S. 92. Dazu im Kommentar Stefan Matuschek: „Das ist der Grundgedanke der ästhetischen Erziehung: Die Beschäftigung mit der Schönheit soll den Menschen individuelle und kollektive, also politische Freiheit geben.“

35 S. ebd., S. 123.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Das Scheitern eines Ästheten. Über den Protagonisten Max Aue in Jonathan Littells "Die Wohlgesinnten"
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Hauptseminar Jonathan Littell: Les Bienveillantes
Note
2,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
21
Katalognummer
V457979
ISBN (eBook)
9783668892729
ISBN (Buch)
9783668892736
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
die wohlgesinnten, les bienveillantes, littell, ästhetik, ästhetische theorie, kitsch und tod, nationalsozialismus, groteske, prosa, epik, komparatistik, postmoderne
Arbeit zitieren
Ina Hemmelmann (Autor:in), 2011, Das Scheitern eines Ästheten. Über den Protagonisten Max Aue in Jonathan Littells "Die Wohlgesinnten", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/457979

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