Pädagogische Aufbrüche der 68er in Deutschland. Der Zeitgeist der Antiautoritären Erziehung im pädagogischen Diskurs


Forschungsarbeit, 2018

43 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die politische Kultur der sechziger Jahre und daraus folgende gesellschaftliche Krisenthemen
2.1 Der bildungspolitische Hintergrund der sechziger Jahre
2.2 Das Unbehagen der neuen Generation an der Wohlstandsgesellschaft und die Fragwürdigkeit der Ordnung
2.3 Die Skandalisierung gesellschaftlicher Krisenthemen durch die Neue Linke und die Rolle der sozialistischen Intelligenz in der spätkapitalistischen Gesellschaft

3. Die Nutzbarmachung krisenhafter Erscheinungen am Beispiel des SDS
3.1 Der SDS als Protagonist der Revolution?
3.2 Der SDS als Avantgarde der Geschichte - Kritische Auseinandersetzung mit affirmativen und hemmenden Inhalten der Expansion

4. Der Bruch mit der Kontinuität pädagogischen Denkens und die Einflussnahme der sozialistischen Intelligenz auf reformerische Bewegungen im Erziehungssystem

5. Der Zeitgeist der antiautoritären Erziehung im pädagogischen Diskurs
5. 1 Zwischen Autorität und Antiautorität, Hoffnung und Utopie
5.2 Die Entstehung eines praktischen Konzepts der antiautoritären Bewegung und die Einflussnahme antiautoritärer Konzepte auf Veränderungsperspektiven der Pädagogik am Beispiel Summerhill und der Kinderladenbewegung
5.3 Der SDS als gesellschaftspolitische Entstehungsbedingung antiautoritärer Erziehung
5.4 Die Einflussnahme antiautoritärer Konzepte auf den Expansionsprozess der Pädagogik

6. Schlussbemerkung

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Während in den fünfziger Jahren in der Pädagogik Theorien kultiviert wurden, die darauf abzielten, die Heranwachsenden zu Klassenharmonie und Antikommunismus zu erziehen, ging die Pädagogik in den sechziger Jahren dazu über, sich zu einer gesellschaftlich orientierten Pädagogik zu bekennen. Neben den Richtungen mit antikommunistischem Formierungscharakter entstanden nun gesellschaftskritische pädagogische Theorien, die der Form nach gegen einzelne Erscheinungen im Kapitalismus, seiner Schulpolitik, Pädagogik und Jugenderziehung Einwände erhoben (vgl. Sielski, 1977, S. 166). Der Allgemeinen Pädagogik wurden auf diese Weise neue Fragestellungen und Debatten aufgezwungen, die ein Engagement für Reformen des Erziehungs- und Bildungswesens hervor brachten und somit als Träger und treibende Kraft gesellschaftlicher Umwandlungsprozesse agierten (vgl. Thiel, 1998, S. 75; Etzemüller, 2005, S. 82 ff.).

Die theoretische Grundlage für die vorliegende Forschungsarbeit soll Felicitas Thiel liefern, eine Erziehungswissenschaftlerin und Soziologin, die sich pädagogischen Themen wie beispielsweise der Pädagogisierung gesellschaftlicher Krisen widmet. Im Rahmen ihrer Forschungsarbeit zeigte sie Zusammenhänge auf zwischen gesellschaftlichen Krisen und sich anschließenden sozialen Bewegungen und stellte fest, dass soziale Bewegungen einen gesellschaftlichen Anspruchsdruck auf das politische System bündeln und verstärken (vgl. Thiel, 1998, S. 77). Laut Thiel (1998) sei die Pädagogik schon immer anfällig für gesellschaftliche Bedarfsanfragen gewesen (vgl. Thiel, 1998, S. 76). Doch statt einer Krise wie bisher mittels Ordnungspolitik entgegen zu wirken, setzten politische Akteure nun verstärkt auf Aufklärung und Bildung. In der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Krisenthemen, die im öffentlichen Diskurs einen hohen politischen Aufmerksamkeitswert erlangen, entsteht der Eindruck, dass durch die einher gehenden gesellschaftlichen Modernisierungs- und Ausdifferenzierungsprozesse der Bedarf an Erziehungsprogrammen stetig wächst und somit die wissenschaftliche Pädagogik expandiert. Diese Ausdifferenzierung neuer Fachgebiete -Thiel (1998) umschreibt sie als "Spezielle Pädagogiken"- folgt dabei einer sozialen Eigenlogik, welche sich im Etablierungsverlauf durch Resonanzpotentiale zwischen Öffentlichkeit und Politik sowie der pädagogischen Wissenschaft aktiviert (vgl. Thiel, 1998, S. 75). Den Prozess der thematischen Expansion der erziehungswissenschaftlichen Kommunikation mittels Etablierung dieser "Speziellen Pädagogik" rekonstruierte Thiel explizit am Beispiel der Umweltbewegung. Im Detail wurde hier die Energiekrise von 1969 beleuchtet, welche letztlich in eine Ökologiebewegung erwuchs, die nachhaltig die Erziehung expandieren ließ. Die Pädagogisierung des Umweltthemas wurde durch das "Pädagogische Establishment"1 betrieben, welches dem Krisenthema als Bestandteil des Erziehungssystems für die Formulierung einer Reflexionstheorie den Weg in die Erziehungswissenschaft ermöglichte. Es zeigt sich, dass gerade öffentlich kommunizierte individualisierende Krisendiagnosen besonders dazu geeignet sind, die strukturelle Reformorientierung zu spezifizieren. Sie sind eine Voraussetzung für die Programmierung gesellschaftlicher Reformthemen im Erziehungssystem und zielen auf Bewusstseins- und Verhaltensänderung ab (vgl. Thiel, 1998, S. 80). Und gerade deswegen spielen diese sozialen Bewegungen für die Pädagogik eine so entscheidende Rolle. Sie erzeugen als kulturelle Gegenbewegung einen pädagogischen Enthusiasmus, indem sie ein Reformprogramm erzeugen, welches auf Selbstveränderung anstatt auf Systemrevolution abzielt. Für die Erzeugung dieses Reformprogramms, welches in erster Linie nur durch einen generationellen Schritt durchsetzbar erschien, trat die Jugendbewegung als geradezu prädestiniert in Erscheinung und begriff sich als "praktische Antithese zu den Systemlogiken der modernen Gesellschaft" (Thiel, 1999, S. 881).

Auf Grundlage Thiels Ansatzes, welcher explizit die Zusammenhänge zwischen der gesellschaftlichen Krise, der daraus resultierenden sozialen Bewegung, des Pädagogischen Establishments sowie der Erziehungswissenschaft am Beispiel der Ökologiebewegung aufzeigte, soll im Folgenden diese Thematik im Hinblick auf die antiautoritäre Bewegung des SDS, der ebenfalls wie die Umweltbewegung unter dem Einfluss der Philosophie der Neuen Linken stand, in den sechziger Jahren transferiert werden. Durch ein Zusammenspiel verschiedenster Krisenthemen, die die Gesellschaft zur damaligen Zeit in Aufruhr setzten -hier ist vor allem die vorherrschende Kritik am Bildungswesen und das Unbehagen an der Wohlstandsgesellschaft in den sechziger Jahren nennenswert- konnte sich der SDS als kulturelle Gegenbewegung zum damaligen System konstituieren. Über den Weg der Bewusstseinsveränderung der Gesellschaft konnte er eine bis dato neue soziokulturelle Transformationsstrategie in Gang setzen, die die gesellschaftlichen Werte und Moralvorstellungen der Massen nachhaltig pädagogisch veränderte. Die Bewegung, die sich über den Protest gegen die Folgen der gesellschaftlichen Krisen zu einer negierenden Kraft der gesellschaftlichen Strukturen entfaltete, konnte neue Hoffnungen wecken und als gesellschaftspolitische Entstehungsbedingung einen Zeitgeist der antiautoritären Erziehung in der Bevölkerung entfachen, welcher durchaus bleibende Auswirkungen auf das Erziehungssystem hinterließ. Eine Antwort auf die Frage, wie genau dieser Prozess vonstatten ging, soll der vorliegende Forschungsbericht liefern, der schlussendlich die Notwendigkeit dieser Krisenthemen in den Vordergrund rückt, ohne diese reformerische Ideen keinen Einzug ins Erziehungssystem finden würden und dadurch der pädagogischen Wissenschaft die Chance zur Expansion verwehrt bleiben würde (Thiel, 1998, S. 75).

Ausgehend vom bildungspolitischen Hintergrund der sechziger Jahre, der einen theoretischen Grundstein für diesen Forschungsbericht liefern soll, wird übergreifend die Thematik der gesellschaftlichen Krisenthemen und der sich daraus resultierenden sozialen Bewegung des SDS als Bewegung der Neuen Linken erläutert. Nachdem darüber berichtet wurde, wie die Neue Linke Krisenthemen skandalisiert und welche Rolle die sozialistische Intelligenz dabei einnimmt, wird der SDS als jugendliche Protestbewegung in Augenschein genommen. Eine Auseinandersetzung mit seiner Expansion beendet das dritte Kapitel dieses Berichts und eine mögliche Erklärung für den Bruch mit der Kontinuität pädagogischen Denkens und der Einflussnahme der sozialistischen Intelligenz auf reformerische Bewegungen im Erziehungssystem schließt sich an. Das abschließend fünfte Kapitel bildet den Übergang zum pädagogischen Diskurs um antiautoritäre Erziehung. Den Anfang leitet eine Debatte um Autorität und Antiautorität ein, der sich ein Exkurs auf antiautoritäre Erziehungskonzepte anschließt. Nachdem der SDS als Entstehungsbedingung dieses Erziehungsstiles in den Fokus gerückt ist, wird abschließend die Einflussnahme dieses antiautoritären Erziehungsstiles auf den Expansionsprozess der Pädagogik thematisiert, um zu verdeutlichen, dass der Zeitgeist der 68er Jahre, der geprägt war von pädagogischen Aufbrüchen, der Erziehungswissenschaft die Voraussetzung schaffte, ihren Einflussbereich zu erweitern. Die Schlussbemerkung als eigene Einschätzung hebt abschließend die Notwendigkeit solcher gesellschaftlicher Krisenthemen hervor, ohne die soziale Bewegungen als Gegenbewegung gar nicht entstehen würden.

2. Die politische Kultur der sechziger Jahre und daraus folgende gesellschaftliche Krisenthemen

Im folgenden Kapitel wird die politische Kultur der sechziger Jahre anhand der Bildungspolitik der Studentenbewegung der Neuen Linken beschrieben, um nach Thiels Ansatz die gesellschaftliche Krise zu formulieren, welche in eine soziale Bewegung mündete.

2.1 Der bildungspolitische Hintergrund der sechziger Jahre

Eine Periodisierung der Geschichte ist im Felde der Bildungspolitik besonders schwierig, da sich hier Geistesgeschichte und politische Geschichte - deren Abläufe in unterschiedlichen Rhythmen erfolgten - begegnen (vgl. Becker in Broszat, 1990, S.63). Die ersten fünfzehn Nachkriegsjahre waren bildungspolitisch eine Zeit der Nicht-Reform, weil die Bundesrepublik unmittelbar an die späte Weimarer Zeit anschloss und das Schulwesen so übernahm, wie es in der Weimarer Republik in Geltung stand. Die Überwindung geistiger Zerstörung durch den Nationalsozialismus war zu jener Zeit das Hauptthema (vgl. Becker in Broszat, 1990, S.64). Nie wieder sollte sich etwas Derartiges wiederholen können, darüber waren sich nicht nur die Parteien und das politische System einig, auch die Gesellschaft begann vieles zu hinterfragen oder gar in Frage zu stellen.

Neben dem ökonomischem Druck gab es eine sozialwissenschaftliche Entwicklung der kritischen Forschung, durch Georg Picht und Ralf Dahrendorf vorangetrieben. Diese Forschung wies auf den Mangel an Chancengleichheit im Bildungswesen hin. In der 1964 entstandenen Artikelserie „Die deutsche Bildungskatastrophe“ gelang es Georg Picht, in jener Anfangsphase der Reformdiskussion, die Öffentlichkeit wachzurütteln (vgl. Führ, 1979, S.19). Picht wies darauf hin, dass nur durch eine radikale Umgestaltung des Bildungswesens, die Gesellschaft in ihrem Bestand zu retten sei (vgl. Führ, 1979, S.19). Aus zunehmender wirtschaftlicher Erholung kam es zu einem gleichzeitig immer stärkeren Bedarf nach qualifiziert ausgebildeten Arbeitskräften. In der Öffentlichkeit fand der Ruf nach einer durchgreifenden Reform Gehör, denn die soziale Ungerechtigkeit im Bildungswesen und die Bildungsreform führten zu einem denkreichen Anstoß in allen politischen Parteien (vgl. Becker in Broszat, 1990, S.66). Durch die bildungspolitisch aktiv gewordene Öffentlichkeit gewannen die von den Kultusverwaltungen entwickelten Ausbaupläne und programmatischen Forderungen der Parteien den Charakter einer umfassenden Reform. Der Fortgang wurde beeinflusst durch weiterreichende Ziele einzelner Gruppen, vor allem der Studentenbewegung (vgl. Anweiler et al., 1992, S.22).

Zeitgleich wies man auf die heraufziehenden innenpolitischen Herausforderungen hin und markierte Sozial- und Bildungspolitik als entscheidende Politikbereiche. Die politische Öffnung gewann zunehmend an Raum. Die Begeisterung, mit der vor allem die junge Generation die Gestalt erlebte, signalisierte die Sehnsüchte, die sich in der Gesellschaft angesammelt hatten. Auch von den Rändern des politischen Feldes ging nun ein zunehmendes und intensiver werdendes Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten, auf die Politik einzuwirken, aus (vgl. Rudolph in Broszat, 1990, S.145). Unter dem Motto „Aufstieg durch Bildung!“ standen am Anfang der sechziger Jahre alle Veranstaltungen, wodurch die Bildungspolitik zur großen Gemeinschaftsaufgabe der gesamten Gesellschaft erklärt wurde (vgl. von Friedeburg, 1989, S.366). Auch eine Krise des demokratischen Selbstverständnisses rückte in den Vordergrund, da mit dem erfolgreichen materiellen Aufbau der Bundesrepublik eine Restauration der traditionell geistigen, kulturellen und politischen Vorstellungen einherging. Die junge Generation zählte jedoch nicht Leistungen der Nachkriegszeit, sondern deren Versäumnisse, sodass die Nachholung dieser ins Zentrum des Denkens rückte (vgl. von Friedeburg, 1989, S.408). „Anstelle hierarchischer Denk- und Verhaltensmuster in weiten Bereichen der Gesellschaft muß sich ein neues Demokratieverständnis durchsetzen. Seine Merkmale sind gesellschaftliche und soziale Chancengleichheit, Selbstbestimmung und neue Formen der Mitverantwortung und Mitbestimmung.“(BMBW, 1970, S.147). Der Begriff der Bildung dominierte zwar in der Nachkriegszeit, verlor jedoch in der Phase zwischen 1969-1974 erheblich an Bedeutung. An die Stelle des Bildungsbegriffs rückten nun neue, an den Sozialwissenschaften ausgerichtete Begriffe wie der Begriff der Sozialisation, was sich auch auf die Pädagogik und Erziehungswissenschaft auswirkte. Es kam wieder zu einer stärkeren Hinwendung spezifisch pädagogischer Fragestellungen. Nicht zuletzt durch die gesellschaftlichen Krisenthemen, die im öffentlichen Diskurs einen hohen politischen Aufmerksamkeitswert gewannen.

Die zunehmend lauter werdende Kritik am vorgefundenen System führte in großen gesellschaftlichen Gruppen zu einem Umdenken und die gerade erst gewonnene Übereinstimmung über die Bildungsexpansion und ihre Ziele der Modernität und Chancengleichheit gerieten damit ins Wanken (vgl. von Friedeburg, 1989, S.410).

2.2 Das Unbehagen der neuen Generation an der Wohlstandsgesellschaft und die Fragwürdigkeit der Ordnung

Am Ende der Adenauer Ära stand die neue Studentengeneration vor dem Abschluss einer wesentlichen Entwicklungsphase – Wohlstand, Rechts- und Sozialstaat erschienen ihnen selbstverständlich, denn sie konnten nicht aus eigener Erfahrung ermessen, was seit 1945 geleistet wurde. Noch immer gab es Missstände und in der Betonung der Wiederaufbauleistung entdeckten sie bei den Politikern nur unkritische Selbstgefälligkeit. Dadurch entstand bei vielen Studenten ein allgemeines Unbehagen, welches auch Ursache der kritisch distanzierten Haltung gegenüber der Politik wurde. Mit dem Pauschalurteil, die gesamte Entwicklung seit 1945 sei verfehlt, verdichtete sich die Unzufriedenheit der Studenten und die Sehnsucht nach umfassender Neugestaltung wurde zunehmend stärker.

Der Aufstand der Studenten sollte der Verbesserung der Welt dienen, sie standen ein für Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit und vieles mehr, sie verachteten den Wohlstand und erklärten sich gegen und nur selten für etwas (vgl. Bigler, 1968, S.11). Über öffentlich kommunizierte individualisierte Krisendiagnosen die über ordnungspolitische Regulierungszwänge hinauswiesen, zielten sie auf die Bewusstseins- und Verhaltensänderung ab. Die Gesellschaftsreform sollte über utopische Horizonte und moralische Appelle die Selbstreform anstoßen (vgl. Thiel, 1999). Dies lässt sich dadurch erklären, dass soziale Bewegungen die Dynamik der Gemeinschaft gegen Organisationen und die unbefragbare Ganzheitlichkeit gegen eine funktionale Differenz ausspielen, sie formulieren ein Reformprogramm, das auf Selbstveränderung statt auf Systemrevolution setzt, was deshalb als Bildungsprogramm interpretiert werden kann. Nach Thiel (1999) geht es in sozialen Bewegungen in erster Linie um die Skandalisierung von Krisenthemen. Denn indem ein Problemhorizont eröffnet wird, bei dem die Öffentlichkeit politisch an Aufmerksamkeit gewinnt, schafft man einen Reformansatz, der besonders als Aufgabe der Pädagogik begriffen werden kann. Dies macht soziale Bewegungen auch für die Pädagogik so attraktiv. „Es entsteht eben jener politische Raum, in dem sich Kritik und Widerstand mit der Notwendigkeit und Problematizität der Selbstveränderung verbinden – ein Raum, in dem es nichts Unpolitisches mehr zu geben scheint und in dem die Auseinandersetzung um das Richtige und Wahre eine identitätsrelevante Bedeutung gewinnen.“ (Schäfer, 2015, S.65). Dabei entwickeln soziale Bewegungen zwangsläufig eine Tendenz zu Moralisierung und Sektierertum. Über die Moralisierung der Kommunikation wird Motivation erzeugt. Laut Thiel (1999) begriffen sich die Bewegungen als praktische Antithese zu den Systemlogiken der modernen Gesellschaft in ihrer Fixierung auf die Lebenswelt. Dabei propagierten diese Bewegungen nicht einen Kampf um Kollektivinteressen sondern Selbstreform und Selbsterziehung für eine bessere Gesellschaft. Eine grundsätzliche, systematisch nicht aufzuhebende Ambivalenz ergibt sich daher in der Betrachtung von gesellschaftlichen Verhältnissen und Praktiken (vgl. Schäfer, 2015, S.65).

Nachdem die Revolte begann, richtete sie sich im Anschluss gegen die Politiker die die Forderungen der westlichen Industriegesellschaft erfüllten. Die Studenten verurteilten das System und sagten dem Establishment, das über dem System stand, den Kampf an. Dadurch wechselten auch in Deutschland die Studenten ihr Gesicht und die Aufstände begannen (vgl. Bigler, 1968, S.12). Die radikalste Form nahm diese Sehnsucht beim SDS an, mit dem Ruf nach Revolution und einer neuen politischen Ordnung (vgl. Schönbohm, Runge & Radunsky, 1968, S.28). Zentraler Ansatzpunkt studentischer Kritik wurde die Orientierung der Gesellschaft am materiellen Wohlstand. Diese Kritik setzte bei den Politikern und Institutionen an und führte zur Infragestellung des gesamten parlamentarischen Regierungssystems. Die Studenten sahen den Verantwortungsspielraum des Bürgers im staatlichen System sozialer und wirtschaftlicher Leistungen beengt und wollten daher im Konflikt ihre Ansichten bilden und erproben (vgl. Schönbohm, Runge & Radunsky, 1968, S.29). Diese Kritik am Establishment von Seiten der Studentenpolitiker wurde von vielen Studenten geteilt. Transparenz und Einflussnahme am politischen Entscheidungsprozess wurden vermisst, sodass die demokratische Struktur der politischen Ordnung angezweifelt oder gar verneint wurde (vgl. Schönbohm, Runge & Radunsky, 1968, S.30). Aufgrund dessen kommt es laut Thiel (1996) zu einer Verschiebung des Krisenthemas hinaus aus Bereichen der Ökonomie und Politik, hinein in Bereiche der Lebenswelt und Moralisierung einer politischen Kommunikation, welche dann die individuelle Lebensführung als wesentliche Größe gesellschaftlicher Reformen erscheinen lässt (vgl. Thiel, 1999). Die formulierte gesellschaftliche Krise der Entfremdung durch die Neue Linke bot den Studenten den Nährboden für eigene Reformwünsche. „Daß die Studenten auf ihrem Protestweg stets am äußersten Rande der Legalität wandelten und diesen Rand zuweilen sogar überschritten, sicherte ihnen die Aufmerksamkeit einer sonst hinlänglich mit anderen Problemen beschäftigten Gesellschaft.“(Bigler, 1968, S.16). Durch die gewonnene Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit fand ihr Schlachtruf Gehör und der Protest Schritt weiter voran.

Mit Blick auf die Protestbewegung der 1960er Jahre schienen autoritäre Strukturen und Entfremdung signifikante Konzepte gewesen zu sein, mit denen sich gleichsam die ganze (gesellschaftliche wie auch individuelle) Wirklichkeit totalisierend als Unterdrückungs- und Herrschaftszusammenhang begreifen ließ (vgl. Schäfer, 2015, S.65). Autoritäre Verhältnisse machten eine radikale Befreiungsperspektive notwendig und stellten zugleich deren Möglichkeit in Frage (vgl. Schäfer, 2015, S.65). Dies alles mag zum Teil der Reaktion auf krisenhafte Erscheinungen geschuldet sein, dennoch wird man den in den sechziger Jahren konzipierten und bereits exekutierten Veränderungen nicht gerecht, wenn man sie lediglich als Reparaturen einer in Schwierigkeiten geratenen Staatsapparatur begreift. Auch ein politisch-moralischer Überschuss verbirgt sich darin, getragen von Überzeugungen, dass Staat und Gesellschaft verändert werden können und mit dem Ziel einer Modernisierung und eines Zuwachses an Liberalisierung und sozialem Ausgleich auch verändert werden müssen. Nach Thiel (1996) nutzen soziale Bewegungen diese Moralisierungstendenz, um politisch wie auch gesellschaftlich Gehör zu finden. Somit bereitete der Wandel, aus dem die politischen Veränderungen der sechziger Jahre am Ende erwuchsen, den Boden und eröffnete den Problemhorizont, auf dem der Umbau der politischen Szene überhaupt erst vorstellbar und zwingend wurde (vgl. Rudolph in Broszat, 1990, S.144).

2.3 Die Skandalisierung gesellschaftlicher Krisenthemen durch die Neue Linke und die Rolle der sozialistischen Intelligenz in der spätkapitalistischen Gesellschaft

Der Ruf nach einer durchgreifenden Reform im Bildungswesen fand in der Öffentlichkeit ein so starkes Echo, dass sämtliche politischen Kräfte ihn aufgriffen (vgl. Führ, 1979, S.19). Dem Bedürfnis einer vorzeigbaren Alternative zu den im Westen herrschenden Verhältnissen entsprach die Neue Linke (vgl. Busche, 2003, S.18).

Die Forderungen der Neuen Linke n zielten auf eine Transformation der Gesellschaft ab, welche sich jedoch nicht über einen politischen Machtwechsel vollziehen sollten, sondern über neue mentale Strukturen die geschaffen werden sollten. Die Neue Linke erhoffte sich, dass sie über den Leidensdruck der „einsamen Masse“ die Menschen aus ihrer Apathie erwecken und diese dann beginnen die bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen zu verändern (vgl. Tripold, 2012, S.264). „Denn für die Entfernung des Einzelnen von seinen Mitmenschen und den daraus resultierenden rücksichtslosen Egoismus sind diese Institutionen verantwortlich.“(Tripold, 2012, S.264). Was auch aus dem Ziel der Neuen Linken, die Beseitigung oder Umstrukturierung aller Einrichtungen vorzunehmen, welche dem Denken nicht entsprachen -worunter auch die Erziehungs- und Ausbildungspraktiken der Universitäten zählten- hervorgeht (vgl. Tripold, 2012, S.267). Ein Aspekt auf dem Weg dorthin liegt in der Forderung von demokratischen Strukturen. Dies ist von Bedeutung, da soziale Bewegungen ihre Vorgehensweise im Allgemeinen mit einer dramatischen Krisendiagnose begründen, die Einzelinteressen zurücktreten lässt. Die Skandalisierung einer diffusen Gesamtbetroffenheit gelingt dabei mit lebensphilosophischen Argumenten. Hieraus ergibt sich eine Verschiebung der Krisenthemen von Bereichen der Politik und Ökonomie in Bereiche der Lebenswelt und Moralisierung politischer Kommunikation. Die individuelle Lebensführung wird damit zur wesentlichen Größe gesellschaftlicher Reformen. Statt auf Systemrevolution setzten soziale Bewegungen in ihrem Reformprogramm auf Selbstveränderung (vgl. Thiel, 1998, S.866 ff.). Für das theoretische Fundament der beginnenden Rebellion sorgte Dewey und sein Schüler C. Wright Mills. Dewey galt zu seiner Zeit als Intellektueller, der sich lebhaft an öffentlichen Diskursen beteiligte, sein Engagement lag jedoch in der Gewerkschaftsbewegung und in der Gründung einer neuen linken Partei in den dreißiger Jahren (vgl. Tripold, 2012, S.264). Mills wandte sich gegen die marxistische Position, die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt zu betrachten und ging davon aus, dass die Rolle der Arbeiter von nun an die junge Intelligenz übernehmen würde. Aus diesem Grund hielt er es für notwendig, den Protest der Jugendlichen in eine klare analytische Form zu bringen und mit ihnen zusammen eine adäquate Theorie des sozialen Wandels zu entwickeln. Obwohl Mills 1960 starb, gab er der Neuen Linken nicht nur die zentralen Ideen, sondern legitimierte auch ihr Selbstverständnis als intellektuelle Avantgarde, welche von den Universitäten aus den sozialen Wandel einleiten sollten.

Angesichts der Zufriedenheit der Arbeiterklasse mit dem bestehenden System, was auch der SDS ähnlich bewertete, wiesen einige sozialistische Theoretiker der Intelligenz eine neue und für die sozialistische Bewegung entscheidende Aufgabe zu – die übrigen Gesellschaftsmitglieder über bestehende Realitäten aufzuklären, die sie von selbst nicht erkennen können. Laut Marcuse und Mills könne nur der Intellektuelle aufgrund seiner größeren Kenntnisse und Sensibilität der totalen Manipulation entgehen und den Arbeitern das wahre sozialistische und revolutionäre Bewusstsein vermitteln (vgl. Schönbohm et al. Sonderdruck, 1968, S.16). Der Schlachtruf, gegen das Establishment und damit gegen etablierte Schichten der Gesellschaft vorzugehen, fand regen Anklang in der Studentenschaft. Aus existenziellen Gründen begann somit die Kritik am vorgefundenen System. Das politisch schwache Bewusstsein und die „Verformung“ des Charakters bewegten die Studenten zur Ursachenforschung. So stießen sie auf die Psychoanalyse, auf marxistisch inspirierte Soziologen wie Horkheimer, Adorno oder Marcuse und das Konzept des „autoritären Charakters“, was sie auf die Existenz einer kleinen studentischen Hochschulgruppe, dem SDS, der sich mit diesen Dingen beschäftigten, aufmerksam machte (vgl. Uesseler, 1998, S.28). Das Denken an die eigene Zukunft ging mit den Protest unter dem Etikett Anti-Establishment einher und ebnete den Weg der politischen Radikalität (vgl. Schönbohm, Runge & Radunsky, 1968, S. 18).

3. Die Nutzbarmachung krisenhafter Erscheinungen am Beispiel des SDS

Mit spezifischem Blick wird in diesem Kapitel auf den SDS eingegangen, da dieser als Initiator der Rebellion angesehen wird. Als jugendliche Protestbewegung der Neuen Linken lässt er sich in der vorliegenden Arbeit nach Thiels Ansatz als soziale Bewegung beschreiben, die -entstanden aus Unbehagen- nachhaltig pädagogische Veränderungen verursachte. Nachdem die Strategie und die Etablierung des SDS im folgenden Teil thematisiert wird, folgt eine kritische Auseinandersetzung mit affirmativen und hemmenden Inhalten seiner Expansion, welche abschließend als Einleitung für den Bruch mit der Kontinuität pädagogischen Denkens (Kapitel 4) dienen soll.

3.1 Die Strategie der Neuen Linken als "Katalysator gesellschaftlichen Wandels" und die Etablierung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS)

Der fundamentale Gesellschaftswandel, der mit der 68er-Bewegung in Deutschland verbunden wird, ist nachweislich kein einmaliges bundesrepublikanisches Ereignis, sondern Teil einer allgemeinen Bewegung, die viele westliche Industrienationen erfasst. Auch dort kommt es zu neuen Formen des politischen Jugendprotests und zu neuen sozialen Bewegungen, die beeinflusst von nationalen Kulturbesonderheiten und Geschichtsverläufen ihre spezifische Ausformung finden (vgl. Kießling, 2006). Das Drängen nach einem gesellschaftlichen Umbruch während der 68er Jahre ist demnach ein internationales Phänomen, beispielsweise vergleichbar mit der Zeit der Französischen Revolution. Innerhalb solcher gesellschaftlicher Dynamiken konnten sich stets Ideen für Veränderungen etablieren und so zirkulierte in den 68er Jahren der Gedanke an einen gesellschaftlichen Aufbruch zunächst in kleinen Gruppen und Netzwerken, die über verschiedene Länder verteilt waren. So pflegten die wichtigsten Gruppierungen der "jungen Intelligenz" in den USA und der Bundesrepublik seit 1962 regelmäßig Kontakte. Sowohl die Students for a Democratic Society (SDS) als auch der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) waren die wichtigsten studentischen Gruppierungen in den Studentenbewegungen ihrer Länder und kein gesellschaftlicher Teilbereich -weder Politik, Kultur noch Wissenschaft- blieb von ihrer Kritik verschont. Heftige Reaktionen, welche durch studentische Aktionen in unterschiedlichen Teilbereichen ausgelöst wurden, führten zu tiefgreifenden Veränderungen. Aufgrund dieses Mechanismus kommt den studentischen Protesteliten eine wichtige historische Bedeutung als "Katalysatoren gesellschaftlichen Wandels" (Schmidtke, 2003, S. 16; Kießling, 2006, S. 39 ff.) zu. Neben dieser Bedeutung waren beide Studentenverbände sehr früh beeinflusst von neuen politischen Ideen. Diese neuen Ideen, welche als Neue Linke bzw. New Left bezeichnet wurden, entstanden aus einer intellektuellen Abgrenzung von der Alten Linken, was sowohl eine Abgrenzung von der kommunistischen Linken als auch eine Abgrenzung vom demokratischen Sozialismus beinhaltet. Im Gegensatz zur Alten Linken wird nun eine Entfremdung nicht nur im ökonomischen Bereich, sondern in allen Lebensbereichen einschließlich des privaten Bereiches, beabsichtigt (vgl. Schmidtke, 2003, S. 19 ff.). Brezinka (1981) bezeichnet in diesem Zusammenhang die Bewegung der Neuen Linken als eine weltanschaulich-politische Bewegung, die aus dem Überdruss an der liberalen Wohlstandsgesellschaft entstanden ist. Sie ist eine Protestbewegung gegen die moderne Industriegesellschaft, welche das gegenwärtig vorherrschende System kritisiert und eine radikale Veränderung anstrebt. Als Träger dieses angestrebten Strukturwandels werden Intellektuelle oder Gebildete -die Studentenopposition- angesehen, welche in Hochschulen und Redaktionen anzufinden sind und sich als Elite von Menschen mit einem sogenannten "richtigen Bewusstsein" (vgl. Brezinka, 1981, S. 29) von der Arbeiterklasse abgrenzen. Sie sind sich einig, dass Reformen keinen grundsätzlichen Wandel schaffen würden, sondern sie nur dazu angetan seien, das bestehende System zu erhalten. "Die Revolution der Neuen Linken verläuft jedoch nicht altmodisch gewalttätig und dramatisch, sondern unauffällig, schleichend und unter der Maske einer höheren Moral" (Brezinka, 1981, S. 40). Diese Aussage von Brezinka zeigt die Strategie der Neuen Linken auf, welche versucht, die Staatsgewalt nicht direkt über die Politik, sondern über das Erziehungssystem und Meinungsbildungssystem der Medien zu erobern. Dieser indirekte moralische Weg zu einer antikapitalistischen Strukturreform führt über den Weg der Bewusstseinsänderung der Staatsbürger durch eine schleichende "Kulturrevolution", die von anti-autoritären Intellektuellen durchgeführt werden soll (vgl. Brezinka, 1981, S. 28 ff.). Für eine radikale Transformierung der Gesellschaftsordnung ist es nach Meinung der Neuen Linken wichtig, Inhalte und Ideen der Menschen im Unterricht oder auch in den Medien zu beeinflussen, um über sukzessive Schritte eine allmähliche Bewusstseinserweiterung zu erreichen. Die Befreiung von Selbstbestimmung nicht nur im ökonomischen, sondern in allen Bereichen einschließlich des Privaten sollte erreicht werden. Dieser kulturelle Bereich bildete für die Neue Linke einen wichtigen Ausgangspunkt für gesellschaftliche Veränderungen mit dem Ziel, die Gesellschaft zu mobilisieren und über einen gesellschaftlichen Anspruchsdruck auf das politische System staatliche Politik in relevantem Maße zu organisieren. Die Neue Linke wies auf konkrete Probleme der Gesellschaft und des bestehenden Systems hin und schaffte damit eine gesellschaftliche Krise der Entfremdung (vgl. Kießling, 2006).

[...]


1 Mit dem Begriff "Pädagogisches Establishment" wird "[...] ein Set von Spezialistenrollen im Erziehungssystem bezeichnet, die nicht direkt mit Erziehung und Unterricht befasst sind, sondern aus einer gewissen Distanz operieren [...]" (Thiel, 1998, S. 79)

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Details

Titel
Pädagogische Aufbrüche der 68er in Deutschland. Der Zeitgeist der Antiautoritären Erziehung im pädagogischen Diskurs
Hochschule
Universität Erfurt
Note
1,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
43
Katalognummer
V458197
ISBN (eBook)
9783668899780
ISBN (Buch)
9783668899797
Sprache
Deutsch
Schlagworte
pädagogische, aufbrüche, deutschland, zeitgeist, antiautoritären, erziehung, diskurs
Arbeit zitieren
Sandra Schulz (Autor:in), 2018, Pädagogische Aufbrüche der 68er in Deutschland. Der Zeitgeist der Antiautoritären Erziehung im pädagogischen Diskurs, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/458197

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