Leseprobe
Inhalt
1 Einleitung
2 Grundlagen der frühkindlichen Bindung
2.1 Bindungstheorie nach John Bowlby
2.2 Bindungsforschung durch Mary Ainsworth
3 Bindungstraumatisierung im Kindesalter
3.1 Ursachen
3.2 Folgen für den kindlichen Organismus
3.2.1 Bindungsstörungen
3.2.2 gestörte Ich-Struktur
4 Im Kontext sozialpädagogischer Arbeit
4.1 Bindungstrauma erkennen
4.2 Anforderung an den Pädagogen
4.3 Aufbau einer Bindung zum Klienten
5. Fazit
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Seit einigen Monaten arbeite ich in einer Kindertagesstätte, in der Kinder ab einem Lebensjahr betreut werden, bis sie normalerweise reif genug sind um in die Schule überzutreten. Wenn Kinder, egal welchen Alters, neu in die Kita kommen, müssen sie sich erst an ungewohnte Strukturen, Erzieher und andere Kinder gewöhnen. Die so genannte „Eingewöhnung“ verläuft anfangs in Zusammenarbeit mit den Eltern. Das Kind soll Vertrauen aufbauen können, indem die Eltern mit in der Gruppe sind und ihnen vermitteln, dass die Umgebung in Ordnung ist und Sicherheit bieten wird. Sobald die Eltern das Kind nun in der Gruppe verabschieden und aus dem Raum gehen, konnte ich bei den einzelnen Kindern verschiedene Reaktionen beobachten: Wut, Entsetzen, Kummer oder auch Gleichgültigkeit. Die Eingewöhnungsphase gestaltet sich verschieden schwierig und kann unterschiedlich lange Zeit in Anspruch nehmen. Wie ich die letzten Monate erlebt und erfahren habe, hängt dies von mehreren Faktoren ab, ein Hauptaspekt dabei ist definitiv die Bindung des Kindes zu den eigenen Eltern. Wir können also gut beobachten, wie ein Kind reagiert auf das „Verlassenwerden“ von den Eltern und somit meist die Frage beantworten: Wie ist dieses Kind gebunden? Für mich sind folgende Fragen jedoch noch viel interessanter: Wie kam es zu dieser Bindungsqualität? Welche Umstände und Erfahrungen haben darauf eingewirkt? Wie groß ist der Einfluss der Persönlichkeit des Kindes oder der Umgang mit den Mitmenschen auf die Bindung? Was muss passiert sein, dass ein Kind unter einer Bindungstraumatisierung leidet? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, werde ich in meiner Arbeit vorerst Grundlagen der Bindungstheorie und -forschung darlegen, anschließend auf die Ursachen und Folgen von Bindungstraumatisierung eingehen und diese schließlich im Kontext der Sozialen Arbeit betrachten.
Bindungsperson in der frühen Kindheit kann theoretisch jede beliebige Person werden; ein Onkel, eine Schwester oder auch Pflegeeltern. Da es sich in den meisten Fällen jedoch um die leiblichen Eltern handelt, oftmals um die Mutter, spreche ich häufig von diesen, beziehe mich aber allgemein auf die jeweilige Bindungsperson des Kindes. Der Begriff Kindesalter meint hauptsächlich Säuglinge und Kleinkinder, da hier die Bindung eine besonders große Rolle spielt. Bindungs-traumatisierung wird aber ebenfalls in weiteren Lebensjahren verursacht und zeigt Auswirkungen teilweise erst Jahre später, auch hier spreche ich noch von Kindern.
2 Grundlagen der frühkindlichen Bindung
„Bindung ist das gefühlsgetragene Band, das eine Person zu einer anderen spezifischen Person anknüpft und welches sie über Raum und Zeit miteinander verbindet.“(John Bowlby)1
2.1 Bindungstheorie nach John Bowlby
Die Bindungstheorie wurde von dem britischen Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bowlby in den 50er- und 60er-Jahren entwickelt. Sie geht von den Grundbedürfnissen des Menschen aus eine emotionale Beziehung zu Mitmenschen aufbauen zu wollen. Ursprung hat die Theorie in dem Modell der frühen Mutter-Kind-Beziehung gefunden und seitdem Einzug in verschiedene Therapien, z.B. die Familientherapie, erhalten.2 Die Bindung sichert das Überleben des Säuglings und ist die Basis für kognitive, emotionale und psychosoziale Entwicklungen. Eine sichere Bindung ist somit ein entscheidender Baustein für die Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit und Autonomie.3
Ein Experiment des amerikanischen Psychologen Harry Harlow um 1950 zeigt Bowlby deutlich, dass die Beziehung zwischen Mutter und Kind nicht hauptsätzlich durch die Nahrungsaufnahme bestimmt ist. Harlow beobachtet, dass Rhesusaffenkinder eher eine Attrappe wählen, die mit Fell ausgestattet ist und nicht füttert, als eine Attrappe aus Draht, welche nur füttert. Sie klammern sich ausschließlich an der Fellattrappe fest und flüchtet bei furchteinflößenden Reizen ebenfalls zu dieser. Für die Zeit der Nahrungsaufnahme wird die Drahtattrappe aufgesucht, ist das Affenkind gesättigt, geht es direkt wieder zurück zur Fellattrappe. Dieses Experiment zum Sozialverhalten zeigt, dass das Bindungsverhalten demnach Schutz vor Raubtieren und anderen Gefahren zur Grundlage hat.4 Evolutionsbedingt ist die Bindungsperson somit schon ab dem Säuglingsalter ein schutzgebender emotionaler Anlaufpunkt um Bindungsbedürfnisse zu befriedigen.
Jeder Mensch verfügt von Geburt an über zwei Verhaltenssysteme, das Explorationsverhalten und das Bindungsverhalten. Ohne Bindungsverhalten wäre der Säugling schutzlos seiner Umgebung ausgesetzt. Besitzt der Säugling kein Explorationsverhalten, gibt es keine Interaktion mit seiner sozialen und physischen Umwelt. Hierfür benötigt es Sicherheit, welche nur durch Bindung gewährleistet werden kann. Sobald dies gelingt, kann der Säugling mit seiner Umwelt in Kontakt treten.5
2.2 Bindungsforschung durch Mary Ainsworth
Bowlbys formulierte Konzepte werden erst mit Hilfe der empirischen Untersuchungen der kanadischen Psychologin Mary Ainsworth akzeptiert. 1969 entwickelt sie den „Fremde Situation Test“, mit welchem sie verschiedene Bindungsmuster analysieren kann. Kinder im Alter von 1 ½ - 2 Jahren werden in An- und Abwesenheit der Mutter sowie in einem fremden Raum beobachtet. Der Test ist in verschiedene Phasen zu je drei Minuten aufgeteilt:
1. Mutter und Kind kommen in ein Spielzimmer und erkunden den Raum.
2. Eine fremde Person kommt herein, nimmt mit Mutter und Kind Kontakt auf.
3. Die Mutter verlässt den Raum, Fremde und Kind bleiben alleine.
4. Die Mutter kommt zurück, die Fremde geht raus.
5. Die Mutter verlässt erneut den Raum, das Kind bleibt alleine.
6. Die Fremde kommt zurück.
7. Die Mutter kommt zurück, die Fremde geht raus.6
Die Reaktionen des Kindes bei der kurzen Trennung sowie bei der Vereinigung mit der Mutter sagen viel über deren Beziehung aus. Bei dem Ausgleich zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten konnte beobachtet werden, dass die Kleinkinder in Anwesenheit der Mutter deutlich mehr erforschten. Auf Grund ihrer Testergebnisse war Ainsworth in der Lage vier verschiedene Bindungsqualitäten daraus abzuleiten.
Die Bezeichnung „sichere Bindung“, steht für Kinder, welche ein Urvertrauen in ihre Bindungsperson entwickelt haben. Sie haben die Zuversicht, dass sie Hilfe, Unterstützung und Trost zuverlässig erhalten. Schon kleine Kinder sind in der Lage Mitgefühl und ihre Gefühle deutlich zu zeigen. Sicher gebundene Kinder spielen auch unbekümmert in Abwesenheit der Bezugsperson, weinen zwar in fremden Situationen, lassen sich aber von unbekannten Personen trösten. Sobald die Bindungsperson wieder da ist, laufen die Kinder dieser freudig entgegen.
Kinder mit einer „unsicher - vermeidenden Bindung“ wirken erst bei genauem Beobachten unsicher. Sie reagieren in fremden Situationen, ohne die Bindungsperson, scheinbar ganz normal und nicht ängstlich. Dennoch kann beobachtet werden, dass sich diese primär mit Spielsachen beschäftigen und den Kontakt zu anderen nicht suchen. Dies ist als eine Stress-Kompensationsstrategie zu verstehen, der Cortisolspiegel im Speichel ist bei diesen Kindern meistens erhöht und deutet somit auf Stress hin. Sobald die Beziehungsperson wiederkehrt, ignorieren die Kinder sie, wenden sich aber nun vermehrt an fremde Personen im Raum. Diese Art von Bindung hat keine sichere Konstante, das Kind wurde eventuell oft von der Bezugsperson zurückgewiesen. Dieses Verhalten folgt somit einem Muster der Beziehungsvermeidung.
Von einer „unsicher - ambivalenten Bindung“ spricht man bei Kindern, die in fremden Situationen sehr ängstlich reagieren. Die Trennung von der Bindungsperson ist belastend, die Kinder schlagen oft um sich, schreien und sind kaum zu beruhigen. Das Bindungsverhalten wird also schon aktiviert, bevor die Bezugsperson die Situation verlässt. Das Kind kann diese nicht verlässlich einschätzen, hat demnach meist Erfahrungen von starker Nähe und sehr abweisendem Verhalten erlebt. Das Bindungsverhalten wird dadurch ständig aktiviert und der Heranwachsende ist somit immer wieder auf der Suche nach Nähe. Bei Wiederkehr der Beziehungsperson reagiert das Kind abwechselnd entweder sehr anklammernd oder aggressiv und abweisend.
Die „desorganisierte Bindung“, zeigt widersprüchliche Verhaltensweisen bei den Kindern auf. Beispiele sind unvollendete Bewegungsmuster, erstarrte Gesichtszüge, im Kreis drehen oder sich unerwartet auf den Boden fallen lassen. Die Bezugsperson ist bei dieser Bindung oft der Auslöser, da diese bspw. traumatisiert sind, unter Depressionen leiden oder andere psychische Krankheiten auf das Kind übertragen. Dies verunsichert die Kinder in ihrem Bindungsverhalten und sie erleben die Beziehung dadurch als bedrohlich. Es fehlt die existentielle Sicherheitsbasis und die Orientierung, die eine sichere Bindung prägt.7
Mary Ainsworth stellt fest, dass Bindungsverhalten mit der Qualität der Eltern-Kind-Beziehung zu tun hat und ein Ausdruck der erlebten Interaktionen ist. Ausschlaggebend hierfür ist demnach die Feinfühligkeit der Bezugsperson gegenüber dem Kind und nicht die Charakterzüge des Kindes selbst.
3 Bindungstraumatisierung im Kindesalter
Allgemein verstehen wir unter dem Begriff „Trauma“ ein plötzlich eintretendes Ereignis im Leben eines Menschen, welches es nicht allein bewältigen kann. Eine psychische Verwundung, bei der „Prozesse des Wahrnehmens, Fühlens, Denkens, Erinnerns oder Vorstellens nicht mehr normal funktionieren und zeitweise oder gar dauerhaft eingeschränkt sind.“8 Das Individuum hat das Gefühl der eigenen Sicherheit verloren, wodurch unter anderem enorme Angst und Hilflosigkeit entstehen. Durch das einschneidende Erlebnis können weitere Entwicklungsschritte beeinträchtigt werden.
Wie bereits erläutert, brauchen kleine Kinder eine gute Bindung zu ihren Eltern, damit eine optimale Entwicklung gewährleistet werden kann. Wenn nun also von „Bindungstrauma“ die Rede ist, meint es eine kindliche Traumatisierung durch die eigene Bezugsperson. Gleichbedeutend sind Begriffe wie Entwicklungstrauma, Deprivationsstörung, Beziehungstrauma oder auch frühe Traumatisierung.9
Situationen, die das Kind beängstigen, überlasten oder ihm das Gefühl von Wertlosigkeit geben, können Ursachen für eine solche psychische Verwundung sein. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie Bezugspersonen zur Ursache einer kindlichen Traumatisierung werden. Ich möchte diese nun als nächstes erläutern und darlegen, welche Folgen diese für die Kinder und deren Persönlichkeit sowie Entwicklung haben.
3.1 Ursachen
Einer Bindungstraumatisierung können verschiedene Ursachen zu Grunde liegen, die dem Kind schaden. Da hier die Bindungsperson selber der traumatische Faktor ist, handelt es sich meist um deren Verhaltensweisen. Ich habe diese in zwei Hauptgesichtspunkte geteilt, die körperliche und emotionale Vernachlässigung, sowie die körperliche und sexuelle Gewalt. Aus meiner Sicht ist es jedoch schwer eine Grenze zwischen Vernachlässigung und Gewalt festzulegen.
Die Arten körperlicher Vernachlässigungen sind vielfältig, Mangel an Ernährung oder der körperlichen Grundbedürfnisse (also unzureichende Hygiene oder keine angemessene Kleidung) werden oft zuerst genannt. Des Weiteren zählt dazu aber auch die Drogenaufnahme während der Schwangerschaft oder die ungenügenden geistigen, pädagogischen und medizinischen Aspekte, bspw. keinen Vorsorgeuntersuchungen nachzugehen. Mangelnde Beaufsichtigung bis hin zur vollkommenden Verwahrlosung sind alles Bespiele für Vernachlässigung auf körperlicher Ebene. Wenn wir nun die emotionale Vernachlässigung betrachten, wird auch hier schnell klar, dass es sich um eine weite Bandbreite handelt, in der Bindungspersonen traumatische Einwirkungen auf das Kind haben können. Erniedrigungen, ständige Überforderung, Liebesentzug oder die Isolation von sozialen Kontakten sind Verhaltensweisen, die dem Kind emotional Schaden zufügen. Terrorisierung, Unterbindung und extreme Dominanz gegenüber dem Kind, auch das indirekte Miterleben von häuslicher Gewalt zählt zu dieser emotionalen Vernachlässigung.10
Allgemein fängt man an von Gewalt zu sprechen, wenn es um handgreifliche Einwirkung auf das Kind geht und in diesem Fall durch die Bezugsperson stattfindet. Zur körperlichen Gewalt zählt die stumpfe Gewalt (Schläge, Tritte oder Bisse), die thermische Gewalt (Verbrühung oder Verätzungen), die scharfe Gewalt (Schnitte oder Stiche), die Strangulation und das Schütteltrauma (Schütteln eines Babys z.B. wenn es nicht aufhört zu schreien).11 Bei den verschiedenen Formen von sexueller Gewalt wird zwischen den „Hands-on“ und „Hands-off“ Taten unterschieden. Die Hands-on-Taten beinhalten sexuelle Handlungen mit Körperkontakt wie Berührung von Brust- und Genitalbereich, Einführung von Gegenständen, Masturbation und orale, anale oder vaginale sexuelle Handlungen. Bei den Hands-off-Taten besteht kein Körperkontakt zwischen dem Täter und dem Kind, es schließt Folgendes mit ein: jegliche Formen von Exhibitionismus, das Ausüben verbaler sexueller Gewalt, das Anfertigen sexualisierter Aufnahmen des Opfers und das Betrachten pornografischer Aufnahmen mit Kinder oder Jugendlichen.12
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1 Brisch, Karl Heinz (2013).
2 Vgl. Bestle-Körfer, Regina (o.A.).
3 Vgl. Hipp, Claus (2013) S.18-19.
4 Vgl. Brechner, Elke (2001).
5 Vgl. Hipp, Claus (2013) S.18-19.
6 Vgl. Stegmaier, Susanne (o.A.).
7 Vgl. Zwernemann, Paula (2009) S.14-25.
8 Hahn, Marlene (2013) S.32.
9 Vgl. Hahn, Marlene (2013) S.32-34.
10 Vgl. Hahn, Marlene (2013) S.34-43.
11 Vgl. Mützel, Elisabeth (2012).
12 Vgl. Weissenrieder, Nikolaus (2012).