Die verschlüsselten Kommentare in der Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi


Hausarbeit (Hauptseminar), 1998

43 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das ‚Continuatio-Problem‘
2.1 Die besondere Stellung der Continuatio
2.2 Strukturanalytische Betrachtungen

3. Die Stellung der Poetik im 17. Jahrhundert

4. Das Pillen-Gleichnis
4.1 Der Hülsen-Vergleich
4.2 Die Baldanders-Episode
4.3 Pflaumen und Kerne
4.4 Das Höhlen-Gleichnis

5. Schlußbetrachtungen

6. Literaturverzeichnis

7. Anhang

1. Einleitung

„Wenn es auf den ersten Blick auch scheint, als sei die Continuatio nur eine anekdotische Weiterführung der Simplicianischen Lebensgeschichte, so läßt die eingehende Untersuchung etlicher Episoden noch eine spezielle Bewandtnis erkennen. Die scheinbar einfache Erzählung abenteuerlicher Geschehnisse und Taten erweist sich als durchsetzt mit poetologischen Motiven. Diese sind so in die Ereigniserzählung integriert, daß sie kaum wahrgenommen werden können, wenn man nicht beachtet, daß es sich um traditionelle, d.h. vom Mittelalter bis ins Barock bekannte Deutbilder und Gleichnismotive der Poetik und Hermeneutik handelt.“[1]

Das Thema der vorliegenden Arbeit beschreibt die Stellung des viel diskutierten sechsten Buches, der Continuatio, in Grimmelshausens ‘Simplicissimus Teutsch’, welches sich bei näheren Untersuchungen durch Form, Inhalt und Funktionsdifferenzen von der scheinbar abgeschlossenen Konzeption des Romans abgrenzt.

Wurde die Continuatio in der bisherigen Grimmelshausenforschung häufig als ein rein kommerzielles Produkt betrachtet, gestützt durch die ungewöhnlichen Publikationsumstände, die bereits im fünften Buch abgeschlossenen thematischen Rundungen und der häufig auftretenden Widersprüche und Wiederholungen im sechsten Buch, versucht Hubert Gersch mit seiner „Geheimpoetik“, auf dessen Werk ich meine Arbeit stütze, mittels der Tradition der spirituellen Auslegungskraft des Mittelalters, einer Allegorisierung analog zur Bibel, die Continuatio als ein vom Autor verschlüsselter Kommentar, mit der Funktion eines erläuternden und rechtfertigenden Nachwortes zum gesamten Simplicissimus Roman, zu beschreiben.

Daher soll zu Anfang dieser Hausarbeit das sog. ‘Continuatio-Problem’, welches die Grimmelshausenforschung seit Jahrzehnten beschäftigt, aufgegriffen werden, um einen neuen Forschungsansatz herauszustellen. Es sollen unter anderem die, wie Gersch beweisen kann, zu unrecht ausgesprochenen Vorwürfe des plagiierens gegenüber dem Autor mittels inhaltlicher und strukturanalytischer Betrachtungen im zweiten Kapitel exemplarisch aufgeklärt und erläutert werden.

Die Continuatio soll hier aus einer allegorischen Perspektive betrachtet werden und so soll im Verlauf dieser Arbeit, mittels zahlreicher Beispiele und unter Hilfenahme des ‘sensus spiritualis’ in Anlehnung an die Bibelexegese, die Funktion der Continuatio aus einem anderen, auf den ersten Blick nicht zu erkennenden, Blickwinkel beurteilt werden.

Dazu ist es sinnvoll die Stellung der Poetik in der Welt des 17. Jahrhunderts im dritten Kapitel einmal genauer zu betrachten und die gewonnen Ergebnisse mittels nachfolgender Beispiele aus dem ‚Simplicissimus Teutsch‘ zu fundieren.

Die Kapitel sind als eine aufeinanderaufbauende Folge zu sehen und die Einteilung in Kapitel lediglich als formale Notwendigkeiten zu betrachten. Da es sich bei dieser Arbeit um die Herausstellung von wissenschaftlichen Thesen handelt ist es angebracht, um methodisch argumentieren zu können, die in der Seminararbeit erarbeiteten Punkte mit zahlreichen Zitaten zu fundieren. Die Werke von Grimmelshausen werden hier als vorausgesetzt betrachtet.

2. Das ‘Continuatio-Problem’

In der bisherigen Grimmelshausenforschung wurde die Sonderstellung der Continuatio häufig mißdeutet, wenn nicht sogar nicht erkannt. Der Simplicissimus-Roman bestand 1868 bei seiner Erstausgabe lediglich aus fünf Büchern, welche 1869 durch die Continuatio erweitert wurden. Dieser Sachverhalt, die Publikation des Romans in Raten, riefen in der Forschung kontroverse Spekulationen hervor, die durch die Frage, in welchem Verhältnis die Continuatio zu den übrigen fünf Büchern steht, zusammengefaßt werden können.

Die näheren Publikationsumstände und die buchtechnische Aufmachung der Continuatio mit ihrem eigenen Titelblatt und der unterlassenen nzählung, vermitteln vorerst den Eindruck einer vom Roman unabhängigen Publikation. Betrachtet man jedoch die näheren Erscheinungsumstände genauer, so wird auffällig, daß die Continuatio auf der Frankfurter Buchmesse im Jahre 1669 nicht als Einzeldruck vorgestellt wurde. Um die Zusammengehörigkeit des Romans (1668), der auf das Jahr 1669 vordatiert wurde, mit der Continuatio (1669) deutlich zu machen, hatte man das sechste Buch nicht vorausdatiert, sondern die zutreffende Jahreszahl 1669 belassen, so daß die beiden Teile des Buches dasselbe Erscheinungsjahr aufwiesen. Eine weitere Verklammerung ergab sich durch den Titel der Continuatio, der auf der Frankfurter Buchmesse (1669) als ‚Simplicissimus mit der continuation‘ und im Leipziger Katalog sogar als ‚ Der abentheuerliche Simplicissimus mit der Continuation‘ von sich Reden machte.

Auch die Verlautbarungen des Autors, der die Continuatio keineswegs als autonomes Werk, sondern in engster Verbindung zu den ersten fünf Büchern des Romans gesehen haben wollte, spiegeln den engen Zusammenhang der sechs Bücher wieder. Grimmelshausen gab zahlreiche Hinweise in Schriften und Werken, darunter ‚Das wunderbarliche Vogelnest‘ (1675), um auf die Zusammengehörigkeit der beiden Romanteile hinzuweisen.

“Sonsten wäre dieses billich das zehende Theil oder Buch deß Abentheuerlichen Simplicissimi Lebens-Beschreibung / wann nemlich die Courage vor das siebende / der Spring ins Feld vor das achte / und das erste part deß wunderbarlichen Vogel-Nests vor das neundte Buch genommen würde / sintemahl alles von diesen Simplicianischen Schrifften aneinander hängt / und weder der gantze Simplicissimus, noch eines auß den obengemeldten letzten Tractätlein allein ohne solche Zusammenfügung genugsam verstanden werden mag.“[2]

Dieses Zitat aus dem ‘Wunderbarlichen Vogelnest’ macht deutlich, daß die Continuatio keineswegs als autonomes ‘Tractätlein’ gesehen werden darf, sondern als sechstes Buch des ‘ganzten’ Romans gesehen werden muß.[3] Allein der Titel der Continuatio, „Des [...] Abentheuerlichen Simplicissimus Fortsetzung und Schluß“, und der Titel des 23. Kapitels, „Simplex, der Münch, die Historie beschleußt, darmit das End seiner sechs Bücher weist“ lassen das sechste Buch als integrierten Bestandteil des gesamten Romans erkennen. Auch die abschließenden Erzählungen des holländischen Kapitäns zu Ende der Continuatio, in denen er das nach Europa zu bringende Manuskript als den „ganzen Lebenslauf[4] des Simplicissimus beschreibt, ist nur einer von etlichen Hinweisen, die Grimmelshausen seinen Lesern gab.

Auch unter inhaltlichen Aspekten kann die Continuatio als eine direkte Fortsetzung des fünften Buches betrachtet werden. Obwohl zum Endes des fünften Buches alle auf Erfüllung angelegte Erzählansätze und Vorausdeutungen als sinnvoll abgeschlossen erscheinen und kein weiterer Erzählansatz offen bleibt, offenbart die in der Continuatio beibehaltene Ich-Perspektive und das Wiederaufgreifen von Inhalten und Motiven eine direkte inhaltliche Weiterführung, „fahe demnach wiederum an, wo ichs am End des fünften Buch bewenden lasse[n][5], und demnach eine weitere Verbindung der Teile.

Die in der Continuatio aufgebaute Fiktion, der gesamte Simplicissimus sei auf einer fernen Insel verfaßt worden, weist jedoch Diskrepanzen in der Erzählfiktion auf, da sich an einigen Stellen die Perspektive eines rückblickenden Ich-Erzählers erkennen läßt und so die Zusammengehörigkeit der Teile in Frage gestellt werden könnten. Auch der symmetrische Aufbau der ersten fünf Bücher, in denen sich eine Art ‘motivischer Parallelismus’ erkennen läßt, z.B. in der Figur des Knans, die nur im ersten und im fünften Buch auftaucht oder auch im Einsiedlermotiv, das eine Art Rahmen um die ersten fünf Bücher spannt, da es nur am Anfang und am Ende des Simplicissimus auftaucht, weist auf die besondere Stellung der Continuatio, die diesen symmetrischen Aufbau zerstört. „Der Dichter scheute übrigens nicht davor zurück, den so harmonischen Bau des fünfbuchigen Simplicissimus zu zerstören, um ihm eine aktuell gewordene Fortsetzung, die in der „Continuatio“ enthaltene Robinsonade, anzuhängen.“[6]

2.1 Die besondere Stellung der Continuatio

Erkennt man auch einen gewissen Bruch in der Erzähl-Motivation, inhaltliche Unstimmigkeiten in der Continuatio gegenüber der vorangegangenen Bücher, und betrachtet man die ungewöhnlichen Publikationsumstände und Buchaufmachungen, die für eine Sonderung der Continuatio sprechen würden, so wird doch immer wieder durch zahlreiche Hinweise motivischer und inhaltlicher Art auf den unbedingten Zusammenhalt der sechs Bücher gedrängt. Keines der fünf Bücher des ‘Simplicissimus Teutsch’ ist auch nur annähernd mit einer solchen Vielzahl von Leserhinweisen gespickt und so wird der Continuatio automatisch eine Sonderstellung eingeräumt, die mit einem distanzierenden Blickwinkel in Hinblick auf die fünf vorangegangen Bücher einhergeht.

„Erzählprinzip scheint eine zunehmende Distanzierung von der äußeren Handlung zu sein, erkennbar etwa an der durchaus ironischen Wiederholung von Motiven und Argumenten aus den Büchern I-V des ‚Simplicissimus Teutsch‘“.[7] Die immer wieder von der Forschung aufgegriffenen Unstimmigkeiten, Widersprüche und Wiederholungen, die hauptsächlich die Inhalte betrafen, wurden Grimmelshausen häufig als Unachtsamkeiten ausgelegt, in denen man keine Intention erkannte.

Eine dieser sogenannten Unstimmigkeiten läßt sich beispielhaft im 14. Kapitel der Continuatio finden, die in einer großzügigen Passage Gewässer und Naturwunder aus dem 14. Kapitel des fünften Buches wieder aufnimmt.[8] Bei einem genaueren Vergleich der beiden Passagen lassen sich Differenzen in den sprachlichen Darbietungen erkennen, doch sind die wörtlichen Anklänge offensichtlich und so ergibt sich, daß fast alle Angaben des Gewässerkataloges aus dem fünften Buch in der Continuatio wiederzufinden sind.[9] Diese Duplizität brachte Grimmelshausen häufig den Vorwurf eines Plagiators, der dasselbe Vorlagenmaterial doppelt aufgegriffen hatte. „Von den Kommentatoren werden sie denn auch wie Versehen verbucht, bei deren Offensichtlichkeit es keiner weiteren Erörterungen bedarf.“[10] Betrachtet man jedoch die Grundlagen seiner Quellen genau, so wird deutlich, daß es sich hier keineswegs um unbedachte Abschreiberei handelt, sondern um intendierte Wiederaufnahme und Wiederholung. Vergleicht man die beiden Gewässerkataloge, werden nicht nur die motivischen Übereinstimmungen sichtbar, sondern auch strukturelle Gegensätzlichkeiten bewußt. So fällt auf, daß die beiden Kataloge ihre identischen Motive in einer anderen Abfolge nennen.

Einen weiteren Unterschied erkennt man in den zahlreichen Erweiterungen des Gewässerkataloges in der Continuatio, der durch die Aufnahme von neuem Vorlagenmaterial die wiederaufgenommenen Motive beträchtlich erweitert. Die ungleiche Verteilung der Motive sind nach Gersch das Ergebnis verschiedenartiger Ordnungs- und Aussagetendenzen.

Im fünften Buch wird der Leser nur mit einigen wenigen Naturwundern vertraut gemacht, die als glaubhaft und tatsächlich dargestellt werden sollen und daher nicht allzu exotisch wirken.

Es stellt sich hierbei ein Ordnungsprinzip heraus, daß die einzelnen Motive nach Paaren von ähnlichen oder gegensätzlichen Eigenschaften gruppiert. Dieses Prinzip unterteilt die Gewässer in Rubriken von Quellen, Seen und Flüsse. „Der See bei Zircknitz [...] hat nur Winterzeit Wasser, und im Sommer liegt er [...] trocken“[11] wird zum Beispiel mit dem „Brunn bei Ängstlen“[12] in der Continuatio gegenübergestellt. Dort wird hingegen nicht mehr auf die Glaubhaftigkeit geachtet - im Gegenteil, Grimmelshausen läßt Simplicissimus eine Vielzahl von Lügengeschichten auftischen, die durch exotische Beispiele aus der Naturkunde kenntlich werden. Wurde im fünften Buch noch bedacht und glaubwürdig berichtet, so ist die Continuatio auf Übertreibungen und Maßlosigkeit hin ausgerichtet. Um dennoch ein gewisses Ordnungsprinzip in die phantastischen Beschreibungen des Gewässerkataloges zu bekommen werden auch hier die Motive in Rubriken unterteilt. Zuerst werden die Brunnen, die Palludes, der See, die Sümpfe, die Lachen und zuletzt der Fluß genannt. Innerhalb dieser Rubriken kann man dann wie im fünften Buch eine Anordnung von Ähnlichkeiten und Gegensätzlichkeiten wieder finden, wenn der Autor beispielsweise in der Rubrik der Seen auf den ‘See bei Zircknitz’ zurückgreift. Er betont bei dieser Ausführung die Fruchtbarkeit des Sees und stellt ihm das tote Meer in Judea gegenüber. Diese Differenzierungen innerhalb der beiden Kataloge läßt deutlich erkennen, daß es sich hier nicht um unbedachte Abschreiberei handelt, sondern eher um eine Art dichterische Variation, die einen Sinnzuwachs enthält.

Im fünften Buch ist der Gewässerkatalog durch seine Glaubwürdigkeit eng mit der fiktionalen Wirklichkeit des Romans verbunden, hingegen die Beschreibungen in der Continuatio einen völlig anderen Stellenwert aufweisen. Schon allein die Kapitelüberschrift in der Continuatio ‘Allerhand Aufschneidereien [...], die einem auch in einem hitzigen Fieber nicht seltsamer vorkommen können’ macht offenkundig, daß der hier aufgeführte Funktionswert, die hier beschriebenen Naturwunder nicht als Realitäten anzusehen, ein völlig anderer geworden ist als im fünften Buch.

Auch unter strukturellen Gesichtspunkten, Gersch spricht hier sogar von einer Schlüsselposition, wird die Gewässerpassage des sechsten Buches mit ihrem Aussageanspruch hervorgehoben. Der Gewässerkatalog befindet sich in der Mitte des 14. Kapitels und gleichzeitig auch, da die Continuatio 27 Kapitel umfaßt, in der Mitte des sechsten Buches. Untersuchungen der Grimmelshausenforschung haben ergeben, daß gerade den Mittelteilen der Grimmelshausenbücher große Bedeutung zuteil werden muß. „Es ist eine Kompositionstendenz des Dichters, in den Buchmitten Episoden anzusiedeln, die über sich selbst hinausweisen, indem sie als Allegorien oder zumindest in einem uneigentlichen Sinn funktionieren.“[13] Dieser Variationscharakter wurde von der bisherigen Forschung übersehen, da nicht erkannt wurde, daß die inhaltliche Wiederaufnahme von konstanten Elementen aus dem fünften Buch konträr zu denen aus der Continuatio angelegt wurden, um den Inhalt des vorangegangenen Buches in frage zu stellen und ihn als Fiktion zu enthüllen.

Einen weiteren Leserhinweis mittels inhaltlicher Wiederaufnahme gab Grimmelshausen durch die Erwähnung der Wunderpflanze ‘Borametz’ im 22. Kapitel des fünften Buches sowie im 11. Kapitel der Continuatio. Ein Vergleich der beiden Textpassagen deckt einen Widerspruch in den Erzählungen auf. Berichtet Simplicissimus noch im fünften Buch von Der Pflanze ‘Borametz’, die strukturell wie der Gewässerkatalog im fünften Buch einen Teil der Romanwirklichkeit ausmacht, so leugnet er bereits in der Continuatio die Pflanze jemals mit eigenen Auge gesehen zu haben. Beachtet man die Analyseergebnisse der Gewässerkataloge, so wird man zwischen diesen beiden Phänomenen eine Strukturlinie bemerken, da auch bei der ‘Boarmetz’-Erwähnung die planmäßig angelegte Funktion der Enthüllung zu erkennen ist. Auch hier soll wieder durch das konträre Aufgreifen ein und desselben Motivs der Fiktionscharakter des fünften Buches kenntlich gemacht werden und so wird deutlich, daß der ‘Simplicissimus Teutsch’ ab dem Zeitpunkt der Wiederaufnahme nicht mehr als vorerst angestrebter Erlebnisbericht betrachtet werden darf, sondern als dichterische Fiktionalität angesehen werden muß.

Schon früh erkannte man die gegensätzlichen Charaktäre der Bücher, doch blieben strukturanalytische Untersuchungen der Romanteile, die den Vorwurf der unbedachten Schreiberei hätten verwerfen können, aus.

Analysen autobiographischer, chronikalischer und topographischer Art haben Strukturlinien und deren Bedeutung aufgedeckt und den Beweis erbracht, daß die Continuatio planmäßig und funktionell angelegt wurde.

2.2 Strukturanalytische Betrachtungen

Grimmelshausen vermittelt durch die durchgehende Ich-Erzählform in den ersten fünf Büchern seines Romans dem Leser den Eindruck eines autobiographischen Erlebnisberichts. Dieser Kunstgriff, durch die Ich-Erzählung ein nicht-fiktionales historisches Werk schaffen zu wollen, suggeriert eine autobiographische Illusion und es scheint, als wäre alles Vorgetragene selbst erlebt und erfahren. „Das bestätigt sich schon anhand des Kommentars zur postumen Ausgabe von 1683/84, in dem Romanheld und Romanautor identifiziert werden, und wird auch noch darin deutlich, daß die Grimmelshausen-Forscher des 19. Jahrhunderts weitgehend der Meinung waren, ein Erlebnisbuch zu lesen, aus dem sich der Lebenslauf des Verfassers ableiten ließe.“[14]

Ebenso erwecken die durchgehend in den ersten fünf Büchern genannten historischen Ereignisse des dreißigjährigen Krieges und die exakt beschriebenen Ortsangaben den Anschein eines realen, historischen Werkes. Der Fiktionscharakter wird daher im ‚Simplicissimus Teutsch‘ in keiner Weise offenbart – im Gegenteil, zu den schon genannten Aspekten der autobiographischen Illusion, der chronikalischen und der topographischen Dokumentation stellt der Autor den Kunstgriff der Beglaubigung.

Um dem Leser seinen Roman als Tatsachenbericht glaubhaft zu machen, stellt er sich als gewissenhaften Erzähler dar, in dem er „listig vorgetragen bei an sich glaubwürdigen Mitteilungen“[15] erzählerische Bedenken äußert, die ihm so das Zutrauen des Lesers auch bei fragwürdigen Äußerungen sichern. So setzt er sich beispielsweise selbst in der Mummelsee-Episode in die Position eines zu belächelnden Skeptikers, der zwar zugibt, schon von diesem Bergsee gehört zu haben, diese Geschichten aber immer für erdichtete Märchen gehalten habe . „ Solche und dergleichen mehr Historien, die mir alle als Märlein vorkamen, damit man die Kinder aufhält, hörte ich an, verlachte sie und glaubte nicht einmal, daß eine solche unergründliche See auf einem hohen Berg sein könnte [...]“[16] Wenn er später aber dann erzählt, dies alles selbst erlebt und gesehen zu haben und zusätzlich noch einen Zeugen, seinen Ziehvater, nennen kann, wird seine anfängliche Selbstkritik vom Leser schnell als Aufrichtigkeit ausgelegt. Auch die terminologische Tatsache, daß Grimmelshausen innerhalb der ersten fünf Bücher sein Werk als eine ‚Historie‘ oder ‚Geschichte‘ bezeichnet, wurden doch im Sprachgebrauch des Barock fiktive Vorgänge als ‚Gedicht‘, ‚Fabel‘ oder ‚Roman‘ beschrieben, täuschen dem Leser einen Wahrheitsgehalt vor.

Diese terminologische Irreführung wird auch in der Continuatio anfänglich weitergeführt, um dadurch an die vorausgegangenen fiktiven Darstellungen anzuknüpfen und sie weiterhin als Tatsachenbericht darzustellen. Schnell erkennt man jedoch, daß es sich bei dem sechsten Buch nicht mehr um eine terminologische Täuschung handelt, sondern sie im Gegenzug hier langsam aufgelöst wird.

Beschreibt der Autor die Bücher anfänglich noch als ‚Historie‘ geht er schnell dazu über sie als ‚Werck‘ zu bezeichnen, um dadurch – nach damaligem Sprachverständnis – sein Buch als dichterisches, fiktives Erzeugnis darzustellen. Explizit wird dies noch einmal am Ende des sechsten Buches, im Beschluß der Continuatio, deutlich gemacht. Hier wird dem Leser klar, daß der ‚Simplicissimus Teutsch‘ eine fiktive Handlung beschreibt - durch ein Anagrammspiel, welches der Autor mit den Initialen seines Namens treibt und der Tatsache, daß Grimmelshausen sein ‚Werck‘ als ein ‚satyrisches Gedicht‘ bezeichnet werden Autor und Simplicissimus als nicht identisch erkannt und die zuvor aufgebaute autobiographische Illusion zerstört. Auch die im ‚Simplicissimus Teutsch‘ exakt beschriebenen topographischen Erörterungen und die chronologische Darstellung des dreißigjährigen Krieges verlieren sich in der Continuatio. So ist es dem Leser beispielsweise nicht möglich, anhand von Grimmelshausens topographischen Beschreibungen den genauen Ort der ‚Creutz Insul‘ ausfindig zu machen. Konnte man den Beginn der Continuatio chronologisch noch mit dem Ende des dreißigjährigen Krieges in Zusammenhang bringen werden im weiteren Verlauf des sechsten Buches nur noch wenige, zum Ende hin, keine geschichtlichen Fixpunkte mehr genannt, mittels derer man von einem in der Realität verankerten Tatsachenbericht hätte sprechen könnte.

So haben auch die hier nur beispielhaft vorgestellten Strukturanalysen gezeigt, daß die Continuatio nicht nur unter inhaltlichen Aspekten planmäßig und intendiert im Gegensatz zum ‚Simplicissimus Teutsch‘ angelegt wurde. In der Continuatio „erweist sich das erzählerische Interesse von Suggestion zur Demonstration verlagert und auf eine Desillusionierung des Lesers abgestellt, um eine andere Perzeption der Simplicianischen Lebenserzählung als die Befriedigung bloßen Stoffhungers zu fördern.“ [17] Nach dieser Textstelle war die Funktion der Continuatio also nicht nur auf die Aufklärung der ersten fünf Bücher als Fiktion ausgerichtet, sondern auch auf die Wahrnehmung eines tieferen, nicht nur auf Unterhaltung angelegten, und oftmals nicht direkt offenkundigen Sinns. Um dem heutigen Leser diesen ‚zweiten‘ Sinn zu erschließen bedarf es einer Erläuterung des barocken Poetikbegriffs.

3. Die Stellung der Poetik im 17. Jahrhundert

„Die Wirklichkeit, die uns aus der Dichtung des 17. Jahrhunderts entgegentritt, ist nicht die psychologischer Vorgänge, sondern die einer festen Ordnung der Dinge und Menschen. Die Welt entsteht nicht aus der Sinngebung des Helden, sondern dieser hat die Aufgabe, den Leser durch die verschiedenen Bereiche der Welt zu führen.“[18]

Der barocke Roman wurde in einer Zeit allgemein gültiger religiöser Ordnungen geschrieben, der seine Aufgabe nicht darin sah, die Welt neu zu interpretieren, sondern ihre allen gleichermaßen bekannten Formen in ihren verschiedenen Facetten darzustellen und mittels lehrreicher Beispiele zu zeigen, was sie bedeutet. Der Autor bewegte sich innerhalb dieser Ordnungen und hatte von vornherein das festgesetzte Ziel, den Aufbau der Welt vor religiös-sozialem Hintergrund für jedermann zugänglich zu machen, die Menschen zu unterweisen, sie zu belehren über etwas, was für alle gleichermaßen Geltung hat. An die Stelle der künstlerischen Schaffensfreude trat die Genugtuung den gelehrt-abstrakten Stoff einer christlichen Welt in eine gefällige Form gebracht zu haben .

„Wirklichkeit ist im Barock nicht die dem Einzelnen erfahrbare Umwelt, die subjektive Erfahrung, sondern die Ordnung Gottes. Nicht das Phänomen, die Welt der Erscheinungen, bestimmt den Wirklichkeitsbegriff, sondern das der Welt zugrundeliegende Gesetz.“[19]

Die Dichter übernahmen häufig Passagen aus anderen Arbeiten – Grimmelshausens Hauptquelle war Tomaso Garzonis ‚Piazza Universale di tutte le professioni del mondo‘ (1558) – um zu beweisen, daß es sich nicht um schöpferische Neuansätze, sondern um fundierte und daher für die Allgemeinheit verpflichtende Moralgesetze handelte. So stammt auch ein beachtlicher Teil der Vorkommnisse im ‚Simplicissimus Teutsch‘ aus älteren, bekannten literarischen Schwänken. Die Erlebnisse und Erfahrungen im ‚Simplicissimus Teutsch‘ wurden zwar so konzipiert, daß sie als Lebenslauf des Simplicissimus beschrieben wurden, jedoch nicht unmittelbar an einer bestimmten Person festgemacht werden mußten, da die Leser durch den didaktischen Gehalt des Romans zu den gleichen Einsichten geführt worden wären.

Der Poet sah sich als Lehrer, welcher sein Werk, gemauert aus religiösen Quellen, nicht nur als reine Unterhaltung verstanden haben wollte, sondern welches er in das weltliche Bildungsprogramm integrierte. Dieses didaktische Verständnis der Dichtung, nicht nur zu unterhalten, sondern die Einsicht in Gut und Böse an der Richtschnur der heiligen Schrift zu vermitteln, ist von der ‚Horazianischen Regel‘ der Barockpoetik abgeleitet. Nach horazianischen Gesichtspunkten habe der Poet entweder zu nutzen oder zu belustigen – im besten Fall das Angenehme mit der Lehre zu kombinieren. Im 17. Jahrhundert rückten die Poeten von diesem Leitsatz indes ein wenig ab. Die Alternative, entweder zu lehren oder zu unterhalten fand in der damaligen Zeit keinen Anklang und so wurde die Kombination beider Tendenzen als absolute und einzige Maxime gesetzt. Forderte der Grundsatz der Barockpoetik auch ein Zugleich der beiden Tendenzen so impliziert dies nicht eine Gleichstellung von Lehre und Unterhaltung. Vorerst war es Ziel der Dichtung zu lehren und erst in zweiter Linie dies mit der Unterhaltung, als Mittel zum Zweck, zu verbinden, damit es dem Leser leichter falle, anhand von Anekdoten oder Schwänken zu lernen.

„Wer anders handelt wird einem Kinde verglichen, das auf der Wiese Blumen sucht, wo der Arzt „heilsame Kräuter“ findet. Diese Kräuter, welche der Leser aufspüren muß, wenn er von einem Buch Gewinn haben will, sind die lehren und „löblichen Exempel“, durch welche der Barockdichter die Menschen zu einem sittlichen leben anzuleiten versucht.“[20]

[...]


[1] Gersch, Hubert: Geheimpoetik. Die ‘Continuatio des abentheuerlichen Simplicissimi’ interpretiert als Grimmelshausens verschlüsselter Kommentar zu seinem Roman. Tübingen 1973. S. 159. (künftig zitiert: Gersch: Geheimpoetik).

[2] Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von: Das wunderbarliche Vogelnest. Hrsg. v. Rolf Tarot. Tübingen 1970. S. 150.

[3] Weitere Hinweise auf die Zusammengehörigkeit der Romanteile gibt Grimmelshausen dem Leser des weiteren in der Schrift „Rathstübel Plutonis“ (1672), in der auf die Julus- und Avarus-Episode im fünften bis achten Teil der Continuatio verwiesen wird.

[4] Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von: Der abentheuerliche Simplicissimus. Frankfurt/ Main.

1983. S.707. (künftig zitiert: Grimmelshausen: Simplicissimus).

[5] Grimmelshausen: Simplicissimus. S.596.

[6] Scholte, Jan Hendrik: Der Simplicissimus und sein Dichter. Tübingen 1950. S. 209.

[7] Breuer, Dieter: Sich verändern, sich verwandeln. Zu Grimmelshausens „Continuatio“. In: Literatur und Gesellschaft. Festschrift für Theo Buck zum 60. Geburtstag. Hrsg. Von Frank-Rutger Hausmann. Tübingen 1990. S. 65.

[8] Grimmelshausen: Simplicissimus. S. 542ff. und S. 660ff.

[9] Zur näheren Erläuterung befindet sich im Anhang dieser Arbeit eine Gegenüberstellung der Gewässerkataloge aus: Gersch: Geheimpoetik. S. 18.

[10] Gersch: Geheimpoetik. S. 15.

[11] Grimmelshausen: Simplicissimus. S. 543.

[12] Grimmelshausen: Simplicissimus. S. 660.

[13] Gersch: Geheimpoetik. S.27.

[14] Gersch: Geheimpoetik. S. 37.

[15] Gersch: Geheimpoetik. S. 40.

[16] Grimmelshausen: Simplicissimus. S. 527.

[17] Gersch: Geheimpoetik. S. 60.

[18] Welzig, Werner: Beispielhafte Figuren. Tor, Abenteurer und Einsiedler bei Grimmelshausen. Graz/ Köln 1963. S. 13.

[19] Rötzer, Hans Gerd. Picaro – Landtstörtzer – Simplicius. Studien zum niederen Roman in Spanien und Deutschland. Darmstadt 1972. S. 136.

[20] Welzig, Werner: Beispielhafte Figuren. Tor, Abenteurer und Einsiedler bei Grimmelshausen. Graz/ Köln 1963. S. 19.

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Die verschlüsselten Kommentare in der Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi
Hochschule
Universität Münster  (Institut für Deutsche Philologie II)
Veranstaltung
Hauptseminar: Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen
Note
2,0
Autor
Jahr
1998
Seiten
43
Katalognummer
V4583
ISBN (eBook)
9783638128179
Dateigröße
620 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kommentare, Continuatio, Simplicissimi, Hauptseminar, Hans, Jakob, Christoffel, Grimmelshausen
Arbeit zitieren
Steffi Funnekötter (Autor:in), 1998, Die verschlüsselten Kommentare in der Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/4583

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