Mit dem "spatial turn" ist in den letzten Jahren eine Hinwendung zum Raum innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften erfolgt (Dennerlein 2009). Dieser interdisziplinäre Zugang hat dazu geführt, dass der Raum als immer wieder in den Hintergrund geratener Analyseaspekt neu in der Narratologie verhandelt wird. Dennerlein führt als Erklärungsversuch für das immer wieder zurück tretende Interesse für den Raum auf, dass er im Erzähltext kein „Parameter der Vermittlung der Geschichte“ ist (Dennerlein 2009). Nachdem lange die erzählte Zeit zentral bei der Interpretation literarischer Texte war, bot spätestens Lotmans Struktur literarischer Texte (1972) eine Methodik, die zu einer verstärkten Hinwendung zum Raum geführt hat. Spätestens seit der Philosophie Kants hat sich die These etabliert, dass Raum und Zeit Grundbedingungen jeglicher Anschauung sind, also a priori der Anschauung vorgelagert. Da es unmöglich ist, eine Imagination zu haben ohne dass diese räumliche Aspekte beinhaltet und demnach in einem Raum existiert, muss Raum zwangsläufig mitgedacht werden. Die Auseinandersetzung mit dem Raum verortet das Subjekt innerhalb seiner Welt und zeigt damit ihr Verständnis der Ordnung der Dinge. Eine Positionierung im Raum und somit eine Strukturierung des Raumes gewährt darüber hinaus Einblicke in das Verschlossene und Unbewusste. Somit ist die Hinwendung zum Raum bei der Analyse literarischer Texte erkenntniserweiternd, mit einer genauen Betrachtung der zugrundeliegenden Konzeption kann ein Mehrwert erreicht werden, der nun in dieser folgenden Textanalyse aufgezeigt wird. Die Fragestellung dieser Arbeit ergibt sich aus der Untersuchung, welche Räume in der Erzählung Tonio Kröger enthalten und wie diese besetzt sind. Wie sind die Räume entworfen, und welche Tragweite haben Grenzüberschreitungen? Es wird dabei davon ausgegangen, dass es zwischen der inneren und äußeren, räumlichen Grenze eine direkte Korrelation gibt. Weiter wird die Frage untersucht, inwieweit sich die Räume im Verlauf ändern, ob eine Verschiebung vorliegt oder die Räume eindimensional konzipiert sind. Wenn Benthien und Krüger-Fürhoff festhalten, dass „Grenzbildung und -überwindung […] grundlegende kulturkonstituierende Akte“ (1999) zu sein scheinen, wird hier erneut die Relevanz der Untersuchung aufgezeigt. Denn durch die raumbasierte Analyse kann das Kultur- und Gesellschaftsbild des Textes aufgezeigt werden. Dies wird im folgenden bewiesen.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung
- 2. Nord
- 2.1. Heimat: Tonio Kröger auf der Schwelle.
- 2.2. Ordnung und Tanz
- 3. Süd
- 3.1. Bellezza und das kalte Herz: Tonio Kröger erschließt seinen Süden
- 3.2. Innen und Außen in München…….....
- 4. Nord-Nord...
- 4.1. Verlorene Heimat: Tonios Rückkehr in den Süden
- 4.2. Tonio tanzt nicht: Der Erkenntnisraum Dänemark.
- 5. Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit analysiert den Raum in der Erzählung Tonio Kröger von Thomas Mann. Sie untersucht, welche Räume in der Geschichte vorkommen, wie sie besetzt sind und welche Bedeutung Grenzüberschreitungen haben. Dabei wird die These aufgestellt, dass die innere und äußere räumliche Grenze direkt miteinander korrelieren. Darüber hinaus wird untersucht, ob sich die Räume im Laufe der Geschichte verändern oder ob sie eindimensional konzipiert sind.
- Die Bedeutung von Raum als Analyse-Aspekt in der Narratologie
- Die Beziehung zwischen innerer und äußerer räumlicher Grenze
- Die Rolle von Grenzüberschreitungen in der Geschichte
- Die Entwicklung der Räume im Laufe der Geschichte
- Die Bedeutung des Raumkonzepts für die Interpretation der Geschichte
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel beleuchtet Tonios Kindheit in Norddeutschland, insbesondere die Familienkonstellation. Im zweiten Kapitel wird der Tanzkurs betrachtet, den Tonio im Alter von 16 Jahren besucht. Es wird argumentiert, dass die Erweiterung der Raumtheorie um den Heterotopie-Begriff Foucaults notwendig ist. Das dritte Kapitel befasst sich mit Tonios Auszug in den Süden und der raumorientierten Analyse des philosophischen Mittelteils der Erzählung, in dem das Leben zwischen Kunst und Bürgertum diskutiert wird. Das vierte Kapitel analysiert Tonios Rückkehr in den Norden, insbesondere den Besuch seines Elternhauses und ein Fest, bei dem er zwei alte Bekannte auf seinem Dänemark-Urlaub trifft.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter dieser Arbeit sind: Raumsemantik, Tonio Kröger, Thomas Mann, Nord und Süd, Grenzüberschreitung, Heterotopie, Raumkonzept, Lotman, strukturalistische Theorie.
- Arbeit zitieren
- Judith Brückner (Autor:in), 2015, "Ich stehe zwischen zwei Welten". Eine raumsemantische Analyse Tonio Krögers von Thomas Mann, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/458951