Diese Abhandlung beschäftigt sich mit dem Thema der Vergangenheit in Bezug auf Gegenwart und Zukunft. Können wir die Vergangenheit wollen? Worauf richten wir unsere Willenskraft, sei sie frei oder ein ausschliessliches Ergebnis unserer Anpassung an die Umwelt? Wir können nur beschliessen, was wir tun werden. Während also unsere Gegenwart aus der Vergangenheit herstammt, gestalten wir mit unseren gegenwärtigen Entschlüssen ausschliesslich die Zukunft. Wie ich die Gegenwart erlebe und in meinen Willen einbringe, so gestalte ich die Zukunft
Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft
Ein recht banaler Titel, könnte man sagen, aber es hängt ausschliesslich von uns ab, mit welchen Gedanken wir diesen Rahmen füllen.
Es ist nichts Ungewöhnliches mehr, sich mit dem Begriff des Karmas zu beschäftigen. Auch der freie Wille wird oft diskutiert. Wie verhalten sich die beiden zueinander? Wenn wir uns mit dem Karma beschäftigen, erleben wir all das, was in der Gegenwart geschieht, als Folge. Aber wo bleibt dann der freie Wille?
Schauen wir mal diese Frage näher an. Können wir die Vergangenheit wollen ? Worauf richten wir unsere Willenskraft, sei sie frei oder ein ausschliessliches Ergebnis unserer Anpassung an die Umwelt? Wir können nur beschliessen, was wir tun werden. Während also unsere Gegenwart aus der Vergangenheit herstammt, gestalten wir mit unseren gegenwärtigen Entschlüssen ausschliesslich die Zukunft. Natürlich können wir mit dem Handeln sofort beginnen, doch ist zwischen dem Entschluss und dem Beginn des Tuns Zeit verflossen und wir wissen ja, dass wir nicht zweimal in den gleichen Fluss treten können. Die linear vergehende Zeit ist zwischendurch bereits weiter geschritten.
Linear vergehende Zeit – ja, da können wir schon mal kurz anhalten. Wenn wir die Uhr anschauen, die unsere Zeit misst, scheint sie schon linear fort zu fliessen. Warten wir aber auf den Zug, beim Zahnarzt oder gar auf den lieben Freund einerseits oder lesen ein spannendes Buch andererseits, haben wir nicht den Eindruck, dass die Minuten gleich schnell vergehen. Es gibt also ausser der linear fortschreitenden Zeit für uns alle auch eine, ausschliesslich von seelischen Faktoren abhängende, persönliche Zeit, Aber natürlich wissen wir auch – und können es bei der völligen Entspannung, ja sogar in den Träumen erfahren – dass die lineare Zeit unseres Alltagsbewusstseins gar sehr erdgebunden ist, kein Wunder, da ja deren Mass die Erdumdrehung ist. Lockert sich aber unsere Erdgebundenheit, so treten wir aus der gewohnten Welt des Raumes und der Zeit heraus und hinüber in die unmessbare Welt der zeitlosen Zeit.
Kehren wir aber zurück zur Gestaltung der Zukunft. Unsere gegenwärtigen Gedanken können natürlich einfach die Vergangenheit widerspiegeln. Wir können beschliessen, dass wir auch in der Zukunft im gewohnten Gleis bleiben, tun, was sich bewährt hat, was man von uns erwartet. Wenn es ja bis jetzt gut war, wenn ich mich dabei wohl fühle, warum soll es nicht auch in der Zukunft gut sein?
Gut ? Was ist gut? Und was ist schlecht ? Ist das gut, was meine Entwicklung, meine Entfaltung fördert, was mich dem Sinn, dem Zweck meines irdischen Lebens näher bringt? Ja, aber nur dann, wenn es der Umwelt, meiner Umgebung nicht schadet. Und was ist schlecht? Was diese Entfaltung hindert, in Bezug auf meine Person, auf meine Gemeinschaft, auf mein Volk, ja auf die ganze Menschheit bezogen.
Hier können wir zum freien Willen zurückkehren. Denken wir nach, so stellt sich bald heraus, dass er gar nicht immer so frei ist. Höchstens, wenn wir unsere Zukunft mit recht wenig Bewusstsein gestalten. Wenn wir aber die Gesetze der Natur berücksichtigen, beschränkt sich unsere Freiheit darauf, Gutes, im obigen Sinne, zu planen.
Unser freier Wille wird auch von unserem Gewissen beschränkt. Aber es ist besser, auch das Gewissen bewusst zu überprüfen. Spiegelt es wirklich ewige Werte wider, oder bloss die Vorurteile unserer Sozialisation, unserer Anpassung?
Der Mensch denkt und Gott lenkt – sagt man.
Wohin lenkt er ? Wie oft merken wir, vielleicht viel später erst, dass seine Lenkung, die mich aus dem gewohnten und bequemen Gleis fahren liess, eigentlich meiner Entwicklung, meiner Entfaltung, unserer Entwicklung, unserer Entfaltung diente.
Wie oft bin ich gerade dadurch zu dem geworden, der ich heute bin?
Kurzfristig dominieren vielleicht Unbequemlichkeit und Enttäuschung und wir müssen aufpassen, dass nicht Unsicherheit und die damit stets zusammenhängende Angst auftreten. Vielleicht ist es noch ein Rätsel, wozu die so unerwartete Gestaltung der Zukunft gut war. Warum gerade ich erfuhr diese Lenkung?
Die Antwort ist zu bedenken. Die Aufgabe unserer jeweiligen Gegenwart ist nicht nur, dass wir abends, vor dem Einschlafen, auf den Tag zurückzublicken, sondern dass wir bewusst machen, ob es gut war, gut im obigen Sinne, was wir in unserer leicht zu überblickenden Vergangenheit taten? Schreite ich in einer Richtung fort, dass ich das Gefühl haben kann, jawohl, das ist es, was ich tun muss? Wenn ich auf diese Fragen mit gutem Gewissen eine positive Antwort geben kann, kann ich beruhigt, ohne Angst meiner Zukunft entgegenschauen, ich weiss ja, was auch passieren mag, es dient meiner, unserer Zukunft. Ein solches, regelmässiges Überdenken führt auch dazu, dass meine schlechten Eigenschaften den Nährboden verlieren - sie verschwinden schön langsam, mit einigen Rückfällen, ohne dass ich mich viel mit ihnen beschäftigt habe.
Rudolf Steiner spricht oft davon, dass unsere Zeit das Zeitalter der Bewusstseinsseele ist. Nun, bewusst kann ich nur in der Gegenwart sein.
Nur in der Gegenwart kann ich mir meine Vergangenheit bewusst machen, und von dieser Bewusstwerdung die Konsequenzen ziehen. Nichts ist natürlicher, als dass diese Konsequenzen in die bewusste Gestaltung meiner Zukunft einfliessen.
Die Rolle des Bewusstseins ist von entscheidender Wichtigkeit dafür, dass diese Konsequenzen zu einer Folgerichtigkeit in der darauf folgenden Zeit führen, sonst kehren wir zu Konfuzius zurück, der sagte, dass auf dem Baum der Entschlüsse zwar viele schöne Blumen blühen, aber kaum Früchte reifen.
Je entwickelter unsere Bewusstseinsseele ist, je bewusster wir leben, desto leichter können wir erkennen, was für uns an der Zeit ist, desto leichter ist es konsequent zu bleiben, desto leichter können wir den Sinn unseres Lebens überblicken, sein Ziel verwirklichen. Deswegen ist die Erziehung, die Belehrung, die Weiterbildung so wesentlich, deshalb sollte man jeden bewusstseinsabstumpfenden Verbrauch von
Alkohol und anderen Drogen sowie jede Fehlinformation so entschieden ablehnen.
Die Entwicklung des Bewusstseins führt nicht nur zu einer Zunahme der Selbstkontrolle und der Kreativität, sondern meist auch zu einer Erweiterung des Wirkungskreises. Eine volle Bewusstwerdung ist zwar für uns nicht erreichbar, bleibt aber ein stets vorhandenes Ziel des Strebens.
Wie geht man vor, wenn man konsequent versuchen will, das Ziel seines Erdenlebens kennen zu lernen und durch bewusste Gestaltung seiner Zukunft zu verwirklichen? Rücksichtnahme auf den anderen und auf die Umwelt, angst- und gewaltfreies,achtsames Handeln, ist entscheidend. Das immer weiter sich entwickeln Wollen verhindert jede Selbstzufriedenheit. Die geordnete, harmonische Atmosphäre, die dadurch entsteht, zieht nicht alle Menschen an. Sie kann von denen, die anderswo unterwegs sind, die etwas ganz anderes suchen, oft nicht verstanden, ja abgelehnt werden.
Beschäftigt man sich mit der eigenen Vergangenheit, so gibt es zwei Elemente. die wesentlich sind. Das erste ist die Reue. Bereuen kann man nur in der Gegenwart. Man kann also sagen, dass die Reue eine unerlässliche Aufgabe der Gegenwart ist. Das zweite ist das Verzeihen. Im Interesse der Zukunftsgestaltung ist es besonders wichtig, dass wir lernen zu verzeihen, anderen, aber auch uns selbst, mit der Auflage, dass wir die in der Vergangenheit begangenen und jetzt bereuten Fehler niemals mehr wiederholen. Dazu müssen wir lernen, umsichtig, aber mit genügend Tatkraft zu handeln. Die Entwicklungsfeindlichkeit von anderen, sei es aus Unfähigkeit, Gewinnsucht, Nachlässigkeit oder fehlendes Bewusstsein, darf uns dabei nicht hindern. Wir müssen auch aufpassen, dass wir unsere Vorstellungen, auch wenn sie sich für uns bewährt haben, niemandem aufzuzwingen versuchen.
Ein jeder hat das Recht aus dem eigenen Schaden zu lernen. Es genügt, wenn wir zur Verfügung stehen, wenn jemand unsere Hilfe erbittet. Natürlich gibt es auch dabei Ausnahmen, wie das Erziehen, Lehren, Weiterbilden aber der Notfall.
Es ist wichtig für die Zukunft, dass mechanische Arbeiten von Maschinen erledigt werden. Der Mensch wird dadurch frei für die Verrichtung von schöpferischen, planenden, forschenden und kontrollierenden Tätigkeiten, sowie für solche, bei welchen die zwischenmenschliche Verbindung das Entscheidende ist, wie die Erziehung, die Kinder- und Krankenpflege, das Haushalten, die Bewirtung usw. An Aufgaben, die den Menschen und der Umwelt dienen, wird es nie mangeln.
Dass alle unsere gegenwärtigen Hoffnungen die Zukunft betreffen, ist, glaube ich, so klar, dass man dafür keiner besonderen Hinweise bedarf. Wie aber stehen wir mit der Angst? Warum haben wir heute, in der Gegenwart, Angst vor etwas, was gestern vorgefallen war? Nur weil zu befürchten ist, dass sich die Sache wiederholt? Wann?
In der Zukunft. Wenn sich dies nicht so verhielte, würden wir sie beiseite schieben, vielleicht als schlechte Erinnerung, die zwar unsere Stimmung heute noch trüben kann, aber eine Gefahr wäre nicht mehr vorhanden. Oder doch? Wir können planen, was wir tun werden, damit sie sich nicht wiederholt. Aber da ist keine Angst mehr. Höchstens dann, wenn der Zwilling aller Ängste, die Unsicherheit, auftritt. Weiss man sicher, was man zu tun hat, um das Unangenehme zu vermeiden, hört jede Angst sofort auf.
Aber haben wir die Hoffnung nicht zu schnell erledigt? Ja, natürlich beziehen sich alle unsere Hoffnungen auf die Zukunft – aber was hoffen wir? Wir hoffen, dass ein Zustand eintritt, dass ein Ereignis geschieht, was wir möchten, was uns Freude machen würde. Schön, aber woher nehmen wir die Vorstellung dessen, was wir jetzt, in der Gegenwart also, erhoffen? Sie haben es erraten, aus der Vergangenheit. Woher denn sonst? Haben wir eine Alternative? Ja, Offenheit. Die Bereitschaft dazu, zu tun, was noch nicht da war, ein Hinausgehen darüber, was wir kennen, vielleicht sogar uns angewöhnt haben, die Bereitschaft, einen Schritt zu tun, der bereits in ein Unbekanntes führt. Risiko? Oder ist das die Kreativität? Das Schöpferische? Ja, all das zusammen. Eine solche Zukunft ist mehr als ein Raum, in das wir unsere, aus der Vergangenheit stammenden Vorstellungen, eine Verlängerung unserer Vergangenheit hinein projiziert haben. Wir lassen auf einmal zu, dass unsere Zukunft einen eigenen Charakter, ein eigenes Licht, eine eigene Qualität habe.
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- Jan Pohl (Author), 2019, Gedanken zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/459756