Leseprobe
Gliederung
1. Einleitung
1.1 Eingrenzung – Versuch einer Definition
1.2 Literatur und Journalismus als Systeme
2. Hintergründe
2.1 Geschichtliche und Gesellschaftliche Entwicklung
2.2 Selbstverständnis der neuen Autoren
2.2.1 Emotionalität durch Recherche
2.2.2 Szenen statt Fakten
2.2.3 Fokussierung der Unbekannten
3. Methodik – New Journalism als Grenzgänger zwischen Journalismus und Literatur
3.1 Techniken des New Journalism
3.2 Themen des New Journalism
3.3 Darstellungsformen des New Journalism
4. Kritische Betrachtung
4.1 Ideologiekriege
4.2 Fakt oder Fiktion
5. Schlussbemerkungen
6. Quellennachweis
1. Einleitung
Um zu verhindern, dass sich seine Leser langweilten, sei ihm jedes Mittel recht, soll der Autor Tom Wolfe einmal freimütig zugegeben haben. Der Amerikaner gilt als Wegbereiter für den New Journalism – einer journalistisch-literarischen Strömung, die in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den USA für Aufsehen sorgte.
Junge Journalisten und Journalistinnen verwarfen die strikte Trennung von Fakten und Fiktion als oberste Priorität ihrer Arbeit. Sie betrachteten das recherchierte Material über tatsächliche Ereignisse zwar als Ausgangspunkt für die journalistische Darstellung. Dieses reicherten sie jedoch mit Techniken an, die sie der Literatur entnahmen: dialogisches Erzählen, Konstruktion von Szenen, Darstellung von Gedankenfolgen u.a..
In ihrer Art zu schreiben wollten die aufstrebenden Autoren nicht nur näher am Geschehnis dran sein. Sie definierten für sich auch eine neue Sprache, die das Erlebte wiedergeben konnten. New Journalism, der den Szenejargon nicht scheute, gab so den neu entstandenen Magazinen wie „Rolling Stone“ oder „New Yorker“ Farbe, Atmosphäre und authentische Erfahrung statt steriler Fakten.
Die Proteste etablierter Journalisten und Literaten blieben nicht aus. „Ruthless“, „reckless“, „fahrlässig“ und „leichtsinnig“ waren die markigen Kommentare für den Grenzgänger, die zudem eine Diskussion über den Objektivitätsbegriff im Journalismus entfachten.
Das Ziel der folgenden Arbeit ist die kritische Betrachtung des Phänomens New Journalism und der Frage, inwieweit diese Richtung ihrer selbstgestellten Aufgabe gerecht wurde. Es soll beleuchtet werden, welche Mittel eingesetzt wurden und weshalb es der New Journalism nicht schaffte, sich dauerhaft zu etablieren. Im ersten Teil soll eine Definition des New Journalism erarbeitet werden. Ferner werden die Ursachen für die Entstehung und Entwicklung dieses Berichterstattungsstils im amerikanischen Mediensystem analysiert. Der dritte Abschnitt umreißt die Techniken und Themen, denen sich der New Journalism zuwandte, um darauf aufbauend die kritischen Aspekte zu diskutieren.
1.1 Definition – Versuch einer Eingrenzung
Der Begriff New Journalism kann nicht eindeutig auf eine bestimmte Schule des Journalismus angewandt werden. Einige Autoren wie Everette E. Dennis und William L. Rivers verwenden ihn als Sammelbegriff und subsumieren darunter sieben verschiedene Denkschulen, unter anderem The New Nonfiction, Counterculture Journalism und Alternative Broadcasting. Gemeinsam ist diesen Schulen, dass es sich um amerikanische Phänomene handelt, die sich im 20. Jahrhundert entwickelten.
Wissenschaftliche Untersuchungen widmen sich jedoch vorrangig der New Nonfiction, für die der Begriff New Journalism synonym verwendet wird. Auf diese Schule soll der Begriff New Journalism auch in dieser Arbeit eingegrenzt werden.
Ganz allgemein wird er als spezieller Stil des nicht fiktionalen Schreibens gesehen, der in den 60er und 70er Jahren aufkam. Applegate nennt zwei wesentliche Stilelemente: Detailgenauigkeit und Lebensnähe.[1] Noch genauer definiert James E. Murphy die Besonderheiten des New Journalism, nämlich als „künstlerische, kreative, literarische Berichterstattung“, die durch drei wesentliche Eigenschaften geprägt sei: „dramatic literary techniques, intensive reporting, and reporting of generally acknowledged subjectivity…“[2]
Bezug nehmend auf den traditionellen Journalismus, der sich in den USA im 20. Jahrhundert fest etabliert hatte, sieht R.Thomas Berner in New Journalism ein Produkt zweier Systeme: „the marriage of depth reporting and literary techniques.“
Auch Nicolaus Mill bezeichnet New Journalism als Zwitter, der sich literarische Techniken erneut zunutze macht, in der Absicht den etablierten Journalismus gegen den Strich zu bürsten: „As a practical matter, the New Journalism may take a hybrid form to utilize neglected possibilities of traditional journalism, but the thrust of the New Journalism is in very different direction from that of the old – toward fiction. The structure, the language, the point of view of the new journalism all against the grain of the ordered, objective, detached approach of established reporting.“[3]
Zusammenfassend und wiederum verallgemeinernd kann festgehalten werden, dass New Journalism eine zwischen Literatur und Journalismus angesiedelte Form der Berichterstattung ist, welche Anfang der 60er Jahre in den USA in Mode kam. Fakten werden mit Hilfe literarischer Techniken künstlerisch anspruchsvoll aufbereitet, um so Lebensnähe zu erreichen und Gefühle zu transportieren.
Dabei bemerkt Bus zutreffend, dass nicht die Vermischung von Literatur und Journalistik das eigentlich Neue war, sondern dass einige Journalisten in den 60er Jahren das Verhältnis ihres Metiers zur Literatur neu bestimmt hätten[4]. Um den New Journalism als Schule zwischen Literatur und Journalismus einzuordnen, soll er nach beiden Seiten abgegrenzt werden.
1.2 Literatur und Journalismus als Systeme
Journalismus und Literatur werden oft als gegensätzliche Pole dargestellt. Hier die nüchterne Darstellung der Wirklichkeit auf der Basis von Fakten, auf der anderen Seite ein kreativer Entwurf einer möglichen Wirklichkeit. Doch ganz klar verlaufen die Trennlinien nicht. Hat sich doch der Journalismus aus der Literatur heraus entwickelt: Viele Schriftsteller sind oder waren gleichzeitig Journalisten und umgekehrt, man denke an Mark Twain oder auch Tom Wolfe.
Im Allgemeinen werden unterschiedliche Anforderungen an journalistische und literarische Texte gestellt. Einen journalistischen Text beurteilt man danach wie aktuell, wie relevant, wie verständlich er ist. Literatur soll interessant, spannend, anregend sein.
Vergleicht man Literatur und Journalismus in ähnlicher Weise anhand eines systemtheoretischen Schemata, dann erhält man das Bild von zwei voneinander unabhängigen gesellschaftlichen Systemen, in denen unterschiedliche Codes gelten und die unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen erfüllen.
Die Codes können als Textbewertungskriterien verstanden werden. Als gröbste Unterscheidung schlägt Schmidt für literarische Texte literarisch/nicht-literarisch[5] vor. Andere Systemtheoretiker bieten: interessant/uninteressant, spannend/langweilig, faszinierend/banal an.
Im journalistischen System wird als Unterscheidungskriterium Information/Nichtinformation herangezogen. Niklas Luhmann, auf den die Systemtheorie zurückgeht, stellt fest: „Informationen lassen sich nicht wiederholen; sie werden, sobald sie Ereignis werden, zur Nichtinformation. Eine Nachricht, die ein zweites Mal gebracht wird, behält zwar ihren Sinn, verliert aber ihren Informationswert.“[6]
Da Informationen zentrale Bestandteile journalistischer Texte sind, geht es ihnen wie Luhmann voraussagt: sie sind nur begrenzte Zeit für den Zeitungsleser interessant, bis sich die Nachrichtenlage verändert. Literatur erhebt dagegen den Anspruch allgemeingültige Wahrheiten zu verkünden und auch nach Dekaden und Äonen lesenswert zu sein. Sie ist aus unmittelbaren Situationen gelöst und muss keinen lebenspraktischen Bezug mehr haben.
Aus den unterschiedlichen Anforderungen oder Codes im journalistischen und literarischen System lassen sich verschiedene Funktionen ableiten. Modernem Journalismus schreibt Blöbaum folgende Rolle zu: „aktuelle Selektion und Vermittlung von Informationen zur öffentlichen Kommunikation“[7]. Diese Information sei an eine „sozial verbindliche Wirklichkeit“ gebunden.
Dagegen wird der Literatur von systemtheoretischer Seite die Funktion zugewiesen, Wirklichkeitsmodelle in der Phantasie zu vervielfachen und Utopie und Kritik vorwegzunehmen.
Eine zentrale Rolle im systemtheoretischen Modell spielt der Beobachter, beziehungsweise was er/sie wie beobachtet. Und wie schon vorher erkennbar, wird die Grenze zwischen Journalismus und Literatur auch hier zwischen faktisch und fiktiv gezogen. Blöbaum schreibt: „Während Fakten der Rohstoff des Journalismus sind, ist die Erzeugung von Fiktionen die Grundlage der Literatur.[8]
Journalismus stützt sich auf Fakten, die intersubjektiv überprüfbare Informationen sind. Schon ein Quäntchen Fiktion entwertet den Journalismus – wie das Beispiel Janet Cook zeigt[9]. Die Journalistin der New York Times musste den Pulitzer Preis zurückgeben, nachdem bekannt wurde, dass der Protagonist ihrer gründlich recherchierten Reportage über drogensüchtige Kinder, ein fiktives Konglomerat dreier lebender Personen war. Hätte sie den Text nachrichtlich geschrieben, wäre das wahrscheinlich nicht weiter aufgefallen, dann hätten nicht Tausende am Schicksal des achtjährigen Junkies Anteil genommen. Aber die emphatische Schilderung des Drogenmilieus zog die Leser in den Bann.
New Journalism soll laut seiner Vertreter ausschließlich faktenbasiert sein. Die gründliche Recherche, so der Anspruch der New Journalists, soll eine hieb- und stichfeste Basis für den Text liefern, dessen Faszination auch darauf beruht, dass „the reader knows all this happened“.[10] Weil die Grundlage ausschließlich Fakten sind, kann New Journalism aus systemtheoretischer Sicht und auch dem anfänglichen Selbstverständnis seiner Autoren/innen entsprechend als Berichterstattungsmuster des Journalismus verstanden werden.
[...]
[1] Applegate, Edd (1996): Literary Journalism: A Biographical Dictionary of Writers and Editors, S. XIV.
[2] ebd.
[3] ebd.
[4] Bus,Heiner: Der U.S.-amerikanische New Journalism der 60er und 70er Jahre, In: Blöbaum, Bernd/ Stefan Neuhaus (Hrsg.): Literatur und Journalismus. Theorie, Kontexte, Fallstudien, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2003, S. 277.
[5] Blöbaum, Bernd: Literatur und Journalismus. Zur Struktur und zum Verhältnis von zwei Systemen, In: Blöbaum, Bernd/ Stefan Neuhaus (Hrsg.): Literatur und Journalismus. Theorie, Kontexte, Fallstudien, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2003, S. 28.
[6] ebd., S. 25.
[7] ebd., S. 28.
[8] ebd. S 28.
[9] Schröder, Burkhard: Der Fake-Journalismus, unter http://www.heise.de/tp/r4/artikel/14/14796/1.html, vom 14.4.2005
[10] Bus, S. 280.