Geistige Entwicklung des Menschen - von der Geburt bis zum Erwachsenenalter


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

34 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Die vier Stufen der Entwicklung
i. Die geistige Entwicklung aus der Sicht Jean Piagets
ii. Die geistige Entwicklung nach Robbie Case

II. Die Entwicklung im Säuglingsalter

III. Die Entwicklung in der frühen Kindheit
i. Die Entwicklung räumlicher Kontrollstrukturen
ii. Die Entwicklung sozialer Kontrollstrukturen
iii. Die Entwicklung sprachlicher Kontrollstrukturen und Kontrollstrukturen in anderen Bereichen

IV. Die Entwicklung in der mittleren Kindheit
i. Die dimensionalen Konzepten im Bereich des naturwissenschaftlichen Denkens,
ii. Die dimensionalen Konzepten im Bereich sozialer Kognition und
iii. Die dimensionalen Konzepten im Bereich der Raumvorstellung

V. Die Entwicklung in der Adoleszenz
i. Das Auftreten vektorialer Operationen im kausalen Denken,
ii. Die Erscheinung vektorialer Operationen im verbalen Denken, das Auftreten vektorialer Operationen im räumlichen Denken und die Verwendung vektorialer Operationen im sozialen Denken

VI. Die Entwicklung im Erwachsenenalter und Alter
i. Altern vor dem Hintergrund verschiedener Perspektiven und Modelle
ii. Subjektive Theorien der Entwicklung im mittleren und höheren Erwachsenenalter

VII. Geistige Entwicklung und Erziehung
i. Piagets Perspektive
ii. Bruners Perspektive
iii. Die Informationsverarbeitungs-Perspektive
iv. Die Unterrichts- und Curriculumtheorie nach Robbie Case

VIII. Die Bedeutung von Medien für die geistige Entwicklung von Kindern

IX. Entwicklung schulischer Leistungen

X. Entwicklung von des begrifflichen Wissens, des Problemlösens und des Gedächtnisses
i. Begrifflicher Repräsentationen
ii. Repräsentationale Entwicklung
iii. Wissensentwicklung in den grundlegenden Domänen

iv. Entwicklung des Gedächtnisses

Literaturverzeichnis

Die geistige Entwicklung des Menschen vom Zeitpunkt seiner Geburt bis hin zum höheren Erwachsenenalter besitzt verschiedene Facetten und ist aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Der erste Teil dieser Zusammenfassung stellt in vergleichender Form die Entwicklungstheorien von Jean Piaget und Robbie Case dar, wobei die Ansätze von Robbie Case ausführlicher und genauer beschrieben werden. Allerdings schließt diese Erörterung nicht mit dem Erreichen des letzten Entwicklungsstadiums, sondern erweitert diese Betrachtungen der geistigen Entwicklung bis hin zum höheren Erwachsenenalter. Der zweite Teil beschäftigt sich anschließend mit weiteren Faktoren die bezüglich der geistigen Entwicklung des Menschen eine zentrale Rolle spielen. Konkret wird dabei eingegangen auf die Zusammenhänge zwischen geistiger Entwicklung und Erziehung, wobei hier die schulische Erziehung im Vordergrund steht. Ebenso gilt es auch die Bedeutung der Medien zu berücksichtigen sowie die Entwicklung schulischer Leistung. Gegen Ende der Zusammenfassung wird im Überblick die Entwicklung des begrifflichen Wissens, des Problemlösens und des Gedächtnisses vorgestellt. Allgemein sollen die zentralen Themen des Seminars „Die geistige Entwicklung des Menschen – von der Geburt bis zum Erwachsenenalter-„ noch einmal in zusammenfassender Art und Weise präsentiert werden.

I. Die vier Stufen der Entwicklung

Ein allgemeiner Überblick

i. Die geistige Entwicklung aus der Sicht Jean Piagets

Die stadienabhängige Theorie von Jean Piaget beschreibt die geistige Entwicklung in einem vierstufigen Modell. Neben dieser stadienabhängigen Entwicklung wird kognitives menschliches Verhalten auch von vier weiteren Faktoren beeinflusst. Zu nennen sind hier:

(1) die Reifung körperlicher Vorgänge, wie zum Beispiel die Differenzierung des Nervensystems,
(2) die Erfahrung, d.h. die körperliche Interaktion mit der physischen Umwelt,
(3) der Einfluss der sozialen Umwelt, die soziale Vermittlung, da aufgrund von Erziehung und Versorgung der Art der Erfahrung, die ein Mensch sammelt, beeinflusst wird und
(4) die Äquilibration (Selbstregulation).

Die Äquilibration versteht Piaget als „das überragende Prinzip geistiger Entwicklung, durch welches das geistige Wachstum zu immer komplexeren und stabileren Organisationsniveaus fortschreitet.“(Piaget, J., 2003). Kognitive Funktionen bedeuten für Piaget eine Ausweitung organischer Abläufe. Somit stellen sie ein Mittel dar, um die äußere Welt und den Bezug zu ihr zu beeinflussen. Zentrale Rollen der kognitiven Entwicklung spielen die Prozesse der Assimilation und der Akkommodation. Assimilation beschreibt einen Prozess, bei dem ein Ereignis in Begriffen zurückliegender bzw. interner Erfahrungen erfasst wird. Anders formuliert bedeutet Assimilation das Verstehen des Neuen aufgrund des bereits bekannten. Neues Wissen wird dem bereits bestehenden Wissen angepasst. Umgekehrt geschieht es bei dem Prozess der Akkommodation. Dieser Prozess beinhaltet die Angleichung bzw. Änderung früherer Konzepte entsprechend aktueller Ereignisse bzw. externer Umweltfaktoren. Somit bedeutet Akkommodation, dass neues Wissen dazu führt, dass das frühere Verständnis geändert wird. Diese kognitiven Prozesse verlaufen stadienunabhängig. Sie sind somit eher biologisch bedingt, da sie durch die zunehmend bessere Repräsentation der Umwelt beeinflusst werden. Dadurch erlangt der Mensch auch Erkenntnisse über seine Umwelt, wobei diese Erkenntnis primär durch Interaktionen und durch Konstruktionen geschieht, also dadurch dass der Mensch in Wechselbeziehungen mit seiner Umwelt tritt, und dadurch dass er kontinuierlich neue Informationen mit bereits vorhandenen Informationen vergleicht. Hinsichtlich seiner stadienabhängigen Theorie versteht Piaget die geistige Entwicklung als eine zunehmende Verbesserung kognitiver Strukturen und Operationen. Diese Veränderungen erfolgen in invarianten Sequenzen, d.h. es findet eine forschreitende Veränderung statt in der Art, wie Kinder Informationen organisieren, wobei diese Veränderungen in Form von Stufen bzw. Stadien charakterisiert werden können. Diese Stadien basieren auf zwei Aspekten der Kognition. Zum einen der Struktur, also wie das Kind Objekte oder Ereignisse repräsentiert und zum anderen auf Operationen, also wie das Kind mit diesen Repräsentationen umgehen kann. Die Stadien lassen sich wie folgt darstellen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Altersangaben sind durchschnittliche Richtlinien mit individuellen Schwankungen. Die Reihenfolge der Stadien bedingt zunehmend bessere kognitive Strukturen und anspruchsvollere Operationen, allerdings sieht Piaget diese Reihenfolge als notwendig an; d.h. es kann kein Stadium übersprungen oder vorgezogen werden. Somit erlangt ein Kind mit fortschreitendem Stadium geistige Fähigkeiten, die darin bestehen, dass es immer komplexer werdende geistige Operationen durchführen kann. Diese Operationen sieht Piaget ebenso wie Interaktionen mit der Umwelt als wesentliche Voraussetzungen, um Erkenntnisse zu gewinnen. Wenn das Stadium der formalen Operationen durchlaufen ist, so besitzt der Mensch die Fähigkeit, in systematischer Weise über die gegebenen Informationen hinauszugehen und das real Beobachtete als einen unter vielen Fällen zu erkennen.

Allerdings ist anzumerken, dass diese Stadientheorie auch Kritikpunkte aufweist. Erstens, weil sie das Entwicklungsgeschehen innerhalb der Stadien einheitlicher erscheinen lässt, als dies tatsächlich der Fall ist. Zweitens, weil es sich um eine bloße Beschreibung von Entwicklungsphänomenen handelt, ohne dass die Bedingungen des Auftretens überprüft werden und drittens, weil insgesamt der falsche Eindruck entsteht, geistige Entwicklung sei vorprogrammiert und vollziehe sich planmäßig und zeitgerecht. Diese Kritik wurde von Robbie Case aufgegriffen. Er korrigiert Piagets Vorstellungen.

IV. Stadium der formalen Operationen

(ab 11 Jahren)

- hypothetisches abstraktes Denken

- Verständnis von Proportionen

ii. Die geistige Entwicklung nach Robbie Case

Die von Robbie Case entwickelte Theorie wiederholt Ideen Piagets als Ausgangspunkt, allerdings unterscheidet sie sich hinsichtlich der Struktur der „Stadien“ und deren Inhalte. Case spricht von Kontrollstrukturen, die sich im Verlauf der kognitiven Entwicklung ausbauen, und die mit zunehmendem Alter an Komplexität gewinnen. Konkret zu nennen sind hierbei:

- Sensu-motorische Kontrollstrukturen (Kleinkindheit, 0-1,5 Jahre)
- Relationale Kontrollstrukturen (Frühe Kindheit, 1-5 Jahre)
- Dimensionale Kontrollstrukturen (Mittlere Kindheit, 3,5-11 Jahre)
- Abstrakte/Vektorielle Kontrollstrukturen (Adoleszenz 9-18 Jahre)

Hinsichtlich der Stufen bzw. Substufen, wie er sie nennt, trifft Case stets folgende Unterscheidung. Zunächst existiert eine einleitende Substufe, Substufe 0, in der grundlegende Operationen konsolidiert werden. Daher spricht man im Alter von 1 bis 1 ½ Jahren von der Stufe der operationalen Konsolidierung. Ihr folgt ein qualitativer Wechsel, dadurch dass zwei Operationen miteinander koordiniert werden können. Diese Leistung vollzieht sich zwischen 1 ½ und 2 Jahren, der Substufe 1 der operationalen Koordination. In Substufe 2 (2 bis 3 ½ Jahre) ereignet sich ein weiterer Fortschritt, währenddessen diese Strukturen zunächst bifokal werden, daher die Bezeichnung dieser Substufe als Stufe der bifokalen Koordination, und dann schließlich in Substufe 3 (3 ½ bis 5 Jahre) stärker elaboriert werden. Daher die Bezeichnung dieser letzten Substufe als Stufe der elaborierten Koordination . Dieses Grundmuster der Substufenabfolge bleibt stets erhalten. Was dies konkret für die geistige Entwicklung vom Säuglingsalter bis hin zur geistigen Entwicklung im Jugendalter bedeutet, soll im Folgenden näher vorgestellt werden.

II. Die Entwicklung im Säuglingsalter:

Grundlagen des Denkens und der Sprache

Vom ersten Lebensmonat bis zum 18. ist bei Kindern die Entwicklung verschiedener Fähigkeiten zu beobachten, die im Folgenden unter zwei Hauptbegriffen zusammengefasst werden. Zum einen Fähigkeiten im Hinblick auf die Interaktion mit unbelebten Objekten, hierunter fallen das Erforschen von Objekten in der unmittelbaren Umgebung, das Wiederauffinden von Gegenständen, die aus dem Blickfeld verschwunden sind, sowie das Essen und Trinken. Der zweite Fähigkeitsbereich bezieht auf die Wechselbeziehungen des Säuglings mit anderen Menschen, wie beispielweise nonverbale und verbale Interaktionen, die Vokalisation in sozialer Absicht, die Zuordnung von Bedeutungen zu Worten und schließlich die Produktion eigener Wörter. In den vorherigen Abschnitten wurden bereits die sog. Kontrollstrukturen vorgestellt. Im Säuglingsalter werden nun die sensu-motorischen Kontrollstrukturen nach dem bereits bekannten Muster aufgebaut.

In der Substufe 0, also der Phase zwischen einem und vier Monaten, ist für das Erforschen von Objekten in der unmittelbaren Umgebung charakteristisch, dass der Säugling eher visuell als manuell agiert, d.h. er folgt sich bewegenden Objekten wie etwa einem Ring nicht mit der Hand, sondern lediglich mit seinen Blicken. Diese Fähigkeit entwickelt sich beobachtbar zwischen zwei und drei ein halb Monaten. Während der Säugling im Alter von zwei Monaten sich bewegende Objekte nur auf horizontaler Ebene verfolgen kann, gelingt ihm im Alter von zwei ein halb Monaten bereits auch das Verfolgen auf vertikaler Ebene. Im Alter von 3 ½ Monaten kann er schließlich kreisartige Bewegungen von Objekten visuell verfolgen. Hinsichtlich des Wiederauffindens von Gegenständen ist festzuhalten, dass hier noch keine organisierten Reaktionen stattfinden. Dagegen ist beim Essen und Trinken des Säuglings eine Entwicklung festzustellen, nämlich hinsichtlich des Saugens. Hier findet ein Übergang von reflexmäßiger zu willentlicher Kontrolle statt.

Im Bereich der Wechselbeziehungen mit anderen Menschen sind in der Substufe 0 ebenfalls Fortschritte beobachtbar. Auf nonverbaler Ebene beispielweise kann beobachtet werden, wie Säuglinge auf den Augenkontakt mit einer ihr vertrauten Person mit freudigem Strampeln reagieren und zusätzlich anfangen zu „brabbeln“; d.h. auch auf verbaler Ebene können sich Säuglinge bereits ausdrücken. Wichtig für die Sprachentwicklung ist in dieser Substufe die Entwicklung der Fähigkeit zur Vokalisation. Diese Fähigkeit kann auch auf Grund sozialer Motive eingesetzt werden, in etwa wenn der Säugling Aufmerksamkeit erhalten möchte. Hinsichtlich der Zuordnung von Bedeutungen zu Worten kann gesagt werden, dass sich die Säugling zunächst nach der Lautquelle richten; d.h. sie wenden ihren Kopf in Richtung der Ursache dieses Lautes. Für die Produktion erkennbarer Wörter ist diese Fähigkeit sehr wichtig, da das genaue Zuhören in Zusammenhang steht mit dem Hervorbringen einfacher Laute. In der Substufe 0 lernen die Säuglinge eine Fülle an Vokalfolgen wie beispielweise ah oder ii.

Diese elementaren Fähigkeiten der Substufe 0 werden im Verlauf der Entwicklung des Säuglings bis zum Alter von 18 Monaten konsolidiert, erweitert und immer komplexer. Die Interaktionen mit unbelebten Objekten entwickeln sich in den einzelnen Bereichen wie folgt: Beim Erforschen von Objekten der unmittelbaren Umgebung gelingt dem Säugling zunächst die Koordination zweier willentlicher Handlungen (Substufe 1), während er in der nächsten Phase (Substufe 2) eine willentliche Handlung ausführen und dabei gleichzeitig zwei Objekte im Auge behalten kann. Am Ende der Entwicklung der sensu-motorischen Kontrollstrukturen (Substufe 3) ist ein Verständnis für die Beziehung zwischen zwei Gegenständen entstanden sowie die Erkenntnis der Wirkung verschiedener Handlungsarten auf diese Beziehung. Die Fortschritte im Hinblick auf das Wiederauffinden von Gegenständen äußern sich darin, dass der Säugling erkennt, wo der Gegenstand verschwunden ist und er diesbezüglich auch eine Merkfähigkeit entwickelt (Substufe 1). Daher können sie in der darauffolgenden Phase (Substufe 2) voraussehen, wo ein verschwundener Gegenstand wieder auftauchen wird; nämlich an der Stelle, an der er verschwunden ist. Allerdings fehlt ihnen die Fähigkeit, diese Geschehnisse aktiv zu beeinflussen. An einem konkreten Beispiel illustriert, bedeutet dies, dass Kinder dieser Altersgruppe in der Lage sind, zu verstehen, dass beispielsweise eine Puppe oder ein Ball unter einem Tuch versteckt wurde, sie aber noch nicht in der Lage sind, dieses Tuch zu beseitigen. Diese Einschränkung beruht keineswegs auf dem Fehlen der entsprechenden motorischen Fertigkeiten, sondern lediglich auf der Problematik, ein notwendiges Unterziel (Entfernen des Tuches) zu erkennen und anzusteuern. Diese Fähigkeit entwickelt sich erst in Substufe 3.

Ebenso werden die Fähigkeiten bezüglich der Nahrungsaufnahme differenzierter. Zunächst besteht eine einfache Koordination zwischen dem Greifen nach dem Nahrungsmittel und dem hinführen zum Mund (Substufe 1). In Substufe 2 kann bereits ein weiterer Gegenstand miteinbezogen werden; zum Beispiel der Gebrauch eines Löffels. Hier werden also schon zwei Bewegungen koordiniert. Schließlich erfolgt dieses Greifen nach dem Löffel spontan, um damit das Nahrungsmittel zum Mund hin zu transportieren (Substufe 3).

Die Wechselbeziehungen des Säuglings mit ihm vertrauten Personen werden auf nonverbaler Ebene dadurch erweitert, dass diese nonverbalen Reaktionen mit anderen gut unterscheidbaren Reaktionsformen koordiniert werden können (Substufe 1) Dies kann sich beispielweise so gestalten, dass ein Säugling die Arme der Mutter entgegenstreckt, um deren Aufmerksamkeit zu erlangen, und anschließend als Reaktion auf die Aufmerksamkeit der Mutter, zu lachen beginnt. Bemerkenswert hierbei ist, dass die Säugling schon in der Lage sind, eine Handlung als Mittel einzusetzen. In Substufe 2 der nonverbalen Interaktion findet eine Integration statt, und zwar werden die Fähigkeiten aus dem Bereich der Interaktion mit unbelebten Objekten eingesetzt, um eine nonverbale Kommunikation zu gestalten. Beobachtbar ist dies beispielweise, wenn ein Säugling nach einem Gegenstand greift und ihn dann seiner Mutter darreicht und lächelt. Diese Verknüpfung der zwei Interaktionsformen wird durch das Imitieren erweitert (Substufe 3). Die Kleinkinder fangen an, Handlungen ihrer Eltern zu imitieren und erlernen auf diese Art und Weise spielerisch den Umgang mit Gegenständen. Auch bei der verbalen Interaktion ist zunächst der Wunsch nach Aufmerksamkeit von Seiten der Mutter oder einer anderen vertrauten Person ausschlaggebender Impuls für das Erlernen neuer Fähigkeiten. Die Vokalisation wird hier ebenfalls als Mittel eingesetzt, um die gewünschte Aufmerksamkeit zu erhalten. Der Säugling beginnt zu schreien (Substufe 1). Dieses Mittel wird in Verbindung mit einer motorischen Ausführung dazu genutzt, Gegenstände außerhalb der persönlichen Reichweite zu erlangen (Substufe 2) und schließlich weiterentwickelt, indem der begehrte Gegenstand konkret benannt werden kann (Substufe 3). Ebenso verhält es sich mit der Vokalisation in sozialer Absicht. Bei der Zuordnung der Bedeutungen von Worten erlernt der Säugling zunächst Lautmuster (Substufe 1). In Substufe 2 verfolgt der Säugling die Blicke der Mutter; d.h. er fixiert ein von der Mutter ausgemachtes Objekt, und kodiert Elemente des wahrgenommenen Hörmusters. Hinsichtlich der Produktion erkennbarer Wörter wird dieses Wahrnehmen, Zuhören und Kodieren mit einer zusätzlichen Lautproduktion verbunden, indem der Säugling das wahrgenommene Hörmuster versucht, zu wiederholen (Substufe 1). In Substufe 2 können Kleinkinder bereits Zwei-Silben-Äußerungen erzeugen, allerdings noch keine neuen Äußerungen der Erwachsenen imitieren. Diese Fähigkeit zur Imitation erwerben sie erst in Substufe 3.

Somit ist das Kleinkind im Alter von 18 Monaten mit einem Grundgerüst an Fähigkeiten ausgestattet, das ihm die Interaktion mit seiner Umwelt ermöglicht.

III. Die Entwicklung in der frühen Kindheit:

Das fehlende Glied zwischen sensu-motorischen und logischen Operationen

Im Alter von 1 bis 5 Jahren erwerben Kinder neben ihren sensu-motorischen Fähigkeiten auch ein Verständnis für den Umgang mit Relationen. Daher ist die frühe Kindheit gekennzeichnet durch die Entwicklung relationaler Kontrollstrukturen, die sowohl in räumlicher und sozialer als auch in sprachlicher und „mathematischer“ Hinsicht entstehen. Dabei gilt wie bereits in vorherigen Abschnitten erwähnt, dass eine einleitende Substufe existiert (Substufe 0), in der die relevanten relationalen Operationen konsolidiert werden. Ihr folgt ein qualitativer Wechsel, dadurch dass zwei verschieden relationale Operationen miteinander koordiniert werden können, um eine interrelationale Struktur zu bilden. Diese Leistung vollzieht sich zwischen 1 ½ und 2 Jahren, der Substufe 1 der operationalen Koordination. In Substufe 2 (2 bis 3 ½ Jahre) ereignet sich ein weiterer Fortschritt, währenddessen diese Strukturen zunächst bifokal werden und dann schließlich in Substufe 3 (3 ½ bis 5 Jahre) stärker elaboriert werden. Was dies für die oben bereits erwähnten Bereiche konkret bedeutet, wird im Folgenden kurz vorgestellt.

i. Die Entwicklung räumlicher Kontrollstrukturen

Das kindliche Verständnis für relationale Beziehungen in räumlicher Hinsicht lässt sich an hand zweier Vorgehensweisen gut beobachten. Zum einen beim Zeichnen von Figuren und zum anderen beim Bauen mit Klötzen. Aufgaben hierzu lassen sich spielerisch gestalten, indem die Kinder gebeten werden, geometrische Muster nachzuzeichnen oder nachzubauen. Solche Aufgaben stellen somit die universalste Art des räumlichen Spiels dar und dienen dem Erwerb von Kenntnissen über einfache räumliche Beziehungen. Im Folgenden werden die Fortschritte der Kinder bezüglich des Zeichnens von Figuren innerhalb der vier Substufen vorgestellt.

Während man das Zeichnen von Kinder im Alter von 1 bis 1 ½ Jahren vorwiegend als ein unkoordiniertes Kritzeln auf Papier beschreiben kann, sind sie im Alter von 3 ½ bis 5 Jahren schon in der Lage, Mandalas oder ähnlich komplexe Muster nachzuzeichnen. Die geistige Entwicklung zum Verständnis von Relationen kann hier quasi auf dem Papier verfolgt werden. In der ersten Substufe erbringen Kinder diesbezüglich Leistungen, die lediglich eine einzige Beziehung erfordern. Im Fall des Zeichnens die Beziehung Stift – Papieroberfläche. Substufe 0 ist somit durch den Erwerb elementarster Leistungen gekennzeichnet. In der zweiten Substufe, Substufe 1, können Kinder bereits eine senkrechte Linie auf einem Blatt zeichnen; d.h. die kindliche Leistungsfähigkeit hat sich deutlich verändert. Anstatt den Bleistift mit eher grober Motorik über das Papier zu führen, beginnen die Kinder nun allmählich, ihre eigenen Bewegungen zu beobachten und zu überprüfen. Ihre Konzentration gilt nun zwei Beziehungen, die sie aufeinander abstimmen müssen. Die erste Beziehung beachtet das Verhältnis Linie und Kante des Papiers, und erst an zweiter Stelle wird die Beziehung Bleistift – Papier miteinbezogen. Die zweite Beziehung stellt somit ein untergeordnetes Ziel dar. Am Ende entsteht somit eine senkrechte Linie auf dem Papier. In der dritten Stufe, der Substufe 2, können Kinder nicht nur zwei Beziehungen koordinieren; sie können sich auch gleichzeitig auf zwei Beziehungen konzentrieren. Beispielweise können sie in dieser Stufe schon ein Kreuz malen. Die letzte Stufe, Substufe 3, erweitert diese Fähigkeiten, so dass weitere Elemente zusätzlich integriert werden können.

ii. Die Entwicklung sozialer Kontrollstrukturen

In dem Zeitraum, in dem Kinder den Umgang mit den räumlichen und mechanischen Strukturen kennen lernen, begreifen sie auch viele soziale Beziehungen. Im Hinblick auf soziale Interaktionen und Rollenübernahmen dient zunächst die Imitation als charakteristische Vorgehensweise. Beispielweise beobachten Kinder, wie ihre Eltern einen Gegenstand benutzen und ahmen dies dann nach. Dadurch entstehen objektzentrierte Wechselbeziehungen, wodurch Kinder die Funktionen verschiedener Gegenstände in ihrer Umwelt kennen lernen. Diese Aktivitäten sind häufig mit dem Austausch von Blicken und Gefühlen verbunden. Die Formen der Interaktionen mit der sozialen Umwelt werden zunehmend komplexer, da die Fähigkeit erworben wird, sich gleichzeitig auf mehrere soziale Interaktionen zu konzentrieren. Es entsteht ein Verständnis für Rollenmerkmale, woraus sich dann in der letzten Substufe die Fähigkeit entwickelt, eine bestimmte Rolle zu übernehmen und die damit verbundenen Handlungen angemessen auszuführen. Kinder erlangen somit grundlegende Einsichten in die Art und Weise, wie sich Verhaltensrollen gegenseitig ergänzen. Sie erkennen soziale Wechselspiele.

Ebenso so wichtig für das Verstehen der sozialen Umwelt ist die Fähigkeit, Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen und zu beeinflussen. Auch hier lassen sich Unterschiede zwischen dem ersten und dem fünften Lebensjahr beobachten. Während Kinder, die sich in der ersten Substufe befinden, also Kinder im Alter zwischen 1 bis 1 ½ Jahren, sich lediglich auf eine Relation konzentrieren können, die den augenblicklichen Gefühlszustand eines anderen Menschen beeinflusst, sind Kinder ab dem Alter von 3 ½ Jahren in der Lage zu erkennen, wie die Handlungen anderer Personen miteinander verflochten sind. Dieses Wissen können sie auch anwenden, um einfache Veränderungen des Gefühlszustandes anderer zu erreichen. Die frühe Kindheit liefert somit die Grundlage für einen sensiblen Umgang mit anderen Menschen.

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Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Geistige Entwicklung des Menschen - von der Geburt bis zum Erwachsenenalter
Hochschule
Universität des Saarlandes  (Lehrstuhl Erziehungswissenschaft)
Veranstaltung
Geistige Entwicklung des Menschen
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
34
Katalognummer
V46112
ISBN (eBook)
9783638433785
Dateigröße
467 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit vermittelt einen umfangreichen Überblick über die von Jean Piaget entwickelte Theorie der geistigen Entwicklung des Menschen. Berücksichtigt wurde hierbei vor allem die Theorie von Robbie Case, der ein Schüler Piagets war.
Schlagworte
Geistige, Entwicklung, Menschen, Geburt, Erwachsenenalter, Geistige, Entwicklung, Menschen
Arbeit zitieren
Manuela Leidinger (Autor:in), 2004, Geistige Entwicklung des Menschen - von der Geburt bis zum Erwachsenenalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46112

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