Zerstörtes Weltvertrauen bei Jean Améry


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

33 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Torturerfahrungen

2. Exilerfahrungen

3. Lagerefahrungen
3.1 Primo Levis Ist das ein Mensch?
3.2 Nico Rosts Goethe in Dachau

4.Ressentiments

5.Die Rolle des Judeseins

Literaturverzeichnis

Einleitung

Der Ausgangspunkt für jegliche Analyse des Werks von Jean Améry ist meiner Ansicht nach ein Blick auf die Grundessenz seiner Essays. Durch die Essays zieht sich wie ein roter Faden Amérys Beschreibung seines “zerstörten Weltvertrauens”. Der Grund, warum sich für Améry ein Vertrauen in die Welt als eine Unmöglichkeit darstellte, liegt vor allem in seinen Holocaust-Erfahrungen. Das Gelebte, d.h das eigens Erlebte (le vecu) ist bei Améry überhaupt die Basis für seine schriftstellerische Auseinandersetzung mit der Holocaust-Problematik.[1] Seine Aufgabe sieht er darin, für alle Beteiligten des Holocausts, also sowohl für die Täter als auch für die Opfer, eine möglichst scharfe Analyse der Geschehnisse zu liefern. Dadurch, daß er selbst den Holocaust in seiner ganzen Grausamkeit erfahren hat (Exil, Verhaftung, Folter, Auschwitz-Aufenthalt), ist Améry geradezu priviligiert, über die Ereignisse zu berichten. Améry begnügt sich jedoch nicht mit einer einseitigen Schuldzuweisung, seine Absicht liegt vielmehr in einer möglichst trennscharfen Deskription der unterschiedlichen Erfahrungen.

Als zentrales Werk in Amérys Oeuvre muß sicherlich der Essayband Jenseits von Schuld und Sühne – Bewältigungsversuche eines Überwältigten angesehen werden. Hierin werden genau diejenigen Erfahrungen essaystisch verarbeitet, die Amérys Leben und Schreiben so einschneidend beeinflußt haben. Der Essay An den Grenzen des Geistes reflektiert die Lagerrealität eines Intellektuellen in Auschwitz. Er kann sicherlich als das Herzstück des Essaybandes bezeichnet werden. Améry schildert hier eine Grenzsituation, vielleicht die Grenzsituation des geistigen Menschen überhaupt, und beschäftigt sich mit der Frage, wann und wie die Voraussetzung für ein geistiges Leben zerstört werden kann. Améry gelangt in diesem Essay zu der Erkenntnis, daß vor allem die Grenzsituation dazu geschaffen ist, wichtige Erkenntnisse über die Natur des Menschen zu gewinnen und ihm sogar einen Zuwachs an persönlicher Charakterentfaltung verschaffen kann:

Lehr- und Wanderjahre durch die Lager können zum unverlierbaren Besitz werden, dort und freilich nur dort, wo ein Mensch seine Erinnerungsbürde nicht nur als quälende Last verspürt, sondern sie zum Teil seiner Person macht und in seiner Person transformiert.[2]

Dieser Abschnitt verdeutlicht, daß Améry die Extremsituationen, die er durchlitten hat, in positiver Weise als charakterbildend verstehen möchte, eine Verdrängung kommt für ihn nicht in Frage.

In Die Tortur berichtet Amery von den Marterqualen der Folter, die er als Essenz des Nationalsozialismus zu erkennen glaubt. Auch hier dienen ihm persönliche Erfahrungen als Ausgangspunkt für theoretische Erkenntnisse. In Wieviel Heimat braucht der Mensch? untersucht Améry den Heimatbegriff. Heimat wird hier nicht in einem volkstümlichen Sinne definiert, sondern als Grundkonstitution für ein würdiges Zusammenleben von Subjekt und Gesellschaft. Wird dem Menschen seine Heimat entzogen, wie dies den Opfern und Verfolgten des Holocausts geschah, so entschwinden ihm alle persönlichen Bezugspunkte. Als Beispiel läßt sich etwa der Sprachverlußt der Exilierten, die ihrer Heimat im wortwörtlichen Sinne beraubt wurden, anführen.

Der Essay Ressentiments handelt von den unüberwindbaren Schranken, die zwischen Opfern und Tätern als Folge der Holocaust-Ereignisse bestehen bleiben müssen. Das Ressentiment sieht Améry hier als eine unüberwindbare Einstellung des Opfers in der Nachkriegszeit, von übereilten Versöhnungsgesten möchte er sich deutlich distanzieren. Sein Ziel ist, durch Ressentiments bei den Deutschen ein Geschichtsbewußtsein zu erzeugen, welches die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur genauso einschließt wie das Gedenken an die deutschen Dichter und Denker. In Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein analysiert Améry schließlich, inwiefern das Erlebte zu einer schizophrenen Identität führen kann. Améry, der sich weder religiös noch durch Sozialisation als Jude begreift, wird eine Rolle des Judeseins aufgezwungen. Er selbst löst diesen Widerspruch, indem er sich der moralischen Verantwortung stellt, als Jude begriffen zu werden.

Meine Aufgabe besteht nun darin, diese Themen in ihrem Zusammenhang darzustellen. Als Oberbegriff, der das Ausmaß der Thematiken trefflich zusammenfaßt, mag Amérys zerstörtes Weltvertrauen fungieren. Der Hinweis auf zwei andere Autoren der Holocaust-Literatur, Primo Levi und Nico Rost, erscheint fruchtbar, da es in hohem Maße unterschiedliche literarische Verarbeitungsweisen der Grenzsituation des 20. Jahrhunderts gibt. Bei Nico Rost etwa lassen sich ganz andere Schilderungen des persönlichen Umgangs mit Lagererlebnissen finden, auch wenn beachtet werden muß, daß Rost nicht in Auschwitz sondern in Dachau inhaftiert war.

1. Torturerfahrungen

Wie versteht Améry zerstörtes Weltvertrauen im einzelnen? In seinem Essay Die Tortur versucht Améry das Wesen der Tortur ausfindig zu machen. Er beschreibt hierin seine eigenen Erfahrungen mit Folter, welcher er in einem belgischen Lager (Fort Breendonk zwischen Brüssel und Antwerpen) ausgesetzt war. Besonders stichhaltig ist seine Analyse des ersten Schlags: “Der erste Schlag bringt dem Inhaftierten zu Bewußtsein, daß er hilflos ist – und damit enthält er alles Spätere schon im Keime.”[3] Der erste Schlag wird damit als das wahre Wesen der Tortur, als die Vergewisserung von Möglichkeiten (das Spätere) expliziert. Und so folgert Améry dann auch: “Folter und Tod in der Zelle (...) werden beim ersten Schlag als Möglichkeiten, ja als Gewißheiten vorgespürt.”[4] Verlust der Menschenwürde ist für Améry nun ein zu schwacher und schwammiger Begriff, um die Hilflosigkeit des Gemarterten auf den Punkt zu bringen. Menschenwürde sei ein Begriff, der, je nach der persönlichen Anschauung, eine sehr individuelle Ausprägung habe. Ein besserer Begriff ist für Améry das Weltvertrauen, welches dem Gefolterten verlustig gehe. Wie ist dieser Verlust des Weltvertrauens nun gekennzeichnet?[5] Améry stellt fest, daß zum Begriff des Weltvertrauens unterschiedliche Aspekte zählen, zum einen der Glaube an logische Gesetzmäßigkeiten (Kausalität, Induktionschluß), zum anderen, und in diesem Zusammenhang von größerer Bedeutung, “die Gewißheit, daß der andere auf Grund von geschriebenen oder ungeschriebenen Sozialkontrakten mich schont, genauer gesagt, daß er meinen physischen und damit auch metaphysischen Bestand respektiert.” Diese Dimension des Weltvertrauens wird nun schon beim ersten Schlag in der Tortur völlig ad absurdum geführt, da der Gemarterte seinen Peinigern völlig hilflos ausgeliefert ist. Mitmenschen werden so zu Gegenmenschen. Sie können mit ihm anstellen, wozu sie gerade Lust haben, Hoffnung auf Rettung oder Gegenwehr kann für den Gemarterten nur eine Illusion bleiben. Gerade aber in der Hilfserwartung sieht Améry ein psychisches Konstitutionselement des Menschen, welches von größerer Bedeutung sei als etwa der anti-soziale Kampf ums Dasein:

In nahezu allen Lebenslagen wird die körperliche Versehrung zusammen mit der Hilfserwartung empfunden: jene erfährt Ausgleich durch diese. Mit dem ersten Schlag der Polizeifaust aber, gegen den es keine Wehr geben kann und den keine helfende Hand parieren wird, endigt ein Teil unseres Lebens und ist niemals zu erwecken.[6]

Die psychologische Befindlichkeit des Gefolterten zum Zeitpunkt des ersten Schlags ist also diejenige einer hilflosen Kreatur, die außerhalb von gesellschaftlichen Normen in einem wehrlosen, der feindlichen Umgebung hilflos ausgesetzten Zustand der Körperlichkeit vegetiert. Auch wenn die erste Prügel vom physischen Standpunkt weitestgehend verkraftbar ist, da “der existentielle Schreck des ersten Schlags schnell verfliegt und psychischer Raum frei bleibt für eine Anzahl von praktischen Überlegungen”[7], so bleibt doch der erste Schlag gleichbedeutend mit dem eingangs erwähnten Verlust des Weltvertrauens. Der erste Schlag ist nun noch keinesfalls Bestandteil der späteren Tortur, er enthält jedoch alle wesentlichen Elemente der Tortur.

Die Tortur als solche bezeichnet Améry als die Essenz des Nationalsozialismus. Obwohl auch in anderen Unrechtsregimen und zu anderen Zeiten gefoltert wurde, gibt es nach Améry kein Beispiel für ein Regime, das die Tortur so systematisch einsetzte. Dies begründet er zunächst mit der unmenschlichen Ideologie, die alle humanistischen Werte für einen Anhänger des NS-Regimes in ihr menschenverachtendes Gegenteil umkehrte, da sie seiner Identität als Anhänger des Systems ansonsten abträglich wäre. In der Folter sieht Améry die Vergöttlichung (Apotheose) der Nazis:

Der Hitlergefolgsmann gelangte noch nicht zu seiner vollen Identität, wenn er nur flink war wie ein Wiesel, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl. (...) Er mußte foltern, um “groß zu sein im Ertragen von Leiden anderer”.[8]

Améry läßt an dieser Stelle nicht den Einwand gelten, daß die Tortur nicht nur in der nationalsozialistischen Diktatur, sonder auch in totaltären Regimen wie etwa im Stalinismus Kernbestandteil des Systems gewesen sei. Er referiert hierzu einen Gedanken von Thomas Mann, der besagte, daß dem Kommunismus, selbst in seiner unmenschlichsten Ausprägung unter Stalin, eine gewisse Idee vom Menschen zugrundelag, während der Hitlerfaschismus überhaupt keine Idee und damit bloße Schlechtigkeit gewesen sei.[9] Améry begründet diese These folgendermaßen: Der Kommunismus konnte sich selbst enstalinisieren, die Folter wurde eingestellt. Es ist sogar für Opfer der stalinistischen Tortur möglich gewesen, Entscheidungsträger zu werden, was Améry am Beispiel des ungarischen Ministerpräsidenten exemplifiziert. Améry zeigt sich hier als Gegner jener Totalitarismus- bzw. Faschismus-Theoretiker, die den Nationalsozialismus mit dem stalinistischen Kommunismus gleichsetzen wollten. Er versucht den Wesensunterschied gerade anhand der Verschiedenheit der jeweiligen Menschheitsentwürfe in den beiden Systemen aufzuzeigen, worin er meiner Ansicht nach ein durchaus schlagkräftiges Argument für die Einzigartigkeit des Hitlerfaschismus bietet. Auch durch theoretische Schriften des Nationalsozialismus liesse sich der Gedanke Amérys stützen, sie lieferten das weltanschauliche Rüstzeug für die Folter im Nationalsozialismus. Der Nationalsozialismus “rottete aus und versklavte, das bezeugen nicht nur die Corpora delicti, sondern ausreichende theoretische Bekräftigungen.”[10] Améry will damit zeigen, wie sehr theoretische Entwürfe und Praxis im Nationalsozialismus übereinstimmten. Gerade durch diese Übereinstimmung sei auf seiten der Folterknechte, wie Améry die Nazis auch bezeichnet, ein gutes Gewissen beim Foltern entstanden:

Die Nazis folterten, so wie andere, weil sie sich mittels der Tortur in den Besitz staatspolitisch wichtiger Informationen setzen wollten. Daneben aber folterten sie mit dem guten Gewissen der Schlechtigkeit. (...) Sie folterten vor allem deshalb, weil sie Folterknechte waren. Sie bedienten sich der Folter. Inbrünstiger aber noch dienten sie ihr.[11]

Améry macht einen entscheidenden Unterschied kenntlich: Folter kann zur Gewinnung von Informationen als politisches Instrument benutzt werden, Im Nationalsozialismus aber verliert die Folter diesen Instrumentcharakter, da die sogenannten Folterknechte sich in ihren Dienst stellten. Sie wird damit zu einer Wesenseigenschaft des gesamten Systems erhoben.

Die eigentliche Folter, die Améry widerfahren ist, überschreitet für ihn die Grenze des sprachlichen Fassungsvermögens. “Es wäre ohne alle Vernunft, hier die mir zugefügten Schmerzen beschreiben zu wollen.”[12] Alle metaphorischen Vergleiche (z.B. “wie ein glühendes Eisen in meinen Schultern”) können nicht an die Wahrheit der Gefühlsqualität herankommen. Am Ende bleibt der Schmerz in seiner Faktizität als einziges unbeschreibbares positives Merkmal vor jeder sprachlichen Faßbarkeit geschützt:

Der Schmerz war der, der er war. Darüber hinaus ist nichts zu sagen. Gefühlsqualitäten sind so unvergleichbar wie unbeschreibbar. Sie markieren die Grenze sprachlichen Mitteilungsvermögens.[13]

Améry möchte hiermit die Individualität des Schmerzes aufzeigen, der jeder sprachlichen, und damit auch allgemeinen Erfassung unzugänglich ist. Das einzige was sich über den Schmerz aussagen läßt, ist, das er Schmerz ist, alles andere entzieht sich dem allgemeinen Boden der Mitteilbarkeit. Dennoch versucht Améry, das Wesen von Tortur und Schmerz ausfindig zu machen, indem er zwischen Wie und Was des Schmerzes unterscheidet. Seine Antwort auf die Frage nach dem Wesen von Schmerz lautet schlicht: Er ist die totale Verfleischlichung des Körpers. Die Tortur erzeugt beim Gemarterten ein nie dagewesenes Körperempfinden (“Sein Fleisch realisiert sich total in der Selbstnegation”[14] ). Améry faßt an dieser Stelle den Schmerz als Steigerung der Körperlichkeit auf. Er gelangt zu der spekulativen Gleichsetzung Körper = Schmerz = Tod, da er im Schmerz eine gefühlsmäßige Hinführung zum Tod zu erkennen glaubt.[15] Desweiteren meint Améry, daß die Folter einen für das Opfer unauslöschlichen Charakter hat. Wer sie einmal erfahren hat, der kann sie nicht mehr verdrängen, denn sie wird ihn ein Leben lang begleiten.[16]

In seiner Analyse gelangt Améry schließlich zu der berechtigten Frage, wer die Peiniger, d.h. die Folterknechte denn genau waren. Er zeigt sich als Gegner einer allzu schnellen und oberflächlichen Beurteilung, die Folterer lediglich als verrohte Kleinbürger und subalterne Folterbeamte anzusehen. Seine Antwort lautet: Die Folterknechte waren Sadisten, aber nicht in einem sexualpathologischen Sinne. Den Begriff des Sadismus möchte er auch nicht in einem anderen psychologischen Kontext verstanden wissen, sondern nach seinem eigentlichen Wortgehalt als ver-rückte Welt. Er nimmt damit wiederum Bezug auf seine These, daß der Nationalsozialismus nicht vom Begriff des Totalitarismus geprägt war. Als Alternative zu diesem Begriff führt Améry den Begriff des Sadismus ein, der den Gesamtumfang des Nationalsozialismus bezeichnen könne:

Eine Welt, in der Marter, Zerstörung und Tod triumphieren, kann nicht bestehen, das ist offenbar. Aber es schert sich der Sadist nicht um den Fortbestand der Welt. Im Gegenteil: Er will diese Welt aufheben, und er will in der Negation des Mitmenschen, der für ihn auch in einem ganz bestimmten Sinne die “Hölle” ist, seine eigene totale Souveränität wirklich machen[17]

Eine Gesellschaft, die den Sadismus auf diese Weise realisiert, stülpt somit die gesamte soziale Welt über mit einer Lebensauffasung, die dem Folterer das Recht gibt, über Leben und Tod zu entscheiden und ihn damit zum wesentlichen Träger des Systems macht, zum sogenannten Herrenmenschen.[18] Auch wenn auf seiten der Peiniger eindeutige Zeichen von Abgestumpftheit zu erkennen waren (z.B. Zigarettenrauchen nach vollbrachter Marter), sieht Améry keinen Grund, das Böse, was von den Peinigern zugefügt wurde, als banal zu bezeichnen. Dies wiederum begründet er damit, daß die Peiniger fast schon Genuß bei der Tat empfunden haben: “Mit ganzer Seele waren sie bei ihrer Sache, und die hieß Macht, Herrschaft über Geist und Fleisch, Exzeß der ungehemmten Selbstexpansion.”[19] Hierin sieht Améry auch seine These bestätigt, daß die Folter die Apotheose des Nationalsozialismus sei. Jemand, so seine Schlußfolgerung, der einen Menschen durch die Tortur dergestalt zu einem elenden Etwas machen darf, hat gottähnliche Züge, was paradoxerweise dazu führen kann, daß selbst der Gepeinigte seinen Peinigern eine Art schmähliche Verehrung entgegenbringen kann.[20]

Welche Erkenntnisse gewinnt Améry aus den eigenen Tortur-Erfahrungen? Hier kann der Begriff des zerstörten Weltvertrauens wiederum Erwähnung finden, denn was übrig bleibt an Einsicht ist ein Fremdheitsbefinden in der Welt, so Améry kurz vor Schluß des Essays:

Sofern überhaupt aus der Erfahrung der Tortur eine über das bloß Alptraumhafte hinausgehende Erkenntnis bleibt, ist es die einer großen Verwunderung und eine durch keinerlei spätere menschliche Kommunikation auszugleichenden Fremdheit in der Welt.[21]

So gelangt Améry schließlich zu der berühmten Formulierung: Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Dieser Satz faßt meiner Ansicht nach trefflich zusammen, was die Folter für eine Wirkung auf ihre Opfer ausüben konnte. Eine Wiederlangung des Weltvertrauens, das ein Gepeinigter vor der Folter gehabt haben mag, ist ihm unmöglich gemacht. Was übrig bleibt, so Améry sind Ressentiments. Wolfgang Hädecke glaubt in diesem Zusammenhang, daß die Foltererfahrungen für Améry einen absolut existentiellen, d.h. lebensentscheidenden Charakter haben: “Was Améry im nazistischen Kerker widerfuhr, wurde zur entscheidenden Erfahrung seines Lebens, insbesondere die Folter”.[22]

2. Exilerfahrungen

In seinem Essay Wieviel Heimat braucht der Mensch beschäftigt sich Améry mit dem Menschen im Exil. Das Exil ist für Améry eine Lebenserfahrung durch die er in die Lage gesetzt wurde, sich mit bestimmten Lebensfragen und Lebensantworten auseinanderzusetzen. Die programmatische Frage, wieviel Heimat der Mensch denn brauche, läßt sich aus seinem Erfahrungshorizont jedoch keineswegs allgemeingültig beantworten, denn er stellt “die Frage aus der sehr spezifischen Situation des aus dem Dritten Reich Exilierten.”[23] Was aber macht diese Besonderheit aus? Améry antwortet, daß er als jüdischer Emigrant nicht nur eine Landschaft oder einen Ort verloren hatte, wie dies ja für alle Exilierten der Fall ist. Für das exilierte NS-Opfer bestand zudem noch ein Menschenverlust als einzigartiges Phänomen.[24] Améry beschreibt an dieser Stelle, wie sich quasi seine gesamte mitmenschliche Umgebung zu einer Umgebung von Gegenmenschen transformierte: Die Kameraden von der Schulbank, Nachbarn oder Lehrer “waren Denunzianten oder Schläger geworden, bestenfalls verlegene Abwarter.”[25] Gerade in diesem Zusammenhang spricht Améry auch von Heimweh, welches er aber als Selbstentfremdung verstanden wissen möchte. Sein gesamter Bewußsteinsinhalt, seine persönliche Vergangenheit wurden durch den Exilzwang urplötzlich verschüttet, schließlich war er zu einem Menschen geworden, der nicht mehr wir sagen konnte, dessen letzte Instanz das Ich bleiben mußte.[26] Améry verstand sich sozusagen als ein Mensch, dessen gesamte soziale Sphäre sich in Nichts auflöste.

Was versteht Améry im einzelnen unter dem Begriff Heimat? Reduziert auf den positiv-psychologischen Grundgehalt des Begriffs, so Améry, müsse man Heimat als Sicherheit verstehen.[27] Ein Verlust der Sicherheit bringt nach Améry mit sich, daß die Zeichen der Sinneswirklichkeit nicht deutbar sind. Man kann die Gesichter nicht mehr richtig entziffern, kann Gesten nicht verstehen, kann Laute und Bedeutung nicht miteinander verbinden, usw. “In dieser Welt war für mich keine Ordnung. (...) Ich wankte durch eine Welt, deren Zeichen mir so uneinsichtig blieben wie die etruskische Schrift.”[28] An dieser Stelle muß darauf hingewiesen werden, von welcher Bedeutung die Zeichen in unserer Welt sind. Charles Sanders Peirce, wohl einer der größten amerikanischen Philosophen des 19. Jahrhunderts hatte den Ausspruch geprägt, daß alles Denken notwendig Denken in Zeichen sei.[29] Sobald ein Mensch nun aber aus seiner Zeichenumgebung herausgerissen ist, kann er notwendigerweise Denken und Zeichenumgebung nicht mehr in Einklang bringen. Er denkt in der ihm anvertrauten Art und Weise zu denken. Daher ist die Umstellung auf ein anderes Zeichensystem, der Verlust der Sicherheit, wie sich Améry ausdrückt, auch von so kolossaler Tragweite. In der Heimat, so Améry “beherrschen wir souverän die Dialektik von Kennen-Erkennen, von Trauen-Vertrauen.”[30] Diese Dialektik wird im Exil zwangsläufig zerschlagen. Man kann kein Vertrauen haben in eine Umgebung, deren Zeichen nicht zu interpretieren sind.

[...]


[1] Günther Kunert bemerkt treffend, daß “die Stärke Amérys (...) weniger aus Philosophie und Theorie als aus persönlicher Erfahrung und Augenschein” stammt. “Philosophie und Theorie liefern ihm bestenfalls Fassungen, die lockeren Rahmenbedingungen, doch sein Ausgangspunkt bleibt die Realität, physische wie psychische, auf welche alle Reflexion immer wieder hinführt.” Kunert stellt hier klar und deutlich die Amérysche Methode heraus, welche eben die Erfahrung als Ausgangspunkt von Erkenntnis begreift. Vgl. Günther Kunert: Über die Unfähigkeit zu altern. In: Text und Kritik 99 (1988), S. 40-43, hier S. 40.

[2] Jean Améry zitiert nach Siegbert Wolf: Von der Verwundbarkeit des Humanismus – Über Jean Améry. Frankfurt/M. 1995, S. 77.

[3] Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne – Bewätigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart 1977, S. 55.

[4] Ebd.

[5] Vgl. hierzu auch Petra S. Fiero: Schreiben gegen Schweigen: Grenzerfahrungen in Jean Amérys autobiographischem Werk. Hidesheim, Zürich, New York 1997.

[6] Ebd., S. 57.

[7] Ebd.

[8] Ebd., S. 59.

[9] Vgl. ebd., S. 60.

[10] Ebd., S. 61.

[11] Ebd.

[12] Ebd., S. 63.

[13] Ebd.

[14] Ebd.

[15] “Es führt uns zum Tode keine logisch befahrbare Straße, doch mag es erlaubt sein zu denken, daß uns durch den Schmerz ein gefühlsahnender Weg zu ihm gebahnt wird.” Ebd., S. 64.

[16] Améry macht mithilfe eines Widerspruchs seine These anschaulich: “Es war für einmal vorbei. Es ist noch immer nicht vorbei. Ich baumele noch immer, zweiundzwanzig Jahre danach, an ausgerenkten Armen über dem Boden, keuche und bezichtige mich. Da gibt es kein Verdrängen” Ebd. S. 68.

[17] Ebd., S. 66.

[18] “In der Welt der Tortur aber besteht der Mensch nur dadurch, daß er den anderen vor sich zuschanden macht.” Ebd., S. 66.

[19] Ebd., S. 67

[20] Vgl. ebd.

[21] Ebd., S. 72.

[22] Wolfgang Häde>

[23] Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. S. 75

[24] Vgl. ebd., S. 76, vgl. auch ebd., S. 87.

[25] Ebd.

[26] Vgl. ebd., S. 78.

[27] Vgl. ebd., S. 81.

[28] Ebd., S. 82.

[29] Vgl. Charles Sanders Peirce : Schriften I. Zur Entstehung des Pragmatismus. Mit einer Einführung hrsg. von Karl-Otto-Apel. Frankfurt/M., 1967.

[30] Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne, S. 82.

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Zerstörtes Weltvertrauen bei Jean Améry
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen  (Germanistisches Institut)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2000
Seiten
33
Katalognummer
V46163
ISBN (eBook)
9783638434140
ISBN (Buch)
9783638687621
Dateigröße
538 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zerstörtes, Weltvertrauen, Jean, Améry
Arbeit zitieren
Elmar Korte (Autor:in), 2000, Zerstörtes Weltvertrauen bei Jean Améry, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46163

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