Die russischen Nichtregierungsorganisationen im Transformationsprozess


Wissenschaftliche Studie, 2005

26 Seiten


Leseprobe


Einleitung

Erst nach dem Beginn von Gorbačev´s Reformpolitik bekamen selbstorganisierte gesellschaftliche Initiativen in der Russländischen Föderation wirkliche Entwicklungsmöglichkeiten und bekamen mit dem "Gesetz über gesellschaftliche Vereinigungen" von 1991 zum ersten Mal eine rechtliche Grundlage. In den 90-er Jahren haben die Organisationen eine bestimmte Aufmerksamkeit erreicht und sich Gehör verschafft. Seit dem Beginn der Präsidentschaft Putins sind die Beziehungen zwischen den Nichtregierungsorganisationen und dem Staat jedoch gespannt. Verschiedene Aspekte sprechen dafür, dass sich die Handlungsspielräume für die Organisationen in den letzten Jahren verkleinert haben und das Verhältnis zwischen dem staatlichen und dem nichtstaatlichen Sektor von einem Dialog zwischen zwei unabhängigen Partnern weit entfernt ist.

Im folgenden Beitrag wird ein Überblick über die Entstehungsgeschichte und den Begriff der Nichtregierungsorganisationen gegeben, bevor auf ihre aktuelle Situation in der Russländischen Föderation eingegangen wird.

Entstehungsgeschichte

Historisch gesehen, gibt es einen Zusammenhang zwischen der ersten industriellen Revolution, der Herausbildung des modernen Nationalstaates und der Entstehung nichtstaatlicher Organisationen.

Die ersten modernen nichtstaatlichen Organisationen entstanden um die Mitte des 19.Jh. infolge als Ergebnis neuer Anforderungen und Probleme, die mit der Industrialisierung und Modernisierung verbunden waren und von den Staaten nicht bewältigt werden konnten. Angefangen mit Berufsverbänden und Gewerkschaften, der Bildung wissenschaftlicher, humanitärer und karitativer Vereinigung dauerte es nur wenige Jahrzehnte, bis sich in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen internationale nichtstaatliche Organisationen gegründet hatten.

Als erste richtige internationale Organisation wird die Weltallianz der Christlichen Vereine junger Männer (Young Men´s Christian Association, YMCA) genannt, die 1855 gegründet wurde. Die 1890 entstandene Interparlamentarische Union (IPU) wurde zu einer der aktivsten Bewegungen der modernen Friedensbewegung und hatte einen erheblichen Anteil an der Vorbereitung der Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907, ebenso wie das International Peace Bureau (1892), das sich für eine friedliche Konfliktlösung auf internationaler Ebene einsetzte (White 1968, Schrader 2000).

Während des Ersten Weltkrieges waren die meisten Organisationen in ihrer Arbeit behindert. Ausnahmen bildeten die 1915 gegründete Women´s International League for Peace and Freedom und das Rote Kreuz.

Die Bemühungen um eine neue Qualität zwischenstaatlicher Beziehungen brachten nach dem Krieg den Völkerbund, die Internationale Arbeitgeberorganisation (ILO), den Internationalen Gerichtshof und die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich hervor.

Sehr intensiv entwickelten sich die gesellschaftlichen Aktivitäten in der Zeit der Weltwirtschaftskrise und am Anfang des Faschismus. Besonderes Engagement gegen den Nationalsozialismus zeigte der Internationale Gewerkschaftsbund und die World´s Student Christian Federation.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Mitwirkungsmöglichkeiten nichtstaatlicher Organisationen erstmals in schriftlicher Form verfasst. In Artikel 71 der Charta der Vereinten Nationen heißt es: "Der Wirtschafts- und Sozialrat kann geeignete Abmachungen zwecks Konsultationen mit nichtstaatlichen Organisationen treffen, die sich mit Angelegenheiten seiner Zuständigkeit befassen. (...)"[i]. Obwohl sich diese Möglichkeit nur auf den Wirtschafts- und Sozialrat und Sonderorganisationen wir die UNESCO und ILO, nicht aber auf die politischen Entscheidungsgremien bezog, waren diese Partizipationsrechte im Vergleich zum den kaum entwickelten Kontakten zwischen der staatlichen und der nichtstaatlichen Ebene vor dem Krieg ein Erfolg. Bei diesem Partizipationsrechten war eine Art Rangordnung vorgesehen: der Konsultativstatus I galt für etablierte international Dachorganisationen, den Konsultativstatus II bekamen internationale Organisationen nach speziellen Kompetenzen, nationale nichtstaatliche Organisationen den Roster-Status (Roster= Liste, Register). Die Ausweitung der Mitwirkungsmöglichkeiten fand schließlich im Laufe der im Wirtschafts -und Sozialrat behandelten Fachbereiche in der Praxis statt (Weiss, Gordenker 1996).

Weiterhin legte der Artikel 71 die Zustimmung für die Akkreditierung von nationalen Nichtregierungsorganisationen durch die jeweiligen Landesregierungen fest.

Infolge des Prozesses der Internationalisierung und der Werteveränderungen (Bürger- und Menschenrechte, Geschlechtergleichstellung, Umweltschutz) in den 60- er und 70-er Jahren verstärkten sich die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten. Beginnend mit der Gründung von Bürgerinitiativen und –komitees, die sich mit aktuellen Themen wie der atomaren Rüstung und dem Vietnamkrieg befassten, entstanden die neuen sozialen Bewegungen, die L. Schrader als eine "Kultur des Protestes und der Kritik"[ii] charakterisiert. Mit der Zunahme an Organisationsstruktur, Beständigkeit und Professionalität wurden aus den damals entstandenen Bewegungen bekannte Organisationen und Netzwerke, die auch heute noch die Ebene nichtstaatlicher nationaler und internationaler Vereinigungen prägen.

Bis zum Zusammenbruch der kommunistischen Regimes wirkte sich der Kalte Krieg auf das Verhältnis zwischen den Staaten und den nichtstaatlichen Organisationen aus, da die Internationalen Beziehungen insgesamt nach ihren möglichen Auswirkungen auf den Konflikt zwischen Ost- und Westblock bewertet wurden.

Ein Austausch war insofern fast unmöglich, als dass sozialistische Staaten den Einfluss westlicher Politik durch Aktivitäten westlicher Nichtregierungsorganisationen fürchteten. Organisationen aus den sozialistischen Staaten begegnete man mit Skepsis, ihre Unabhängigkeit wurde in Frage gestellt und eine "Fernsteuerung" vermutet. Innerhalb autoritärer Regime galten Nichtregierungsorganisationen als "politische Konkurrenten beim Zugriff auf die Gesellschaft, die es zu kontrollieren gilt"[iii]. Leider können solche Tendenzen auch heute in Transformationsgesellschaften bzw. defekten Demokratien Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas sowie Südamerikas verzeichnet werden, wo das Verhältnis des Staates, aber auch der Bevölkerung zu gesellschaftlichen Organisationen eher von Misstrauen geprägt ist. Auf die aktuellen Probleme in der Russländischen Föderation wird im zweiten Teil dieses Beitrags eingegangen.

In den 90-er Jahren verbesserte sich durch das Ende des Ost-West-Konflikts – ausgedrückt durch bereitwilligere Zusammenarbeit an Problemlösungen und finanzielle Unterstützung von offizieller Seite - auch das Verhältnis zwischen den Nichtregierungsorganisationen und dem Staat.

Besonders nach der Teilnahme und Mitwirkung von Nichtregierungsorganisationen an großen UNO-Konferenzen in den 90-er Jahren[iv] wurde ihr gewachsenes Potential deutlich. Die 1996 vom Wirtschafts- und Sozialrat verabschiedete Resolution[v] war ein Fortschritt für die nationalen, regionalen und subregionalen Nichtregierungsorganisationen. 550 Organisationen wurde der Roster-Status zuerkannt und umständliche Akkreditierungsverfahren erspart. Seitdem ist die Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen ein wichtiger Diskussionspunkt an der Tagesordnung der Vereinten Nationen. Eine Unterarbeitsgruppe der Vollversammlung zu NGO-Fragen begann 1996 ihre Arbeit und auch im Kofi Annans Reformprogramm 1997 sind Vorschläge über eine stärkere Einbeziehung der Organisationen insbesondere in der Entwicklungs-, Umwelt-, und Menschenrechtspolitik enthalten.

Sowohl die veränderten zwischenstaatlichen Machtverhältnisse nach dem Ende des Ost-West-Konflikts als auch der Prozess der Globalisierung haben zu einer Machtverschiebung zwischen Staaten, Märkten und Zivilgesellschaften und einer Machtverteilung zwischen den Nationalstaaten, der Welt des Business, den Internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen geführt. (Matthews 1997). Die Bedeutung letzterer wird in der Praxis deutlich: ihre Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen, den nationalen Kommissionen des Kinderhilfswerks UNICEF und der UNESCO ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden, ebenso wie ihre Konsultation vom Sicherheitsrat zu humanitären Fragen und Problemen und die ihre Aufnahme in offizielle Delegationen (Schrader 2000).

Die verstärkte öffentliche Aufmerksamkeit für die Nichtregierungsorganisationen in den letzten Jahren wird auf ein "Versagen" des Staates zurückgeführt, wodurch die etablierten Formen der Interessenvertretung funktionsunfähig werden und es gleichzeitig zu einer wachsenden Institutionalisierung sozialer Bewegungen kommt (Messner, Nuscheler 1996, Brand 1998, Hirsch 1999). Diese Prozesse werden im Kontext der Globalisierung (Schmidt. H., Take. I 1997, Curbach 2003), dem Übergang vom "Fordismus" zum "Postfordismus" (Brand U., Raza W., 2002, Hirsch J., Roth R.,1986) und der Transformation des Staatensystems (Brand, U., Demirovic, A., Görg, Ch., Hirsch, J. 2001) betrachtet. Diese Aspekte bringen eine Entwicklung neuer Politikinhalte und Steuerungsprobleme mit sich, die sich nur durch Interaktion vieler staatlicher und nichtstaatlicher Akteure verwirklichen lässt.

Begriffsfindung

Für den englischen Begriff "non-governmental organization", der 1945 im Artikel 71 der UN-Charta verwendet worden ist, hat sich in der deutschsprachigen Publizistik die Abkürzung "NGO" eingebürgert. Die Bezeichnung "nichtstaatliche Organisation" wird in der Literatur meist als die exakte Übersetzung angegeben, an den Begriffen "Nichtregierungsorganisationen (NRO) und "Nichtregierungsamtliche Organisationen" wird kritisiert, dass "...mit non-governmental nicht nur solche Organisationen gemeint sind, die sich von der Regierung im engen Sinn unterscheiden, sondern von allen Einrichtungen und Strukturen der staatlichen Autorität."[vi] Wenn allerdings der Typ nichtstaatlicher Organisation gemeint ist, der auf den zivilgesellschaftlichen Emanzipationsbewegungen der Jahre 1960-1980 basiert, "...erlaubt der Begriff der Nichtregierungsorganisation bei aller Vagheit doch eine eindeutigere Abgrenzung..."[vii].

Eine Definition des Begriffs ist in der Forschung vielfach versucht und diskutiert worden (Blodgett 1983, Glagow 1992, Nowak/Schwarz 1994, Salomon/Anheier 1994, Brand 1996, Weiss/Gordenker 1996, Take 2002, Ölz 2002). Aufgrund der Vielzahl und Vielfältigkeit sowie dem unterschiedlichen Verständnis des Begriffs in jeweils verschiedenen Zusammenhängen und nicht zuletzt wegen seiner aktuellen Entwicklungsdynamik in der Praxis liegt eine klare Definition bisher nicht vor. Mit diesem Erfahrungen hat sich in der Wissenschaft die Tendenz durchgesetzt, nicht auf eine endgültige Definition und Klassifikation zu setzen, um das NGO-Phänomen zu erforschen, sondern vielmehr auf eine Begriffsfindung durch Eingrenzung.

Anhand von Wesensmerkmalen und speziellen Kriterien lässt sich eine nichtstaatliche Organisation jedoch charakterisieren. Zu den Merkmalen gehören der private Charakter, der ideelle Zweck und eine gewisse Organisationsdichte (Ölz 2002). Ingo Take versucht die Nichtregierungsorganisationen definitorisch zu erfassen, indem er ausgehend von einer Positionierung zwischen staatlichen und marktwirtschaftlichen Akteuren eine Abgrenzung nach außen schafft und dann eine Binnendifferenzierung anhand spezifischer Merkmale in den jeweils unterschiedlichen Ausprägungen vornimmt. Diese Ausprägungen werden schließlich in eine problemfeldspezifische Typologisierung überführt (Take 2002).

Bei der Abgrenzung nach außen werden die Merkmale nicht gewinnorientiertes Handeln, kein Anstreben staatlicher Ressourcen oder Ämter, Gemeinwohl bzw. Gemeinorientierung und die Freiwilligkeit genannt. Die Mitglieder einer Organisation haben demnach ein gemeinsames Problembewusstsein für öffentliche Belange. Mit dem Ziel der gerechten Umverteilung gesellschaftlicher Güter bringen sie freiwillig Ressourcen ein und mobilisieren Solidarität. Im Falle der Konzentration des Nutzens auf die eigenen Mitglieder ( z.B. Glasnost´ Defence Foundation in der Russländischen Föderation) wird von " innerer Gemeinnützigkeit" gesprochen[viii]. Nichtregierungsorganisationen streben keine Beteiligung an der Regierung an.

[...]


[i] Charta der Vereinten Nationen: http://www.runic-europe.org/german/charta/charta.htm, Stand 17.10.2005

[ii] Schrader, L., S.17

[iii] Glagow, M., S.320

[iv] Umwelt und Entwicklung, Rio de Janeiro 1992; Menschenrechte, Wien 1993; Frauenrechte, Peking 1995

[v] siehe: Consultative relations between the United Nations and non- governmental organizations, http://www.un.org/esa/coordination/ngo/

[vi] Ölz. M., S.33

[vii] Schrader, L., S.28

[viii] Ölz. M., S.39

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Die russischen Nichtregierungsorganisationen im Transformationsprozess
Autor
Jahr
2005
Seiten
26
Katalognummer
V46285
ISBN (eBook)
9783638435093
ISBN (Buch)
9783638658621
Dateigröße
492 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Studie im Rahmen eines Forschungsauftrags der Gesellschaft für Kultursoziologie, Leipzig.
Schlagworte
Nichtregierungsorganisationen, Transformationsprozess
Arbeit zitieren
Julia Schatte (Autor:in), 2005, Die russischen Nichtregierungsorganisationen im Transformationsprozess, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46285

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