Macht und Ohnmacht in Hugo von Hofmannsthals "Reitergeschichte"


Hausarbeit, 2004

14 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Ebenen des Textes
Der Ritt der Eskadron
Begegnung mit Vuic und Allmachtsphantasien
Der Albtraum vom „widerwärtigen Dorf“ und der Doppelgänger
Die veränderte Realität

3. Macht und Ohnmacht
Des Wachtmeisters Macht
Anton Lerchs Ohnmacht
Die sexuelle Komponente
Die soziale Komponente

4. Motive im Text
Blut
Tiere

5. Abschlussbemerkung

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Geschichte der Novelle Hugo von Hofmannsthals ist, wie bereits Ulrich Heimrath[1] feststellt, alleine nicht sehr ergiebig. Die dichte und symbolreiche Sprache der „Reitergeschichte“ (veröffentlicht 1899) und die zahlreichen Bezüge innerhalb des Textes bedürfen der Deutung. Dass in der Interpretation der Erzählung bereits viele Ansätze versucht wurden, die zum Teil zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen geführt haben, zeigt bereits eine kurze Durchsicht der Literatur zur „Reitergeschichte“. Eine ausführliche Bilanz und Übersicht der verschiedenen Interpretationsentwürfe gibt Hugo Schmidt[2]. Ich versuche in meiner Arbeit zu einer allgemeinen Deutung zu gelangen, indem ich mich auf den Kontrast von Macht und Ohnmacht konzentriere. Bei der Analyse der Erzählung richte ich mich nach der Terminologie von Matias Martinez und Michael Scheffel[3].

2. Die Ebenen des Textes

Der Text ist in mehrere Abschnitte oder Ebenen geteilt, darin sind sich alle Interpreten einig. Uneinigkeit jedoch herrscht bei der Benennung und Einteilung der Abschnitte. So sieht Benno von Wiese deren fünf[4], Heinz Rieder aber nur drei[5]. Nach meiner Auffassung lässt sich die Erzählung in vier Ebenen teilen, die sich jeweils inhaltlich und sprachlich voneinander unterscheiden.

Der Ritt der Eskadron

Der erste Abschnitt des Textes reicht bis zu den Worten „ (…) so ritt die schöne Schwadron durch Mailand“ (27)[6]. Hier erfahren wir von den bestandenen Gefechten des

Streifkommandos und ihrem triumphartige Zug durch Mailand. Der Ausritt und die Kämpfe werden in einer starken Raffung erzählt. So erledigt sich zum Beispiel die Gefangennahme von achtzehn aufständischen Studenten innerhalb eines kurzen Satzes (25). Der Stil des auktorialen Erzählers wirkt weitestgehend nüchtern, wie der eines „Kriegsberichterstatter[s]“, der „Kriegshandlungen in lauter Einzelvorgänge“ zerlegt[7]. Die genauen Angaben, die im Text gegeben werden, verstärken den Eindruck der Reportage. Die Zeit („22. Juli 1848, vor 6 Uhr morgens“, 25), der Ort (Kasino Alessandro, Mailand, 25) und die Anzahl der Reiter oder Gefangenen werden exakt mitgeteilt. Der Erzähler verstärkt dadurch den Eindruck der Realität.

Die Nullfokalisierung und das hohe Tempo von Ereignissen und Stil schaffen eine Distanz und eine hohe Mittelbarkeit. Der Wachtmeister Anton Lerch wird hier zum ersten Male erwähnt (25), aber die Ereignisse werden nicht, wie später, aus seiner Perspektive geschildert.

Der Reportagestil wird nur dann unterbrochen, wenn die Umgebung beschrieben wird, d. h. Geräusche, Natur, die Stadt Mailand. Dabei fällt auf, dass sie als schön und prächtig dargestellt wird. Der Erzähler berichtet von „den Gipfeln der fernen Berge“, an denen „Morgenwolken wie stille Rauchwolken gegen den leuchtenden Himmel“ steigen (25). Besonders die Beschreibung des Triumphzuges durch Mailand wird äußerst eindringlich geschildert. In nur einem weit ausgreifenden Satz wird gezeigt wie die Schwadron unter dem „stählern funkelnden Himmel“ und dem „Geläute von Mittagsglocken“ und Trompetenstößen an den berühmten Bauwerken Mailands vorbeireitet (26). Der Ton und die Bilder steigern sich hier ins Ekstatische und die Euphorie der Sieger wird gestützt durch die unübersichtlichen „syntaktischen Ballungen“[8]. Auch nähert sich hier die Erzählzeit der erzählten Zeit an und die Raffung scheint nicht mehr so extrem wie zuvor. Damit wird der Übergang in die zweite Ebene eingeleitet.

Begegnung mit Vuic und Allmachtsphantasien

Die zweite Ebene im Text endet mit dem „Splitter im Fleisch, um den herum alles von Wünschen und Begierden schwärte“ (29). Hier tritt der Wachtmeister Lerch in den Mittelpunkt der Erzählung. Die Begegnung mit seiner ehemaligen Geliebten Vuic wird sehr statisch geschildert. Das hohe Tempo des vorherigen Abschnittes wandelt sich zu einer szenischen Darstellung. Das Haus der Frau wird so ausführlich beschrieben, dass man von einem dramatischen Modus (Realitätseffekt) sprechen kann. Jedes Detail („ein paar Töpfchen Basilikum“, ein Mahagonischrank, weiße Betten, eine Tapetentür, usw., 27) wird erwähnt. Die Begegnung Lerchs mit Vuic kann nicht mehr als ein paar Sekunden gedauert haben - es geschieht ja eigentlich fast nichts -, aber dennoch dauert die Beschreibung lange. Lerch scheint nicht ganz bei sich zu sein. Er beobachtet fasziniert eine Fliege auf Vuics Haar mit „schwerfälligem Blick“ (28). Die Atmosphäre wird steinern. Lerch reitet nach der Begegnung keinen „frischen Schritt“ mehr „unter der schweren metallischen Glut des Himmels“ (28). Die Leichtigkeit der morgendlichen Gefechte (inzwischen ist es Mittag) scheint verflogen. Der Wachtmeister verliert sich in Tagträumereien und Allmachtsphantasien. Vorstellungen von „Behaglichkeit und angenehmer Gewalttätigkeit“, für mich eine Bild für Sex, sowie von der Beherrschung eines „unterwürfigen Freundes“ (28) und der „Durst nach […] Gratifikationen, nach plötzlich in die Tasche fallenden Dukaten“ (29), erzeugen eine wirre Melange von Begierde, Herrschsucht und Habgier in Lerch. Hier sagt der Erzähler auch explizit und in eindeutig auktorialer Weise, dass die „Träumereien des Wachtmeisters (…) keine Hemmungen“ (29, Hervorhebung von mir) erfuhren.

Beschränkt der Text sich in der ersten Ebene auf die Erzählung von Wirklichkeit, von realen Erlebnissen der Schwadron, so konzentriert er sich hier auf die inneren Vorgänge eines einzelnen. „Anton Lerch löst sich aus der Einheit“[9] und wird nun endgültig zur Hauptfigur der Erzählung.

Der Albtraum vom „widerwärtigen Dorf“ (31) und der Doppelgänger

Die dritte Ebene des Textes reicht von der Entscheidung Lerchs, durch das Dorf zu reiten (29) bis zum Trompetensignal „Attacke“ (32). Es ist bereits Abend geworden. Die wichtigste Änderung in dieser Ebene ist, dass der hier Erzähler hier personal auftritt. Das Geschehen wird uns aus der Perspektive Lerchs geschildert, z. B. beziehen sich Angaben wie „rechts und links“ (29) wie selbstverständlich auf ihn.

Alle Ereignisse im Dorf wirken auf den Leser „geisterhaft“[10] und unwirklich[11]. Das wird sprachlich dadurch erreicht, dass alles sehr ausführlich beschrieben wird, z. B. der „unendlich müde und traurig[e]“ (31) „Gesichtsausdruck“ des Dackels. Das erneut hohe Tempo nach der Begegnung mit Vuic, das dadurch erreicht wurde, dass die Allmachtsphantasien Lerchs in fieberhaften, kurzen Satzgliedern wiedergegeben werden (28, 29) und ein einziger Satz die Zeitspanne von Mittag bis Abend überbrückt (29), wird in der Dorfszene radikal gedrosselt. Die Erzählzeit nähert sich wieder der erzählten Zeit an. Auch das Tempo des Wachtmeisters selbst wird nach und nach verlangsamt: „sein Pferd“ muss „in Schritt parieren“ (29) wegen des glitschigen Bodens, es geht nur noch „mühsam“ und hebt die Beine „wie wenn sie von Blei wären“ (30) bis er „keinen Schritt mehr tun“ kann. Lerch fühlt eine „unbeschreibliche Schwere, ein solches Nichtvorwärtskommen“. Ihm kommt es vor „als hätte er eine unmeßbare Zeit“ (31, Hervorhebung von mir) damit verbracht das Dorf zu durchreiten.

Beim Eintritt in das Dorf liegt es „totenstill; kein Kind kein Vogel, kein Lufthauch“ (29). Die Hunde bellen nicht und schnappen lautlos (30, 31). In der Dorfszene „fehlen die Geräusche in ganz unnatürlicher Weise“[12]. Die unwirkliche Stille wird nur von einer Ratte und dem Atem des Rosses durchbrochen.

Die unmessbare Zeit, die unheimliche Geräuschlosigkeit, die Schwere, die über Lerch zu liegen scheint, und die Erwähnung seiner aufgeregten „Einbildung“ (29), zeigen (im deutlichen Kontrast zu der Leichtigkeit der morgendlichen Gefechte und dem Glockengeläut und Trompetenschall in Mailand), dass der Text in dieser Ebene die Realität verlässt und zum Traum oder Wahn wird. Bestärkt wird diese Auffassung durch das Wiederkehren von Erlebtem (die Frauenperson, der Lerch im Dorf begegnet, ist Vuic). Auch kann man die Hunde und das Rind symbolisch auf Lerch und seine Situation beziehen. Beides werde ich weiter unten noch ausführlicher erläutern (S. 8).

Endgültig und ganz offensichtlich wendet sich die Erzählung dem Unwirklichen in dem letzten Ereignis der dritten Ebene zu. Sind die Erscheinung der Frau, die ekelhaften Hunde, das Fett auf der Straße und das Schlachtvieh ja noch natürlich zu erklären, so ist es das Auftauchen eines Doppelgängers nicht mehr. Spätestens hier wird klar, dass die Erzählung mit Symbolen arbeitet, da Hofmannsthal hier eine alte Vorstellung des Volksglaubens aufgreift: „Nach germanischer Auffassung spaltet sich kurz vor dem Tod (…) ein zweites Ich ab, das dem Sterbenden vor Augen tritt und ihm so seine ‚Auflösung’ anzeigt“[13]. Die Begegnung mit seinem Doppelgänger kündigt also Lerchs Tod am Ende der Erzählung an.

[...]


[1] Ulrich Heimrath: Hugo von Hofmannsthals Reitergeschichte. Eine Interpretation, in: Wirkendes Wort 21 (1971), S. 313.

[2] Hugo Schmidt: Zum Symbolgehalt der Reitergeschichte Hofmannsthals, in: Views and Reviews of Modern German Literature. Festschrift für A. D. Klarmann, München 1974, S. 70-74.

[3] Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, 4. Aufl., München 2003.

[4] Benno von Wiese: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen, Düsseldorf 1956, S. 285.

[5] Heinz Rieder: Hugo von Hofmannsthals Reitergeschichte, in: Marginalien zur poetischen Welt. Festschrift für Robert Mühlher, hrsg. v. A. Eder u. a., Berlin 1971, S. 312.

[6] Hugo von Hofmannsthal: Ausgewählte Werke in zwei Bänden, hrsg. v. Rudolf Hirsch, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1957. Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

[7] Benno von Wiese, S. 289.

[8] Ebd., S. 285.

[9] Ulrich Heimrath, S. 314.

[10] Benno von Wiese, S. 295.

[11] vgl. Heinz Rieder, S. 317.

[12] Ebd.

[13] Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 4. Aufl., Stuttgart 1992, S. 100.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Macht und Ohnmacht in Hugo von Hofmannsthals "Reitergeschichte"
Hochschule
Universität Stuttgart
Note
1
Autor
Jahr
2004
Seiten
14
Katalognummer
V46350
ISBN (eBook)
9783638435550
Dateigröße
377 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Dies ist eine umfassende Analyse und Interpretation von Hugo von Hofmannsthals Erzählung "Reitergeschichte".
Schlagworte
Macht, Ohnmacht, Hugo, Hofmannsthals, Reitergeschichte
Arbeit zitieren
Florian Burkhardt (Autor:in), 2004, Macht und Ohnmacht in Hugo von Hofmannsthals "Reitergeschichte", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46350

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