Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Professionelle padagogische Haltung
2.1 Geschichtlicher Bezug
2.2 Soziologische Betrachtung nach Bourdieu und Elias
2.3 Psychologische Betrachtung nach Julius Kuhl
2.4 Der Begriff Professionals
2.5 Das professionelle Selbst nach Bauer
2.6 Der Haltungsbegriff nach Schwer und Solzbacher
2.7 Berufliche Kernkompetenzen der padagogischen Fachkraft
2.8 Zusammenfassung der theoretischen Erkenntnisse
3. Grenzverletzendes Verhalten
3.1 Personliche Grenzen
3.2 Grenzverletzung
3.2.1 Grenzverletzung als Folge fachlicher Defizite
3.2.2 Grenzverletzende Umgangsweisen und Zartlichkeiten
3.2.3 Verwendung von Spitznamen
3.2.4 Grenzverletzende Kleidung
3.2.5 Missachtung des Rechts auf Intimsphare
3.2.6 Grenzverletzung im Rahmen von Schlafsituationen
3.2.7 Missachtung des Rechts am eigenen Bild
3.2.8 Grenzverletzende Gesprache
3.2.9 Grenzverletzende Konzeption
3.2.10 Korperliche Grenzverletzung
3.2.11 Passive Grenzverletzung
3.3 Abgrenzung zu Ubergriffen
4. Ursachen fur grenzverletzendes Verhalten
4.1 Belastende Arbeitsbedingungen
4.2 Eine unzureichende professionelle Haltung
4.3 Defizitare Fachkompetenz
4.4 Ursachen in der Personlichkeit der Fachkraft selbst
5. Praventionsansatze
5.1 Feste Zeiten fur Teamabsprachen
5.2 Strategieentwicklung
5.3 Fachliche und personliche Weiterbildung als Schutzfaktor
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
8. Abbildungsverzeichnis
9. Anlagen
9.1 Grenzverletzendes Verhalten in Kitas -Pressstimmen
9.2 Statistische Angaben zu sexuellem Missbrauch in Institutionen
9.3 Betreuungsschlussel Bundesweit fur U3- jahrige in Krippen. (2016)
9.4 Checkliste „Haltung
1. Einleitung
Eine professionelle padagogische Haltung wird in der taglichen Arbeit in Kindertageseinrichtungen vorausgesetzt und vielfach gefordert. Auch die Autoren des sachsischen Bildungsplanes, welcher als Orientierung und Arbeitsgrundlage fur alle Erzieher1 in Sachsen dient, sprachen von professionellem Handeln in der padagogischen Arbeit.2 Professionelles Handeln wird in diesem daran festgemacht, dass Fachkrafte uber die sich verandernden Lebensbedingungen von Kindern informiert sind und uber entwicklungspsychologisches Fachwissen verfugen3. Dieses Wissen ist selbstverstandlich wichtig, doch das allein reicht nicht aus.
Professionelles Handeln geht einher mit einer professionellen Haltung dem Kind gegenuber und den damit verbundenen tief in der Fachkraft verankerten Einstellungen, Werten und Kompetenzen. Im Kapitel 2 wird dieser Zusammenhang und die Bedeutung einer professionellen padagogischen Haltung naher betrachtet. Zu Recht stellt er aber die Bedeutung der sich verandernden Lebensbedingungen von Madchen und Jungen in den Fokus, als auch ihren eigenen Willen selbst zu lernen und die damit verbundene Aufgabe fur padagogische Fachkrafte, Kinder dabei professionell zu unterstutzen. Es erfordert ein hohes MaR an Fachwissen und Handlungskompetenz von Padagogen, diesem Anspruch gerecht zu werden. Nicht zu Letzt aus diesem Grund wird die Forderung der Akademisierung des Erzieherberufes immer lauter.4
In meiner zehnjahrigen Erfahrung in der elementarpadagogischen Praxis habe ich nur selten erlebt, dass Erzieher diesem professionellen Anspruch nicht gerecht werden wollen.
Auch die Bereitschaft zu Weiterbildungen ist hoch und begrundet meine Annahme.5 Es finden sich einige aktuelle Studien zur Erziehergesundheit, zu Arbeitsplatzbedingungen, zum Ausbildungsstand und anderen Themen rund um die Arbeit von Erziehern, welche diese Motivation belegen.6
Die Einflussfaktoren welche die Unterschiede im professionellen Handeln belegen sind vielfaltig und in dieser Arbeit keineswegs umfanglich abzuarbeiten.
Dennoch mochte ich den Fokus auf ein Thema lenken, welches mit eben dieser professionellen Haltung und der damit einhergehenden Handlungsweise im padagogischen Alltag in einem engen Zusammenhang steht. Gemeint ist grenzverletzendes Verhalten von padagogischen Fachkraften im Kontext von Kindertageseinrichtungen.
Allzu oft habe ich Kollegen beobachtet, die schroff mit Kindern sprechen, sie anschreien, sie beim Mittagessen am Tisch sitzen lassen, bis das Gemuse aufgegessen ist oder sie grob am Arm gepackt haben, weil sie einen Fehler gemacht haben. Auch werden sie mit „Herzchen" und „Mauschen" oder anderen Kosenamen angesprochen oder sie bekommen Spitznamen, wie „ Mohrchen ", weil sie rote Haare haben. Verhaltensweisen, welche die Privatsphare des Kindes ubertreten, sind ebenfalls anzutreffen. Dazu zahlen beispielsweise der Blick uber die Toilettenwand und die Kontrollfrage, wann das Kind denn nun endlich fertig sei oder das unkommentierte und ungefragte auf den Schoss nehmen. Weiter zahlen dazu auch Situationen in denen das Kind vorgefuhrt wird, weil es z.B. irgendein vermeintlich merkwurdiges Kleidungsstuck tragt, welches unbedingt der nachsten Kollegin gezeigt werden muss. Gesprache uber ein Kind- in dessen Anwesenheit, welche womoglich noch kritisch oder gar abwertend sind, gehoren ebenfalls dazu. Die Liste von Beispielen lieRe sich noch weiterfuhren.
Ziel dieser Arbeit soll es sein sich genau diesem Verhalten von Padagogen zu nahern, mit dem Blick auf ihre professionelle padagogische Haltung und ihre Bedeutung fur die Arbeit mit und am Kind.
Mit dem Begriff Haltung meine ich die Art und Weise wie dem Kind gegenuber getreten wird und mit welchen Augen der Erzieher es betrachtet.
Bei meinen Recherchen zum Thema „nichtsexuelle Grenzuberschreitung von padagogischen Fachkraften in Institutionen" habe ich keine Studien und andere wissenschaftlichen Beitrage finden konnen, aber Zeitungsberichte und viele Foreneintrage, in welchen sich Eltern uber die Zustande in den Kindergarten beschweren7. (siehe auch Anlagen 9.1)
Dagegen sind sexuelle Grenzuberschreitungen auch wissenschaftlich bereits haufiger thematisiert worden. Deren Relevanz ist vollig unstrittig, aber soll nicht Thema dieser Arbeit sein. Dennoch werden die Erkenntnisse aus dem Forschungsbereich der Taterstrategien mit betrachtet und eingebunden. Wie es im Kapitel 3.3 noch belegt wird ist grenzverletzendes Verhalten moglicherweise auch eine Form von sexuellem Missbrauch und darf nicht ganzlich ausgeklammert werden.
Zu Beginn dieser Arbeit soll es um die theoretischen Hintergrunde und um Begriffsklarungen gehen. Dies erscheint durchaus sinnvoll, da bereits in meinen Recherchen deutlich wurde, dass vor allem der Haltungsbegriff vielschichtig und umfangreich ist. Die klare Abgrenzung von grenzverletzendem Verhalten zu Ubergriffen ist wichtig, um fachlich korrekt uber diese Themen sprechen zu konnen und um deutlich zu machen, dass grenzverletzendes Verhalten ebenfalls vielseitig ist.
Es werden nachfolgend mogliche Ursachen fur beschriebene Handlungsweisen beleuchtet. Dabei soll der Fokus in den Handlungskompetenzen des Erziehers selbst liegen, aber auch in den Rahmenbedingungen seines Arbeitsumfeldes.
Die Ergebnisse dieser Arbeit sollen dazu beitragen diesem Thema die notwendige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, sich ihm sensibel und reflektiv zu widmen und die konkreten Handlungsweisen von padagogischen Fachkraften naher in den Fokus zu rucken. Davon ableitend sollen mogliche Praventionsansatze formuliert werden.
2. Professionelle padagogische Haltung
Mit der Analyse von geschichtlichen und inhaltlichen Aspekten zum Begriff Haltung und mit der Betrachtung von soziologischen und psychologischen Perspektiven ist es den beiden Wissenschaftlerinnen Prof. Dr. Claudia Solzbacher8 und Dr. Christina Schwer9 gelungen den Begriff „professionelle padagogische Haltung" insoweit zu definieren, dass er den vielfaltigen Perspektiven und Einflussen gerecht zu werden vermag.
Nachfolgend sollen ausgewahlte Perspektiven kurz genannt und betrachtet werden, um deutlich zu machen, wie vielschichtig der Begriff „Haltung" ist und welchen Einflussen er unterworfen ist.
2.1 Geschichtlicher Bezug
Der Begriffsursprung "Habitus" kann, ebenso wie der Begriff "Hexeis" ubersetzt werden als Haltung, beziehungsweise "Gehabe" und reicht bis in die Antike zuruck.10
An dieser Stelle wird das erste Mal deutlich, dass Haltung im beruflichen Kontext keineswegs ein neuer Begriff ist. In der Antike wurde Haltung bzw. „Hexeis" als Verstandestugend einerseits und als Charaktertugend andererseits diskutiert, welche sich durch Erziehung herausbildet. Haltung wird als Tugend betrachtet, die allerdings ausschlieRlich auf Wissen aufgebaut sein kann. An dieser Stelle kommen Platon und Sokrates an ihre Grenzen und schreiben „Hexeis" gottlicher Fugung zu, welche somit der individuellen Einflussnahme verwehrt bleibt.11
2.2 Soziologische Betrachtung nach Bourdieu und Elias
Pierre Bourdieu12, hat den Begriff „Haltung" bzw. „Habitus" in den spaten 1960-er Jahren wie folgt beschrieben: Der Habitus eines Menschen ist als sein grundlegendes Selbstverstandnis zu sehen. All das, was ihn als Person ausmacht bestimmt seinen Habitus. Darunter zahlen seine Ausbildung, seine Erziehung und seine Erfahrungen, Wert- und Normvorstellungen, ja sogar sein modischer Geschmack. Der Habitus ist in seinen Augen jedoch nur bedingt bewusst steuerbar.13 14
„Die Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknupft sind erzeugen die Habitusformen als Systeme dauerhafter und ubertragbarer Dispositionen [...].14.
Auch Norbert Leo Elias15 befasste sich bereits vor Bourdieu mit der Definierung von Haltung bzw. Habitus: Der zentrale Aspekt von Elias' Figurationsmodel16 ist die wechselseitige Abhangigkeit der Menschen voneinander und ihre Verflechtungen. Elias' beschreibt, weshalb die Menschen aufeinander angewiesen und voneinander abhangig sind.
„Die Verwendung des Begriffs „Figuration" uberwindet die Polaritat zwischen Individuum und Gesellschaft und hebt damit den prozessualen Charakter hervor, der auch in seiner Terminologie deutlich wird. Elias weist darauf hin, dass „man sich Menschen nie als einzelne vorstellen kann, sondern immer nur als Menschen in Figurationen. Der Figurationsbegriff beschreibt aber nicht nur den Beziehungsaspekt, sondern auch die Wandlungsfahigkeit von Figurationen, die dynamisch sind und sich permanent andern konnen."17
Beiden Annahmen ist gleich, dass sie herausarbeiten, wie wichtig auRere Bedingungen fur die Ausbildung von Haltung sind.
2.3 Psychologische Betrachtung nach Julius Kuhl
Haltung ist jedoch nicht ausschliefclich ein Ergebnis aufcerer Einflusse auf den Menschen, sondern sie entsteht auch aus dem Menschen und seinem „Selbst" heraus und der Art und Weise, wle er auf seine Umwelt reagiert.
Dr. phil., Julius Kuhl18 hat die PSI- Theorie (Personlichkeits- System- Interaktions- Theorie) in den 1970-er Jahren entwickelt. Das Handlungssteuerungsmodell bildet die Basis der Theorie und teilt das Gehirn in 4 Bereiche auf.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung a: PSI-handlungskreislauf 13.06.2016.jpg (k.A. 2016a)
1. Das Absichtsgedachtnis (Intensionsgedachtnis), bildet die kognitive Ebene, in der Menschen ihre nachsten Schritte/Projekte denken, planen und analysieren. Diesem Bereich wird der sogenannte „gehemmt positive Affekt19 " zugeschrieben.
Dieser sorgt dafiir, dass die Dinge logisch und nuchtern betrachtet werden, ohne Emotionen. Dieses System arbeitet eng mit der intuitiven Handlungssteuerung zusammen.20
2. Das Erfahrungsgedachtnis (Extensionsgedachtnis), das Selbst, hat alle Erfahrungen gespeichert, auf welche wirzuruck greifen konnen.
3. Es lasst den Menschen kreativ sein, Zusammenhange verstehen und konkrete Ziele formulieren. Diesem Bereich wird der gehemmt negative Affekt zugeschrieben. Man hat das Gefuhl der Gelassenheit und der Zuversicht, dass alles gut wird.21
4. Die Handlungsausfuhrung (Intuitive Handlungssteuerung) stellt automatisierte Ablaufe zur Verfugung, uber die man nicht mehr nachdenken muss. Diesem System wird der positive Affekt zugeordnet und meint die durchweg positive Grundstimmung, den Tatendrang. Der Mensch hat die Gewissheit, dass er seine Ziele erreichen und seine Bedurfnisse befriedigen kann.22
5. Die Ergebniskontrolle (Objekterkennung) pruft die Umwelt auf Unstimmigkeiten und macht auf Fehler aufmerksam. Diesem System wird der negative Affekt zugeschrieben und meint Gefuhle wie Wut, Enttauschung, Arger. Diese Emotionen befahigen dazu, die Dinge genau zu betrachten. Man ist auf jeden Fehler und auf jede Unstimmigkeit fokussiert. Das hilft, diese klar zu erkennen und zu benennen.23
Alle vier miteinander interagierenden Teilsysteme bestimmen das Denken und Handeln eines Menschen und seine Haltung. Nach Ansicht der Autoren ist die Haltung des Menschen das Ergebnis des Zusammenwirkens und Funktionierens der beschriebenen Teilsysteme. Jeder Mensch ist grundsatzlich in der Lage alle vier kognitiven Systeme zu nutzen, um erfolgreiche Handlungen durchzufuhren. Haufig unterscheiden sich Menschen jedoch darin auf welche Systeme sie bevorzugt zugreifen. Die Praferenz fur unterschiedliche Verarbeitungsmodi erklart die Einzigartigkeit eines jeden Menschen.
Je nach Auspragung und Interaktion der vier kognitiven Systeme ergeben sich Wechselwirkungen, die jedem Menschen einen individuellen Personlichkeitsstil verleihen.
Den meisten Menschen fallen einige Schritte leicht, zu anderen mussen sie sich mehr uberwinden. Besonders dann, wenn die Anforderungen oder zu uberwindenden Schwierigkeiten herausfordernd sind.24 25
2.4 Der Begriff Professionalitat
In der Literatur lassen sich diverse Diskurse und Definitionen zum Terminus Professionalisierung und Professionalitat finden. Die fur diese Arbeit relevante Begriffsklarung findet sich in „Elementar + Professions!!- Die Akademisierung der elementarpadagogischen Ausbildung in Deutschland"[25], welche sich an den wissenschaftlichen Erkenntnissen von Ursula Raabe-Kleberg und Ulrich Oevermann orientieren. Professionalitat lasst sich in drei in wesentliche Charakteristika zusammen fassen:
„Die „wertgebundene Haltung, wobei sich das Wertmuster aus der kognitiven Rationalitat sowie dem Zusammenspiel von Selbstverwirklichung und sozialer Verantwortlichkeit zusammensetzt"26
Wie bereits im Kapitel 2.2 und 2.3 erlautert, geht Haltung mit personlichen Einstellungen, Normen und Werten einher, welche individuell und uber die Lebensspanne veranderbar sind und durch Sozialisation und Erfahrungswissen erworben werden. Die Art und Weise, sowie intrinsischen Mechanismen wie die Dinge bewertet und betrachtet werden, lassen sich psychologisch, anhand der PSI- Theorie erklaren.
„Habitualisierte Orientierung an den Verfahrensnormen des Diskurses; durch Wissen begrundetes Selbstvertrauen; uber einen ,ingenierurale' Modus hinausgehender interventionspraktischer Modus der Wissensanwendung, der grundsatzlich auch eine nicht standardisierbare Komponente umfasst."27
Auch in dieser beschriebenen Charakteristika geht es um Haltung und die Art und Weise, in wie weit eine padagogisch professionelle Haltung Orientierung bietet.
Das berufsbezogene Fachwissen gibt dabei Handlungssicherheit, welche sich dadurch auszeichnet, dass sie nur selten formell abzurufen ist, sondern vielmehr in unvorhergesehenen Situationen spontan zu Losungen verhilft. Der benannte ingenierurale Modus meint die formelle und wiederkehrende Abfolge bzw. Abfrage von Fachwissen auf wiederholt auftretende Probleme. In anderen Fachbereichen, in denen es um industrielle oder administrative Ablaufe und Verfahren geht, wird es nur selten unvorhergesehene und unplanbare Situationen geben, welche entsprechend spontane Reaktionen erfordern. In der sozialen Arbeit ist dies eben nicht der Fall. Die Fachkrafte mussen in der Lage sein, spontan, intuitiv und dennoch mit der entsprechenden Fachlichkeit und Haltung reagieren zu konnen, damit ihr professionelles Handeln nachvollziehbar und begrundet bleibt.
Der interventionspraktische Modus der Wissensanwendung meint die fachlich begrundete Reaktion auf Klientenverhalten, welche darauf gerichtet ist, zu unterstutzen, zu schutzen, zu fordern oder bzw. zu fordern.
Die Arbeit mit Menschen und ihren individuellen Bedarfen und Erfordernissen lasst sich nur sehr selten in ein Schema legen und damit auch nur sehr schwer standardisieren.
„Fallspezifische Intervention im Arbeitsbundnis mit Klienten; Handeln unter Bedingungen der Nichtfinalisierbarkeit, des Handlungszwangs, der Ungewissheit, konkurrierender Deutungen sowie der latenten oder manifesten Krisenhaftigkeit der jeweiligen Situation“28
Die dritte beschriebe Charakteristika von Professionalitat geht auf die konkrete Arbeit mit und am Menschen ein. Sie beschreibt den Umstand, dass die konkrete Fallarbeit nicht abgeschlossen werden kann, wie der Zusammenbau einer Maschine, die eben irgendwann fertiggestellt ist. In diesem Kontext ist es mitunter schwierig motiviert und engagiert zu bleiben, wenn die Ergebnisse der eigenen Arbeit sehr spat oder subjektiv gar nicht zu erkennen sind. Professionalitat bedeutet, mit dieser Art der Herausforderung langfristig umgehen zu konnen und sich andere Wege der Motivation zu suchen bzw. sich diesem Umstand auch stets bewusst zu sein. Eine weitere Herausforderung ist die Tatsache, dass anstehende Aufgaben bzw. fachliche Reaktionen nur auRerst selten einen Aufschub dulden. Es ist direkt zu reagieren und ggf. zu intervenieren, wenn es die Situation erfordert, ganz unabhangig von den personlichen Bedurfnissen oder Umstanden der zur Reaktion aufgeforderten Fachkraft. Und nur weil die Fachkraft direkt zu reagieren vermag, bedeutet dies noch nicht, dass sie auch direkt in der Lage ist die unvorhergesehene Situation zu beherrschen.
Mit den konkurrierenden Deutungen sind fachliche Meinungen zu verstehen, welche durchaus voneinander abweichen, ja sogar grundsatzlich verschieden sein konnen. Jede Fachlichkeit ist beeinflusst durch personliche Haltungen, Einstellungen und gemachte Erfahrungen, welche mit aktuellen emotionalen Zustanden und Befindlichkeiten gefarbt sind. Nun konnte man sagen, dass Professionalitat genau dies zu vermeiden vermag. SchlieRlich orientiert sie sich ja an wissenschaftlichen Erkenntnissen und weiR diese zu nutzen29. Jede professionelle Fachkraft ist jedoch auch ein Mensch und damit nicht vollig frei von Einflussen, welche die eigene Fachlichkeit beeinflussen.
Nach dem der Begriff der Professionalitat allgemein betrachtet wurde soil es im nachfolgenden Kapitel um das professionelle Selbst gehen, welches sich doch vom Professionalitatsbegriff allgemein unterscheidet.
2.5 Das professionelle Selbst nach Bauer
„Padagogisch professions!! handelt eine Person, die gezielt ein berufliches Selbst aufbaut, dass sich an berufstypischen Werten orientiert, die sich eines umfassenden padagogischen Handlungsrepertoires zur Bewaltigung von Arbeitsaufgaben sicher ist, die sich mit sich und anderen Angehorigen der Berufsgruppe Padagogen in einer nicht alltaglichen Berufssprache zu verstandigen in der Lage ist, ihre Handlungen unter Bezug auf eine Berufswissenschaft begrunden kann und personlich die Verantwortung fur Handlungsfolgen in ihrem Einflussbereich ubernimmt.30 Bauer benennt in seiner Definition 5 Aspekte, welche in seinen Augen das professionelle Selbst ausmachen. In seinen Annahmen geht er vom Berufsstand der Lehrer aus. Ich denke, dass man diese durchaus auch auf Padagogen allgemein ubertragen kann. Ich beziehe mich ausschlieRlich auf den Bereich der Kindertagesstatten.
1. Es geht um berufstypische Werte. Ich sehe an dieser Stelle vor allem das „Bild vom Kind" als berufstypischen Wert an. Die Annahme, dass jedes Kind lernen mochte und Akteur seiner eigenen Entwicklung ist und die damit verbundene begleitende und wertschatzende Haltung dem Kind gegenuber, ist als berufstypische Wertvorstellung zu sehen.31
2. Das angesprochene Handlungsrepertoire der Erzieher meint die Methodenvielfalt einerseits, welche dem Padagogen ermoglicht, Kindern auf unterschiedlichste Weise Wissen zu vermitteln und andererseits geht es um alle Fahigkeiten und Fertigkeiten, die es dem Erzieher ermoglichen, seinen taglichen Arbeitsablauf zu bewaltigen. Also beispielsweise Zeitmanagement, strukturiertes Arbeiten, die Fahigkeit spontan richtig zu handeln oder auch mit Eltern in den fachlichen Austausch treten zu konnen.32
3. Fachgesprache finden taglich statt und ermoglichen es den Padagogen sich berufsbezogen auszutauschen und zu verstehen.
4. Padagogen mussen in der Lage sein, ihr padagogisches Handeln jederzeit rechtfertigen und begrunden zu konnen. Die Begrundbarkeit ihres fachlichen Handelns unterscheidet ihr Tun grundlegend vom rein intuitiven, nicht fachlich gepragten Handeln von Eltern.33
5. Mit der Begrundbarkeit des fachlichen Handelns ist der Padagoge gleichermaRen in der Lage fur sein Handeln Verantwortung zu ubernehmen und dies zu rechtfertigen. An dieser Stelle sehe ich beispielshaft das groRe Feld der Aufsichtspflicht, auf welches auf Grund des eingeschrankten Platzes, nicht naher eingegangen werden kann.
2.6 Der Haltungsbegriff nach Schwer und Solzbacher
„Eine professionelle Haltung ist ein hochindividualisiertes Muster von Einstellungen, Werten, Uberzeugungen, dass durch einen authentischen Selbstbezug und objektive Selbstkompetenzen zustande kommt, die wie ein innerer Kompass die Stabilitat, Nachhaltigkeit und Kontextsensibilitat des Urteilens und Handelns ermoglicht, sodass das Entscheiden und Handeln eines Menschen einerseits eine hohe situationsubergreifende Koharenz und Nachvollziehbarkeit und andererseits eine hohe situationsspezifische Sensibilitat fur die Moglichkeiten, Bedurfnisse und Fahigkeiten der beteiligten Personen aufweist. Padagogisch wird die Haltung durch ihren Gegenstandsbezug"34
Folgende Konsequenzen haben Schwer und Solzbacher anhand ihrer Definition zu professioneller padagogischer Haltung erarbeitet35: „Eine professionelle Haltung akzeptiert die personliche Erstreaktion und verbindet sie mit einer gut entwickelten Zweitreaktion“
Die Erstreaktion ist die individuelle, emotional-kognitive, spontane Reaktion auf eine Situation. Zu den Einflussfaktoren fur die Erstreaktion zahlen Wertvorstellungen, Affekte, intentionale Zustande (Wunsche, Bedurfnisse, Absichten), sowie Konzepte und Einstellungen. Die Zweitreaktion meint den selbstregulierten Umgang, die durch die Erstreaktion gegeben ist. Dazu gehoren die vier Teilsysteme des Handlungssteuerungsmodells (siehe Abb. a) und die Selbstkompetenzen, welche die Interaktion dieser Teilsysteme miteinander ermoglichen. Selbstkompetenz ist beispielsweise die Fahigkeit, sich selbst zu regulieren und zu motivieren.
Die Erstreaktion ist das, was jeden Mensch befahigt spontan und direkt auf eine Situation zu reagieren. Wie bereits beschrieben ist die Art und Weise wie reagiert wird abhangig von den Einstellungen und Uberzeugungen, aber auch von der aktuellen emotionalen Grundstimmung.
Auf Grund der Individualitat der Erstreaktion bzw. ihren wiederkehrenden Mustern ging man lange davon aus, dass man Haltung allein daran erkennen konne. Die Erstreaktion ist jedoch nicht wirklich trainierbar bzw. veranderbar. Sie ist ein nicht wegzudenkender Teil der Identitat des Menschen. Die Moglichkeit, in einer Situation abweichend zu reagieren und dies durchaus bewusst zu steuern, wird Zweitreaktion genannt.
Die Erstreaktion einer Person legt haufig auch den ersten Eindruck fest, den man von dieser Person gewinnt. Lernt man diese nun naher kennen, lernt man wo moglich auch ihre Fahigkeit kennen, ihre Reaktionen an Situationen anzupassen.
„Die Kombination aus dem fur eine Person charakteristischen Profil von Erstreaktionen (...) und der Fahigkeit, bei Bedarf, auch das jeweils entgegengesetzte Verhalten (als Zweitreaktion), vergrofiert nicht nur die Kontextangemessenheit des eigenen Verhaltens, sondern bildet auch den Motor fur die Entwicklung des Selbst und alle von diesem System abhangigen Selbstkompetenzen"36
„Nicht jede Haltung charakterisiert auch eine „professionelle padagogische Haltung“
Professionell padagogisch wird die Haltung dann, wenn diese ins Selbst der Person integriert ist und intuitiv gesteuert wird.
„Die professionelle Haltung wird durch auBere Rahmenbedingungen selbst kongruent mitbestimmt und determiniert umgekehrt auch die auBeren Rahmenbedingungen“
Eine festintegrierte Haltung lasst sich nur dann verandern wenn die Rahmenbedingungen in ausreichend hohem MaRe verandert sind und sich diese Veranderungen auch nicht mehr durch kreative Adaption anpassen lassen.
„Die mit einer im Selbst verankerten Haltung verbundene Flexibilitat beruht auf der Offenheitfur Erfahrung, die mit selbstkongruenten Entscheidungen verbunden ist."37
Es ist also anzunehmen, dass Haltung durchaus auch von auReren Rahmenbedingungen verandert werden kann, aber auch die Rahmenbedingungen selbst durch Haltung veranderbar sind. Ubertragt man diese Erkenntnis nun auf die Kindertageseinrichtung, stellt sich die Frage, welche Rahmenbedingungen padagogische Fachkrafte benotigen, um eine professionelle padagogische Haltung zu entwickeln, weiterzubilden bzw. zu erhalten und diese dann auch schutzend wirkt, in Hinblick auf grenzverletzendes Verhalten.
2.7 Berufliche Kernkompetenzen der padagogischen Fachkraft
Im vorangegangen Kapitel wurden intensiv die Begrifflichkeiten herausgearbeitet, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen padagogische Haltung entsteht und was es bedeutet professionell zu arbeiten. Nun soll es um die Frage gehen welche Kernkompetenzen konkret erforderlich sind, um padagogisch professionell handeln zu konnen.
Um sich dem Begriff der Kompetenz im ersten Schritt allgemein zu nahern, erscheint es zunachst sinnvoll, sich einen Uberblick uber die verschiedenen Kernkompetenzen von padagogischen Fachkraften zu verschaffen.
Handlungskompetenz wird als Fahigkeit verstanden, situationsgerecht, sensibel und angemessen zu reagieren und Probleme bzw. Aufgaben erfolgreich zu bewaltigen.38 ' Die Dimensionen der Fach, -Methoden -Selbst,- und Sozialkompetenz bilden dabei die Grundlage fur berufliche Handlungsfahigkeit.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung b: Frohlich-Gildhoff, Nentwig-Gesemann et al. 2011 - Kompetenzorientierung in der Qualifizierung fruhpadagogischer.jpg (Frohlich-Gildhoff et al. 2011)
Unter dem Begriff Fachkompetenz versteht man alle berufsbezogenen Fahigkeiten, Fertigkeiten und das (fachubergreifende) berufsbezogene Wissen, welches sich die Fachkraft im Zuge ihrer Ausbildung und fachpraktischen Arbeit, sowie in Weiterbildungen aneignet und anwenden kann. Die Fachkompetenz zahlt zu den sogenannten Hardskills, womit jene Fahigkeiten der Fachkraft gemeint sind, welche durch Zeugnisse, Urkunden und der gleichen messbar bzw. direkt erkennbar sind und sich direkt auf das berufliche Fachwissen und Konnen beziehen.39
Methodenkompetenz beinhaltet die Fahigkeit, Informationen zu beschaffen, zu strukturieren, auszuwerten, wiederzuverwerten, darzustellen, Ergebnisse von Verarbeitungsprozessen richtig zu interpretieren und sie geeignet zu prasentieren. Ferner gehort dazu die Fahigkeit zur Anwendung von Problemlosungstechniken und zur Gestaltung von Problemlosungsprozessen.40
Die Selbstkompetenz oder auch Humankompetenz meint alle Anlagen, welche die Fachkraft in sich tragt und fur sich nutzt. Zum Bereich der Selbstkompetenzen zahlen beispielsweise die Fahigkeit, sich selbst zu regulieren, zu reflektieren, zu strukturieren und/ oder mit Frust angemessen umzugehen. Es meint auch die Fahigkeit fur sich und das eigene Wohlbefinden Verantwortung zu ubernehmen, sich abgrenzen und vor ubermaRigem Stress schutzen zu konnen.
Die Dimension der Sozialkompetenz meint alle Fahigkeiten der Fachkraft die auf ihre Umwelt und die Menschen, mit denen sie arbeitet, gerichtet sind. Dazu zahlt neben dem Klientel bzw. den Adressaten der padagogischen Arbeit auch das Team, welchem die padagogische Fachkraft angehort, als auch alle Personen in ihrem beruflichen Netzwerk. Mit sozialen Kompetenzen sind unter anderem Fahigkeiten gemeint wie Teamfahigkeit, Empathie, Kompromissbereitschaft und Konfliktfahigkeit. Die Selbstkompetenz, als auch die Sozialkompetenz zahlen zu den sogenannten Softskills einer Person, sie sind fachunabhangig.
[...]
1 Der einfacheren Lesbarkeit halber wird in dieser Arbeit ausschlieRlich in der mannlichen Form geschrieben. Es sind immer automatisch alle relevanten Geschlechtsbeschreibungen gemeint und angesprochen.
2 Vgl. Sting et al. 2012, S. 12.
3 Vgl. Sting et al. 2012, S. 15.
4 Vgl. R.Textor.
5 Vgl. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, S. 14.
6 Thinschmidt et al. 2008 und Schad 2003.2003
7 Birgit Lattschar 2014.
8 Geb. 1956, Lehrstuhl fur Schulpadagogik an der Universitat Osnabruck und Leiterin der Forschungsstelle Begabtenforderung des niedersachsischen Instituts fur fruhkindliche Bildung und Entwicklung
9 Geb. 1972, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstelle Begabtenforderung des niedersachsischen Instituts fur fruhkindliche Bildung und Entwicklung
10 Schwer 2014, S. 48
11 Vgl. Schwer 2014, S. 49.
12 Soziologe und Philosoph (1930- 2002)
13 Vgl. Schwer 2014, S. 49.
14 Vgl. Bourdieu 1998 S.99
15 Soziologe (1897- 1990
16 k.A. 2016b: Dabei wird das soziale Zusammensein, ein soziales Netzwerk, von Individuen untersucht, die voneinander abhangig sind. Dies konnen Familien, Haushaltsgemeinschaften oder auch Vereine sein, bei dem Menschen mit gemeinsamen Interessen zusammen kommen und eine soziale Beziehung miteinander eingehen.
17 Frerichs 2014.
18 Geb. 1947, Professor fur Differential Psychologie und Personlichkeitsforschung an der Universitat Osnabruck
19 Affekte sind kurzfristige, unbewusste Gefuhlszustande und konnen nicht versprachlicht werden. Sie sind Bediirfnismelder. PAWLIK, S. 6 ;k.J.
20 Vgl. Schwer, S. 87-88.
21 Vgl. Schwer 2014, S. 88-89.
22 Vgl. Schwer 2014, S. 89-91.
23 Vgl. Heise k.A. und Schwer 2014, S. 92-93.
24 PAWLIK, S. 9.
25 Konig und Pasternack 2008, S. 19-24.
26 Konig und Pasternack 2008, S. 28.
27 Konig und Pasternack 2008, S. 107-120.
28 Konig und Pasternack 2008, S. 28.
29 Vgl. Konig und Pasternack 2008, S. 19.
30 Bauer und Karl-Oswald 1998.
31 Sting et al. 2012S. 15
32 Methodisches Handeln ist - definitionsgemaR - zielgerichtetes Handeln. Es folgt bestimmten Prinzipien und vollzieht sich in bestimmten Arbeitsschritten, bei denen Verfahren und Techniken berucksichtigt werden" (Heiner 1995, S. 35)
33 Forster k.J, S. 60.
34 Schwer, 2014, S. 107.
35 Vgl. Schwer 2014, S. 109-117.
36 Schwer 2014, S. 112.
37 Schwer 2014, S. 117.
38 Vgl. Bartscher'Kompetenzbegriff
39 Vgl. Bartscher.- Fachkompetenz, k.J
40 Vgl. Bartscher.- Methodenkompetenz, kJ