Mitten in Europa gehen unglaubliche Dinge vor sich, die sich in der industrialisierten Welt von heute kaum jemand vorstellen kann: zu einer Zeit, in der man glaubt, alle lebenden Sprachen seien weit genug entwickelt, um sich jederzeit technischen Neuerungen anpassen zu können, sich einige von ihnen (die angeblich modernsten) zu Lingua francas entwickelt haben und die Existenz von Minderheitensprachen bedrohen, droht auch ihnen wieder Gefahr. Namentlich Englisch, der ‚Todesengel’, der an so vielen Orten der Welt wohl die meisten Sprachen überflüssig machte und verdrängte, bekommt nun Konkurrenz. Schon stellt sich der Leser unweigerlich die Frage wie das möglich sein soll. Diego Marani liefert dazu die Antwort: Europanto heißt das Zauberwort. Ein Sprachsystem, vom Grade der Entwicklung her betrachtet, noch ‚in den Kinderschuhen steckend’, soll dem Englischen den Garaus machen. Oberflächlich betrachtet klingt dies eher abenteuerlich, ja nahezu absurd. Beleuchtet man die Hintergründe jedoch genauer, kann dieser ‚Kriegserklärung’ durchaus Ernsthaftigkeit abgerungen werden.
Mitten in Europa gehen unglaubliche Dinge vor sich, die sich in der industrialisierten Welt von heute kaum jemand vorstellen kann: zu einer Zeit, in der man glaubt, alle lebenden Sprachen seien weit genug entwickelt, um sich jederzeit technischen Neuerungen anpassen zu können, sich einige von ihnen (die angeblich modernsten) zu Lingua francas entwickelt haben und die Existenz von Minderheitensprachen bedrohen, droht auch ihnen wieder Gefahr. Namentlich Englisch, der ‚Todesengel’, der an so vielen Orten der Welt wohl die meisten Sprachen überflüssig machte und verdrängte, bekommt nun Konkurrenz. Schon stellt sich der Leser unweigerlich die Frage wie das möglich sein soll. Diego Marani[1] liefert dazu die Antwort: Europanto[2] heißt das Zauberwort. Ein Sprachsystem, vom Grade der Entwicklung her betrachtet, noch ‚in den Kinderschuhen steckend’, soll dem Englischen den Garaus machen. Oberflächlich betrachtet klingt dies eher abenteuerlich, ja nahezu absurd. Beleuchtet man die Hintergründe jedoch genauer, kann dieser ‚Kriegserklärung’ durchaus Ernsthaftigkeit abgerungen werden.
Was genau aber ist Europanto? Befragt man einschlägige Enzyklopädien im Internet, stößt man auf die beinahe gleichlautende Antwort, Europanto sei eine Plansprache oder künstliche Sprache, die sich aus den „Amtssprachen der Europäischen Union“[3] zusammensetzt, sich, strukturell betrachtet, an das Englische anlehnt und keinerlei grammatische Regeln besitzt. Gibt es überhaupt eine Regel für die Anwendung, so ist es die „Kreativität der Sprecher“[4]. Marani jedoch, der in den genannten Enzyklopädien als Urheber[5] dieser ‚Sprache’ gilt, beschreibt diese so:
„ ... many readers might think that this is a new artificial language, constructed from the major European
languages with the aim of becoming a universal language. This is only partly true, however. Europanto is a
mixture of words and grammatical structures borrowed from a number of different languages which anyone
of average culture with a basic knowledge of English can understand. But it is not a language, nor is it
intended to become one. At least not yet. Europanto is a linguistic code of conduct, a series of guidelines or
‚precautions’ to be taken if we want to communicate with someone who does not speak the same language
as ourselves without using a specific lingua franca”.[6]
Obwohl Europanto diesem Verständnis nach noch keine ‚komplette’ Sprache ist, handelt es sich doch um ein linguistisches Phänomen wie einst die Entwicklung der Plansprache Esperanto durch den Augenarzt Ludwig Zamenhof. Den Vergleich mit dieser, aber auch mit anderen künstlichen Sprachen, muß sich Europanto immer wieder gefallen lassen, zu Unrecht wie sich bei genauerer Untersuchung herausstellt. Betrachtet man die Ausgangssituation beider Sprachen intensiver, findet man neben wenigen Gemeinsamkeiten sehr gravierende Unterscheidungsmerkmale, die klarstellen, warum eine kontrastive Herangehensweise keine ausreichende Grundlage für sprachwissenschaftliche Forschung bieten kann: Esperanto als das Ergebnis bewußter Sprachplanung ‚entstand’ 1887[7], zu einer Zeit also, als die gesellschaftliche Situation nicht nur aus humanistisch geprägter Sicht zu eskalieren drohte. Das Zusammenwachsen der Staaten durch erhöhte Mobilität brachte zwar intensivere Geschäftsbeziehungen mit sich, diese allerdings förderten die Entstehung der Ungleichheit unter den Nationen[8]. Zamenhof, der sich als polnischer Jude selbst der Unterdrückung ausgesetzt sah, empfand die Existenz der verschiedenen Sprachen als eine der Hauptursachen für dieses Ungleichgewicht. Er suchte nach einer Lösung für dieses Problem und fand sie, indem er das, bis heute erfolgreichste, Plansprachenprojekt Esperanto ins Leben rief[9]. Diese Sprache besaß den Vorteil politischer und kultureller Neutralität gegenüber natürlichen Sprachen, die immer an eine spezifische Kultur gebunden sind[10] und deshalb für eine internationale Verständigung der Völker untereinander denkbar ungeeignet sind, da sich, ganz nach darwinistischer Manier, jeweils die Sprache der ökonomisch stärksten Gesellschaftsform über andere erhebt.[11] Esperanto sollte ausschließlich dem Zweck internationaler Kommunikation dienen, somit bestände für Nationalsprachen keine existentielle Bedrohung.[12]
Aus linguistischer Sicht bietet diese Plansprache einen nicht minder entscheidenden Vorteil: sie ist leicht und in relativ kurzer Zeit erlernbar, da die wenigen grammatischen Regeln kaum Ausnahmen kennen.[13] Was aber macht eine Plansprache zu einer tatsächlich international bedeutsamen und funktionierenden Sprache? Detlev Blanke versucht, eine Antwort zu geben:
„Eine Plansprache kann nur dann als internationales Kommunikationsmittel voll funktionieren, wenn sie
sich den sich ständig verändernden Kommunikationsbedürfnissen elastisch anpaßt, sich entwickelt und
gleichzeitig stabil bleibt.“[14]
Im folgenden beschreibt er die optimalen Voraussetzungen, die bei Esperanto gegeben seien, dennoch zeichnet die heutige Praxis ein anderes Bild: Esperanto und auch all die anderen sog. „Plan- und Semiplansprachen“[15] spielen in der Gesellschaft nur eine marginale Rolle, finden lediglich Beachtung und Unterstützung in speziellen Vereinigungen. Esperanto zu lernen und sich mit anderen Sprechern auszutauschen, gilt heute bestenfalls als Hobby, als harmlose Spielerei elitärer und gelangweilter „Enthusiasten“[16]. Eine Begründung für diesen ‚trostlosen’ Zustand findet Diego Marani, indem er sagt: „ ... the resons that lay behind its creation were rooted in the past, in situations that very quickly ceased to exist.“ Die innere Struktur einer Sprache ist demzufolge in geringerem Maße ausschlaggebend für den Erfolg, als der Einfluß äußerer Faktoren.[17]
Die Gesamtsituation heutzutage ist kaum eine andere als zu Zeiten Zamenhofs: zwar geben Feindseligkeiten der Völker untereinander nicht mehr primär den Ausschlag für die Erschaffung einer universellen Sprache, die Globalisierung schreitet voran, doch ist an Ideologien, wie beispielsweise den Wunsch nach Gleichheit aller Nationen, nicht mehr zu denken. Vielmehr setzen die stärksten Industrienationen ihren Weg unaufhaltsam fort, und die einzige Sprache, die in nahezu allen Bereichen der internationalen Kommunikation angewandt wird, ist Englisch. Alle Versuche, eine vom Menschen geschaffene Universalsprache einzuführen, sind gescheitert: eine ‚natürlich gewachsene’ Sprache hat allen Planprojekten den Rang abgelaufen. Marani bemängelt genau diesen Zustand. Ursprünglich wurde Englisch nur als Verkehrssprache eingesetzt, wenn es darum ging, Kontakte zu englischsprachigen Ländern zu unterhalten. Diese Länder besitzen heute den größten ökonomischen Einfluß und ihre Sprache wird als internationales Mittel der Kommunikation in fast allen Bereichen eingesetzt, obwohl es sich, ausgehend von der Sprecherzahl, um eine Minderheit handelt.
Das Englische ist mit kulturellen und wirtschaftlichen Werten verknüpft wie jede andere Sprache auch, aber das ‚Weltenglisch’ ist längst auch durch andere Kulturen geprägt worden, ist gekennzeichnet durch Wendungen, die in der Nationalsprache undenkbar sind. In diesem Licht betrachtet, handelt es sich hierbei auch schon um eine konstruierte Sprache.[18] Menschen unterschiedlicher Nationalität und Sprachkompetenz nutzen sie, wobei dem Wunsch, gewisse Dinge zu kommunizieren, häufig nicht in ausreichendem Maße Rechnung getragen werden kann.[19] Marani gibt zu bedenken, daß der gleiche Informationsgehalt ebensogut durch Gestikulation erreicht werden könne. Hier entstehen Schwierigkeiten in der Übermittlung bestimmter Inhalte. Gelangt ein Gespräch an diesen Punkt, ist Englisch als einziges Medium der Kommunikation nicht mehr in der Lage, eine Überbrückung zu gewährleisten. Das gleiche würde jedoch auch für alle anderen „Ethnosprachen“[20] gelten. Plansprachen können dieses Defizit in der Kommunikationsleistung ebenfalls nicht ausgleichen, denn, so das Hauptargument: man müßte auch diese erst erlernen. Einen Ausweg könnte, mangels Alternativen, Europanto bieten.
Allen bisherigen Überlegungen zufolge handelt es sich bei Europanto weder um eine künstliche, noch um eine Nationalsprache. Schon wurde zur Beschreibung dieses Phänomens der Terminus „Pidginsprache“ herangezogen.[21] Wenn dem so sei, könnte diese Sprache eine Zukunft haben und zur Kreolsprache ‚reifen’[22]. Dazu müßten gewisse Voraussetzungen erfüllt werden, die derzeit noch undenkbar sind. Bevor jedoch Überlegungen über Zukunftsperspektiven angestellt werden können, sollte die augenblickliche Situation näher in Augenschein genommen werden.
Eine Form des Europanto hat sicher jeder (ohne es zu bemerken) schon angewandt, der einmal in die Verlegenheit gekommen ist, mit einer Person anderer Nationalität in einer ‚dritten’, einer Art Verkehrssprache, kommunizieren zu müssen. Aufgrund unterschiedlicher Kompetenz kann es dann zu Verständigungsproblemen kommen und es kann nötig werden, noch weitere (beiden Personen bekannte) Begriffe aus anderen Sprachen zu Hilfe zu nehmen. Nehmen wir an, die Grundlage wäre Englisch und, zur besseren Verständigung, kämen Begriffe aus dem Französischen, Deutschen und/oder beliebig vielen anderen Sprachen hinzu. Sofern die Voraussetzung erfüllt ist, daß beide Gesprächspartner sowohl verstehen als auch verstanden werden, ist diese Art der Kommunikation die beste Möglichkeit, auch schwierigere Inhalte erfolgreich zu vermitteln. Es ist nicht nötig, diese neue Sprache vor dem Gebrauch zu erlernen, denn sie bildet sich „spontan“ und „anarchisch“[23], und genauso schnell wie sie entsteht, verschwindet sie nach Beendigung des Gespräches wieder.
Derzeit gibt es eine einzige Sprachdomäne, in der diese Form von Kommunikation, seit fast zehn Jahren erfolgreich funktioniert: außerhalb der offiziellen Begegnungen, in den Gebäuden der Europäischen Union in Brüssel. Zwar gibt es für alle elf Amtssprachen Dolmetscher, aber bei privaten Treffen, die nicht in Sitzungssälen stattfinden, ist aus Mangel an Sprachkompetenz, „aus schierer Notwendigkeit heraus ein simpler Jargon entstanden, eine wilde Mischung aus sämtlichen Sprachen Europas“.[24]
Die gesprochene Version wird kaum belegbar sein, aber wie die Schriftform aussehen kann, zeigt dieser kleine Ausschnitt aus einem Artikel Maranis:
[...]
[1] Der Italiener Diego Marani arbeitet als Übersetzer im Generalsekretariat des Ministerrates der Europäischen Union in Brüssel. Er schrieb diverse Kolumnen (ausschließlich satirische Artikel) in Europanto für die belgische Zeitung „Le Soir illustré“ und die schweizer Zeitung „Le Temps“. Darüberhinaus hat er das erste und bisher einzige Buch in dieser Sprache veröffentlicht. Dieses trägt den Titel „Las Adventures des inspector Cabillot“ und ist 1999 in Paris bei Mazarine erschienen. Das Buch enthält sieben Geschichten, außerdem eine Einführung in Europanto in acht Lektionen. Vgl. Kusmer.
[2] Der Name ist eine Zusammensetzung (wird auch als „portmanteau combination“ bezeichnet) aus dem Wort Europa und dem griechischen Stamm πάντ- (alles). Die Ähnlichkeit mit Esperanto ist beabsichtigt. Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Europanto und http://de.wikipedia.org/wiki/Europanto. Im folgenden wird Europanto als Sprache bezeichnet, gleichwohl es nach dem Verständnis Maranis noch nicht diesen Anspruch erhebt. Im Ethnologue wurde sie immerhin bereits als Sprache eingeordnet und mit einem Code versehen.
[3] „Sprachenmix aus 42 Prozent Englisch, 38 Prozent Französisch, 15 Prozent weitere EU-Sprachen und 5 Prozent Phantasie.“. http://de.wikipedia.org. Vgl. auch http://en.wikipedia.org/wiki/Europanto, http://www.ethnologue.com/show_language.asp?code=eur,
http://www.worldwidewords.org/turnsofphrase/tp-eur2.htm und
http://www.kiosk-hatier.com/kultur/fiche_lkunde.php?id_lkunde=1.
Woher die genauen Zahlen stammen ist nicht nachvollziehbar, denn Marani nennt deshalb keine Zahlen, weil die Sprache sich immer, ausgehend von den Muttersprachen der Sprecher, neu zusammensetzt. Vgl. Marani: http://www.europanto.contagions.com/gram.en.html.
[4] Vgl. wikipedia, worldwidewords und ethnologue.
[5] Als solcher kann Marani deshalb nicht verstanden werden, weil er diese Sprache weder geplant, noch erschaffen hat. Er hat ihr wahrscheinlich zu ihrem Namen verholfen und sie erstmals literarisch verwendet. Den äußeren Rahmen hat er also geschaffen, der tatsächliche Ursprung aber, ist nicht geklärt.
[6] Marani: http://www.europanto.contagions.com/gram.en.html.
[7] Vgl. Blanke: 1f.
[8] Vgl. Quednau: http://www.forst.uni-muenchen.de/EXT/PUBL/quednau/Esperanto.html.
[9] ebd.
[10] Vgl. Hagège: 135ff.
[11] Vgl. Quednau und Marani.
[12] Vgl. Quednau.
[13] Vgl. u.a. Quednau.
[14] Blanke: 24.
[15] Blanke: 17ff.
[16] Vgl. Marani.
[17] Blanke erwähnt auch die Tatsache, daß Esperanto „ ...ständig einem gewissen Einfluß seitens der verschiedenen Muttersprachen seiner Sprecher ausgesetzt ...“ sei, jedoch berücksichtigt diese Beobachtung keine weiteren Faktoren, z.B. welche kulturellen Hintergründe außerdem eine entscheidende Rolle spielen können: 26.
[18] Marani: „This phenomenon has generated a new language which is quite separate from the culture of the original language and very different from both British and American English.“.
[19] Vgl. Marani.
[20] Blanke: 16ff.
[21] Vgl. Spektrum der Wissenschaft: 49.
[22] Vgl. Dixon: 105.
[23] ebd.
[24] ebd.
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- Silke Hübner (Author), 2005, EUROPANTO - Eine Sprache ohne Zwangsstrukturen. Bereicherung oder Bedrohung der Sprachenvielfalt Europas?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46408
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