Leseprobe
Ist Familiengeschichte eine Form der Reflektion oder eine versuchte Rechtfertigung der Vergangenheit? Am Beispiel Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders.
Der Reiz an Familiengeschichten, die sich auf den zweiten Weltkrieg beziehen, besteht in der „konsequenten Zusammenbindung von Geschichte, Gesellschaft und Familie“ (Assmann 2005: 24). Seit den 90er Jahren gehören Familiengeschichten aus dem Nachkriegsdeutschland, wie Am Beispiel meines Bruders von Uwe Timm zur gängigen Literatur. Die Generationen nach dem zweiten Weltkrieg, dessen Geschwister oder Eltern im Krieg lebten und aufwuchsen, sind immer mehr daran interessiert, mehr über die Hintergründe und Motive ihrer Familienmitglieder herauszufinden, welche sich dem Nationalsozialismus angeschlossen oder dagegen gekämpft haben.
Familiengeschichten fokussieren sich „auf ein fiktives oder autobiographisches Ich, das sich seiner/ihrer Identität gegenüber der eigenen Familie und der deutschen Geschichte vergewissert“ (Assmann 2005: 26). So auch Autor Uwe Timm. Er erzählt die Geschichte seines älteren Bruders, der sich freiwillig zur Waffen-SS des Nationalsozialismus meldet und schließlich 1943 in Russland dem Krieg zum Opfer fällt. Dabei setzt er sich mit seiner Vergangenheit auseinander, was ihm nicht immer ganz leichtfällt. Er stößt dabei unter anderem auf die Frage, in wie weit sein Bruder dem Nationalsozialismus zugetan war. Aber auch mit seinem Vater setzt er sich beim Schreiben auseinander. Uwe Timm ist nicht der einzige, der solch ein Interesse an der historischen und familiären Vergangenheit zeigt. Die Frage ist, wieso interessiert sich die zweite Generation für die vergangenen Taten ihrer Familienmitglieder? Ist Familiengeschichte eine Form der Reflektion oder eine versuchte Rechtfertigung der Vergangenheit? Dies wird am Beispiel Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders in diesem Essay analysiert.
Uwe Timm ist ein gutes Beispiel dafür, wie schwer es ist, die Vergangenheit seiner Familie wieder aufzuwühlen. Timm, der noch sehr jung war als sein Bruder Karl-Heinz starb, ist von der Geschichte seines Bruders sehr getroffen, obwohl er nur eine Erinnerung an ihn hat. Ansonsten bezieht er sich auf Tagebucheinträge und Briefe des Bruders. Er wirkt aber sehr interessiert daran, sich mit den Motiven des Bruders auseinanderzusetzen. An einer Stelle des Tagebuchs kommt er sogar an den Punkt, an dem er für kurze Zeit nicht weiterlesen kann, weil es ihm so schwerfällt. „ Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG. Das war die Stelle, bei der ich, stieß ich früher darauf - sie sprang mir oben links auf der Seite regelrecht ins Auge -, nicht weiterlas, sondern das Heft wegschloss“ (Timm 2017: 17). Man merkt, wie nachdenklich ihn die Recherchen machen. Dabei kommt er auf die Geschichte des Ritter Blaubart zu sprechen, bei dem er als Kind den Schluss nie hören wollte, genauso wie es ihm schwerfällt das Tagebuch des Bruders weiterzulesen (Timm 2017: 9). Das Märchen repräsentiert außerdem eine gewisse Ähnlichkeit mit Karl-Heinz’ Geschichte, in so weit, dass eine dominante, männliche Figur ihre unbestreitbare Macht durch gewaltvolle Taten behauptet, so wie es im Großen und Ganzen auch Uwes Bruder tut, in dem er der Waffen-SS beitritt (Baker 2012: 91).
Eine andere Stelle, an der klar wird wie sehr Uwe Timm sich mit der Vergangenheit seines Bruders identifiziert und wie nötig es für ihn ist, diese durch das Schreiben zu reflektieren, ist der Traum, den er hat, als er zu einer Lesung in die Nähe des Ortes und ungefähr zu der Zeit, als sein Bruder verwundet wurden war, eingeladen wird. „Ein Traum, ein dunkler, ein im plötzlichen Erwachen nur noch undeutlicher Traum, in dem auch er schattenhaft vorgekommen war. Im Schreckzustand versuchte ich aufzustehen. Ich konnte nicht. In beiden Beinen war ein unerträglicher Schmerz“ (Timm 2017: 125). Der Schmerz in den Beinen erinnert an die Verletzung, bei dem seinem Bruder beide Beine amputiert werden mussten und an der er schließlich starb. Es ist faszinierend zu sehen, wie sehr das Schreiben und reflektieren der Vergangenheit ihn in seinem Unterbewusstsein beeinflussen.
Uwe Timm beschäftigt sich in seiner Familiengeschichte nicht ausschließlich mit seinem Bruder, sondern auch mit seinem Vater, mit dem er sozusagen abrechnet, da er den Bruder immer als besseren Sohn sah und Uwe stets mit ihm verglich. „Der Bruder, das war der Junge, der nicht log, der immer aufrecht war der nicht weinte, der tapfer war, der gehorchte. Das Vorbild“ (Timm 2017: 19). Karl-Heinz wird vom Vater idealisiert (Fuchs 2006: 183). In einem Interview sagt Timm dazu, dass die „intensive Auseinandersetzung mit dieser Vaterfigur (...) eines der wichtigsten Produkte des Schreibens“ war (Bartels 2003). Das Schreiben dient Uwe Timm also zum einen auch dazu, sich mit seiner Familie auseinanderzusetzen und sich seinen eigenen Gefühlen gegenüber den Familienmitgliedern bewusst zu werden. Er muss die Vergangenheit auch für sich selbst aufarbeiten. Außerdem geht es Uwe Timm um das Verstehen. „Junge Menschen (...) konzentrieren sich nicht mehr ausschließlich auf das, was sie bewusst erlebt und verarbeitet haben, sondern interessieren sich immer stärker auch für die Geschichte der Familie, in die sie hineingeboren wurden“ (Assmann 2005: 22). Sie definieren ihre Identität teilweise auch durch die Familie. Karl-Heinz ist ein Teil von Uwes Identität und er hat vielleicht das Gefühl durch die Reflektion seiner Geschichte sich selbst etwas mehr zu verstehen und vor allem auch seinen Bruder. „Diese eher auf Rückblick und zum Teil auch auf Verstehenwollen ausgerichtete Haltung (wobei Verstehen nicht unbedingt mit Verzeihen gleichzusetzen ist) führt zur Verschränkung von Individuum, Familiengeschichte und nationaler Geschichte“ (Assmann 2005: 27). Timm will die Grenzen zwischen den Generationen überwinden und die Motive seines Bruders, aber auch die Handlungen seines Vaters verstehen. Identitätssuche ist hier ein wichtiges Stichwort. „Im Familienroman gewinnt die identitätssuche eine historische Tiefe und Komplexität“ (Assmann 2005: 26), dadurch, dass die drei Faktoren von Individuum, Familiengeschichte und nationaler Geschichte zusammenkommen. Die anderen zu verstehen gehört zur Selbstfindung seiner Identität. Dieses Verstehen heißt aber eben nicht gleich Verzeihen, denn es ist Uwe Timm sehr wohl bewusst, dass sein Bruder nicht unschuldig ist.
Ein anderer Grund für das Schreiben ist vielleicht auch, dass Uwe Timm die Lücken in Karl-Heinz‘ Geschichte füllen will, die durch das Tagebuch und die Briefe nicht gedeckt werden können. „Timms literarisches Erinnerungs-Projekt“ besteht quasi auch im „Re-Imaginieren dessen, was sein Bruder sich nicht vorstellen konnte, wie zum Beispiel die lebendige Existenz des rauchenden russischen Soldaten, der der Bruder sich zur Zielscheibe genommen hat“ (Assmann 2005: 49). Er füllt diese „Lücken des Bewusstseins“ eben mit Hilfe „historischer Quellen und neuer Forschungsliteratur“ und einem Wissen, „das inzwischen zur historischen Bildung der zweiten und dritten Generation gehört“ (Assmann 2005: 49). So versucht er vielleicht die Vergangenheit besser reflektieren zu können und seine Lesern das ganze Bild vermitteln zu können.
Andererseits, bekommt man an manchen Stellen Timms Geschichte den Eindruck, dass er sich doch teilweise für die Entscheidung seines Bruders rechtfertigen will oder sich zumindest wünscht, Karl-Heinz hätte anders gehandelt. Er erwähnt zum Beispiel an einer Stelle, dass er in Karl-Heinz’ Tagebuch „keine antisemitischen Äußerungen und keine Stereotypen wie in den Feldpostbriefen anderer Soldaten“ (Timm 2017: 152) findet. Das ist zwar kein direktes Anzeichen dafür, dass er sich gegen den Antisemitismus stellt, aber ein Hoffnungsschimmer für Uwe. „Andererseits findet sich kein Satz, der so etwas wie Mitgefühl verrät, nicht die Andeutung einer Kritik an den Zuständen lässt sich herauslesen, nichts, was eine plötzliche Konversion verständlich machen würde. Die Notizen verraten weder den Überzeugungstäter noch aufkeimenden Widerstand“ (Timm 2017: 152). In diesen Worten kann man vielleicht etwas Enttäuschung herauslesen, denn Timm hofft auf Anzeichen, dass sein Bruder nicht wie viele andere der Soldaten ist und sich zumindest teilweise den Aufträgen zur Wehr gesetzt hat (McGlothlin 2006: 215). In einem Interview sagt er: „Ich wollte immer über meinen Bruder schreiben (...). Ich fand es nur erschreckend, beim Schreiben womöglich mehr Negatives über ihn zu erfahren“ (Bartels 2003). Er durchsucht die Mittel, die er zur Verfügung hat, so wie das Kriegstagebuch, quasi nach Hinweisen darauf, dass sein Bruder nicht komplett schuldig ist. Sehr erschreckend und gegen den Bruder sprechend, wirkt zum Beispiel auch die Stelle: „...bloß die Sorgen an zu Hause bleiben dann, täglich werden hier Fliegerangriffe der Engländer gemeldet. Wenn der Sachs bloß den Misst nachlassen würde. Das ist doch kein Krieg, das ist ja Mord an Frauen und Kinder – und das ist nicht human “ (Timm 2017: 92). Keinen Augenblick denkt Karl-Heinz an „eine Verbindung zwischen den zerstörten Häusern in der Ukraine und den zerbombten Häusern in Hamburg“, was auch Uwe auffällt (Timm 2017: 92). Dabei ist es im Grunde dasselbe, was die Waffen-SS in Russland anrichtet. Außerdem rechtfertigt Uwe Timm die Entscheidung seines Bruders der Waffen-SS beizutreten teilweise damit, dass er schon im Jungvolk und in der Hitler-Jugend „ geschliffen “ wurde (Timm 2017: 93), sozusagen also darauf vorbereitet wurde sich in diese Richtung zu entscheiden. Es sind viele Aspekte, die einen Jungen dazu bewegen müssen, sich so früh dafür zu entscheiden, sich den Nationalsozialisten im Krieg anzuschließen. „Die NS-Pädagogen schmeichelten dem Selbstwertgefühl der Jugendlichen (...). Der Generationskonflikt zwischen Eltern und Kindern wurde von der NS-Propaganda bzw. deren Erziehungsinstanzen geschickt benützt, um die Jugend dem Einfluß der Eltern zu entziehen“ (Rosenthal 1994: 3). Timm hat mit dieser Rechtfertigung sicher nicht ganz Unrecht. In dem bereits genannten Interview meint er hierzu auch, dass das ganze Umfeld seines Bruders ihn auf gewisse Art dazu bewegt hat, sich bei der Waffen-SS zu melden (Bartels 2003). Es ist also auch die Erziehung der Eltern zu bedenken, denn wie bereits erwähnt, ist es nicht nur ein Aspekt, der Karl-Heinz dazu bewegt haben kann.
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