"Wer Erfolg haben will, muss verrückt sein!" – Genie und Wahnsinn in der Kunst


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2005

39 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


1. ES und Kreativität

Eine Spur von Wahn-Sinn! und kreativer Schöpfungskraft steckt in uns allen. Schließlich hat jeder ein ES – und dort sind laut Psychoanalyse nicht nur unsere persönlichen Leichen und vieles andere begraben. Dort schlummern auch ungeahnte kreative Kräfte, die jeder mit ein bisschen Übung anzapfen kann.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Genau genommen umfasst das ES vier weitgehend unbewusste Bereiche: 1. die phylogenetische Erbschaft mit ihren evolutionsgeschichtlichen Informationsstrukturen, 2. die psychischen Repräsentanzen der Triebe, Leidenschaften und primitiven Wünsche, 3. die negativen und frustrierenden, angst- und krankmachenden Erlebnisse und Erfahrungen sowie 4. die aggressiven und autodestruktiven Impulse. Freud (1926/241) sprach diesbezüglich vom dämonischen ES.

Es gleicht in mancher Hinsicht einem Gefängnis mit asozialen Insassen, „die schon seit Jahren schmachten oder neu eingeliefert wurden, Insassen, die hart behandelt und schwer bewacht, aber kaum unter Kontrolle gehalten werden und ständig auszubrechen versuchen.” (GAY 1997/150) Eine passende Metapher für die Explosivkraft des Unbewussten, das ständig danach drängt, sich auszudrücken und mitzuteilen.

Im ES geht permanent die virtuelle »Post ab«: Hier wird revoluzzert, gemeuchelt, gemordet, gemobbt, gequält, gehasst und geliebt. Grenzenlos – lustvoll – frustfrei. Hier bin ich Schwein, hier darf ichs sein. Kost ja nichts. Merkt ja keiner. Im ES lebt und tobt der Neander in uns allen. Hier werden gnaden- und reuelos kollektivsinguläre Dramen und Tragikomödien aufgeführt. Ohne Unterlass. Horchen Sie mal in sich rein!

Zeit und Raum sind dem ES ebenso fremd wie die Gesetze aristotelischer Logik: Erlebnisse, wo immer und wann immer sie stattgefunden haben, sind virtuell aktiv und gegensätzliche Unterscheidungen – gut/böse, jung/alt, schön/hässlich, Liebe/Hass, Fiktion/Faktum – können problemlos koexistieren. Anything goes. Egal wie merkwürdig, irrational oder pervers die Gedanken und Vorstellungsinhalte sind. Alle Passionen und Obsessionen imaginieren augenblicklich zu einer Realität sui generis.

ES als brodelnder Schmelztiegel archaischer, verdrängter, neurotischer, paranormaler, irrationaler und fantastischer Erlebensfragmente, stellt ein schier ozeanisches Kreativitäts-Reservoir dar, aus dem der Künstler schöpfen kann. Je ES-hafter, ICH-loser, realitäts-ver-rückter er agiert, desto genialer kann das Kunstwerk sein.

Eine Auffassung, die – wohlgemerkt mit religiösem Hintergrund – schon im alten Griechenland bei Hesiod (Theogonie) und Homer (Odyssee), dann bei Platon (Phaidros) in Form des Dichters von Gottes Gnaden vorgedacht ist, später von Renaissance-Vetretern wie Giacomo Vasari und Giordano Bruno und ihrem furor poeticus, der göttlichen Inspiration, aufgegriffen und danach vom absonderlichen Manierismus mit seiner exaltierten Kunst-Wildheit spezifiziert wurde.

Auch die »Stürmer und Dränger« (Herder, Schiller) in der zweiten Hälfte des 18. und die Romantik des frühen 19. Jahrhunderts, die Arnold Hauser als Psychose bezeichnet, betonten die irrationalen Ursprünge schöpferischer Virtuosität.

Bei Schiller ist das Unbewusste eine Art Katalysator genialen Schaffens, wobei Unbewusstheit von ihm als natürliche und damit göttliche Naivität verstanden wird. „Naiv muss jedes wahre Genie sein,” proklamiert er in »Über naive und sentimentalische Dichtung«, „oder es ist keines.” Ähnlich metaphysisch, doch mehr ins Pathologische driftend, ist die Dichtkunst des Romantikers Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, einem 1772 in Thüringen geborenem Adelsspross, der in seinen aphoristischen Fragmenten unter dem Titel »Blütenstaub im Athenäum« die sowohl psychoanalytische als auch surrealistische Losung ausgab: „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft.”

In moderner Zeit findet sich die an platonisches Gedankengut anknüpfende, positive Wahnauffassung beispielsweise bei Ernst Fuchs, dem Wiener Begründer des »Fantastischen Realismus« und beim Düsseldorfer Aktionskünstler Joseph Beuys.

2. Genie und Wahnsinn gehen Hand in Hand

Anfang des 19. Jahrhunderts vollzog sich mit Arthur Schopenhauer eine Wendung von der Gott-Natur-gegebenen Genialität zum Genie-Irrsinn-Mythos. Fortan galt das Geniale immer als pathologisch. Für Schopenhauer gehen Genialität und Wahnsinn Hand in Hand. In seinem 1818 publizierten Hauptwerk »Die Welt als Wille und Vorstellung« beschreibt er das Geniale als etwas der Person Wesensfremdes, von außen Kommendes, Übernatürliches, welches das willentliche ICH dämonisch in Besitz nimmt und zu außergewöhnlichen Leistungen befähigt.

„Ich werde ferngelenkt”, so hat der schizophrene Dichter Ernst Herbeck die Automatik des Genialen auf den Punkt gebracht. Ähnlich Paul Klee: „Meine Hand ganz Werkzeug eines fernen Willens.” Ihr ICH ist nicht mehr Herr im eigenen Hause. Innen-Außen-Grenz-Auflösung. Beide Künstler leiden an einer extremen Form externer Selbststeuerung, was ihnen wohl bewusst ist, denn sie nehmen eine Außenbeschreibung ihres Innenlebens vor. Sie sind Selbstbeobachter und damit Beobachter zweiter Ordnung.

Die Fernsteuerung wird neurophysiologisch durch einen gesteigerten zentralnervösen Erregungszustand ausgelöst. Schöpferisch-inspirative (Wahn-) Zustände können mithin bei Gesunden hervorgerufen werden. Zum Beispiel durch Indikation von Psychopharmaka wie Meskalin (Wirkstoff aus Peyotl), LSD (Lysergsäurediäthylamid) und Psilocybin (natürliches Produkt aus Psilocybe mexikana).

Fischer (1970/1971) unterscheidet in diesem Zusammenhang drei Erlebenszustände, die er als »aroused«, »hyperaroused« und »ecstatic« bezeichnet. Aroused entsprechen Bewusstseinszustände (states of consciousness) wie Sensitivität, Kreativität und Angst. Hyperaroused states finden sich bei schizophrenen Schüben. Dem höchsten neurophysiologischen Aktivitätsniveau »ecstatic« korrespondieren mystisch-ekstatische Erlebnisse in Form von ICH-Preisgabe und Bewusstseins-Erweiterung: Bei Meister Eckart und seinen buddhistischen und hinduistischen Geistesverwandten obligatorisch.

Der Wahnsinn-Genialität-Mythos wurde neben Schopenhauer vom größten Neurastheniker des 19. Jahrhunderts – [Neurasthenie als Erschöpfung des Nervensystems durch geistige oder körperliche Überanstrengung zählte Freud ursprünglich (neben Angstneurose und Hypochondrie) zu den (vegetativen) Aktualneurosen] –, Friedrich Nietzsche, in »Der Wille zur Macht« verkündet. Wer Künstler ist, ist krank. Wer nicht krank ist, kann kein Künstler sein. Krankheit führe über erhöhte Sensibilität, charakterliche Läuterung und Erhabenheit des Gefühls zu neuen Erkenntnishorizonten und zur Perfektionierung künstlerischen Talents. Krankheit als pädagogisches Geisteselixier. Schmerz als Zuchtmeister. Ohne Leid kein Preis, wie Aischylos' Prometheus-Sage bedeuten will. Veredelung durch Entartung. Das Meisterwerk erfordert geradezu den abartigen Artisten.

In Thomas Manns Schmerzensbuch »Doktor Faustus« infiziert sich der ÜBER-ICH-ambivalente Komponist Adrian Leverkühn im Teufelspakt der besonderen Art absichtlich bei einer Prostituierten mit Syphilis, um sein musikalisches Können zu verfeinern. Luzifer holt ihn später in Form der Paralyse. Gesundheit und Kreativität scheinen Antipoden. Extraordinäres und Unkonventionelles entstehen nur aus einem absonderlichen Unterschied zum Normalen. Dekadenz ist angesagt. But pathological differences not necessarily cause pathological differences.

„Ist wirklich nicht, was wirkt, und Wahrheit nicht Erlebnis und Gefühl?“, diabolisiert der Teufel im »Dr. Faustus«. “Was dich erhöht, was dein Gefühl von Kraft und Macht und Herrschaft vermehrt, zum Teufel, das ist die Wahrheit, - und wäre es unterm tugendlichen Winkel gesehen zehnmal eine Lüge. Das will ich meinen, daß eine Unwahrheit von kraftsteigernder Beschaffenheit es aufnimmt mit jeder unersprießlich tugendhaften Wahrheit. Und ich wills meinen, das schöpferische, Genie spendende Krankheit, Krankheit, die hoch zu Roß die Hindernisse nimmt, in kühnem Rausch von Fels zu Felsen springt, tausendmal dem Leben lieber ist als die zu Fuße latschende Gesundheit. Nie habe ich etwas Dümmeres gehört, als daß von Krankem nur Krankes kommen könne.”

Ähnlich hyperbolisch heißt es in »Tonio Kröger«:

„Aber in dem Maße, wie seine Gesundheit geschwächt wird, verschärfte sich seine Künstlerschaft, ward wählerisch, erlesen, kostbar, fein, reizbar gegen das Banale und aufs höchste empfindlich in Fragen des Taktes und Geschmacks.“

Je dekadenter und spektakulärer sich der künstlerische Genius in Szene setzt, je offensichtlicher und überzeugender sein Auftritt, desto begieriger wird er vom Publikum als solcher erkannt und mit Respekt und Bewunderung honoriert. Das ICH-IDEAL der anderen, weniger Illuminierten, vermählt sich mit dem Genius per identifikationem und erfährt eine Erhöhung seiner selbst.

Die Vorstellung des Genies als monstris per excessum sollte die Psychologie, Medizin und Psychiatrie des gesamten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts maßgeblich prägen. Noch in W. Kurths Neubearbeitung von W. Lange-Eichbaums »Genie, Irrsinn und Ruhm« aus dem Jahre 1979 wird behauptet, dass von 600 untersuchten hochtalentierten Personen 94 (fast 17%) psychotisch seien, während nur 1% Psychotischer in der Gesamtbevölkerung zu finden sind. Statistische Methodik und Validität dieser Untersuchung sind allerdings höchst zweifelhaft.

Die wahnsinnige Stigmatisierung des Genies dient wohl in erster Linie der Stabilisierung bourgeoiser Werte, die durch die antibürgerliche Genierolle vom dekadenten Bohèmien infrage gestellt worden waren. In diesem Sinne spricht Neumann (1986) von einer scheinbaren Erkenntnisvermittlung durch die Pathographie und betrachtet sie als sozialen Abwehrmechanismus zur Kontrolle unerwünschten Verhaltens.

3. Von Hippokrates zur Kybernetischen Medizin

Seinen medizin-historischen Ursprung findet der Krankheit-Kreativität-Mythos in der Melancholie-Auffassung (griechisch mélas = schwarz, chólos = Galle) der alten Griechen. Empedokles und Hippokrates lehrten, der menschliche Körper setze sich physiologisch aus vier Säften (quattuor humores) mit jeweils binären Eigenschaften zusammen: der Schwarzen Galle (kalt-trocken), der Gelben Galle (warm-trocken), dem Phlegma (kalt-feucht) und dem Blut (warm-feucht).

Diese quattuor humores, glaubte man, entsprächen sowohl den kosmischen Elementen Erde, Feuer, Wasser, Luft als auch den jahreszeitlichen Perioden und ebenso den menschlichen Lebensphasen, und sie sollten, so glaubte man ferner, durch ihre Mischungsverhältnisse Charakter und Verhalten determinieren.

Prägnant formuliert hat diesen von Hippokrates erstmalig in einen logischen Zusammenhang gebrachten Sachverhalt ein frühmittelalterlicher Naturphilosoph: „Sunt enim quattuor humores in homine, qui imitantur diversa elementa; crescunt in diversis temporibus, regnant in diversis aetatibus.” Das Blut ahmt die Luft (Pneuma) nach, nimmt im Frühling zu und herrscht in der Kindheit vor. Die Gelbe Galle imitiert das Feuer, nimmt im Sommer zu und dominiert in der Jugend. Die Schwarze Galle – Melancholie – ahmt die Erde nach, nimmt im Herbst zu und beherrscht das Mannesalter. Das Phlegma schließlich symbolisiert das Wasser, nimmt im Winter zu und ist im Greisenalter vorherrschend.

Befinden sich die vier Säfte im harmonischen Gleichgewicht (Krasis) – hier zeigt sich die antike Humoralpathologie als Vorläufer des Homöostase-Konzepts –, ist der Mensch gesund; während ein Ungleichgewicht (Dyskrasis) – Überwiegen oder Mangel des einen oder anderen Saftes – Krankheit erzeugt. Dass biochemische Ungleichgewichte im Körper pathogen wirken, meinte im 16. Jahrhundert auch Paracelsus von Hohenheim.

Melancholie entsteht durch entsprechende Mischung der Säfte unter Dominanz der Schwarzen Galle. Erstes Beispiel für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen physiologischer Anomalie und psychischer Störung und damit Ursprung einer Psychosomatischen und also Kybernetisch-ganzheitlichen Medizin, „die sich auf die gleichzeitige und koordinierte Verwertung von somatischen - das heißt physiologischen, anatomischen, pharmakologischen, chirurgischen und diätetischen - Methoden und Vorstellungen auf der einen Seite und psychologischen Methoden und Vorstellungen auf der anderen Seite stützt.” (ALEXANDER 1985/28) Hoffmann und Hochapfel (1995/157) notieren: „Psychosomatische Medizin ist die Lehre von den körperlich-seelisch-sozialen Wechselwirkungen ... .”

Der leidenschaftliche Beobachter menschlicher Eigenarten und Schöpfer des französischen realistischen Romans, Honoré de Balzac, beschreibt in einem der ersten psychosomatischen Romane »Cousin Pons« einen Junggesellen, der zunächst melancholisch wird und dann ein Gallenblasenleiden entwickelt. Melitta Sperling (1946) allerdings sieht weniger die Galle denn Rektum, Kolon und Ileum durch die Melancholie in Mitleidenschaft gezogen. Für sie ist Colitis ulcerosa die somatische Dramatisierung der Melancholie.

Gemäß empirischen Untersuchungen von Alexander (1985) wiederum, leiden Melancholiker und andere Depressive signifikant häufiger unter Opstipation. Weil deren Affektlogik nach dem Muster: »Ich fühle mich zurückgewiesen« und »Ich bekomme nichts von anderen«, zu einer regressiven Trotzreaktion in Form des Festhaltens am infantilen Besitz: sprich Darminhalt, führe.

Wie auch immer die psychophysische Erlebens-Beziehung zwischen Geist und Körper in Erscheinung tritt und den einzelnen Melancholiker zu seiner persönlichen Somatisierung bewegt, muss dem Individualfall überlassen bleiben. Faktum aber ist laut McDougall (1989/79) eine hochsignifikante Korrelation zwischen psychosomatischen Krankheiten – speziell Allergien – und perversen Charakterstrukturen.

Aristoteles (Problem XXX, I) vertrat die Meinung, alle genialen Persönlichkeiten aus Dichtung, Kunst, Philosophie und Politik seien Melancholiker und manche würden sogar von den der Schwarzen Galle zugeschriebenen, pneumatischen und hypochondrischen Krankheiten ergriffen. Wichtig nach Aristoteles ist nicht nur die Quantität, sondern ebenso die Temperatur der Schwarzen Galle. Damit ist dreierlei gesagt: Erstens, dass somatische und psychische Prozesse maßgeblich durch Wärme (Energie) reguliert werden; zweitens, dass der Wärmebegriff unabhängig vom materiellen Stoff zu denken ist sowie folglich drittens, dass die Schwarze Galle sowohl kalt als auch warm sein kann; und gerade aufgrund dieser thermodynamischen Amphibolie ihre charakter-beeinflussende Wirkung hat.

Viel kalte Schwarze Galle bewirkt laut Aristoteles Epilepsie, Lähmungen, Schlaganfälle, Depressionen, Angstgefühle und Selbstmord. Viel warme Schwarze Galle führt, weil die von der Galle ausgehende Wärme das Gehirn tangiere, zu Ekstase, Tollkühnheit, Raserei und prophetischer Sehergabe. Möglicherweise hat Marakos von Syrakus in ekstatischen Zuständen bessere Gedichte emaniert als sonst.

Nur diejenigen aber, bei denen sich das Übermaß an Gallenwärme im mittleren Körperbereich ausbreitet, sind Melancholiker der ausgezeichneten Art: besonnen und weniger paranoid, den anderen Menschen in vielfacher Hinsicht überlegen, manche in geistiger Bildung, andere in den Künsten, wieder andere in der Politik.

Wohlgemerkt, melancholischen Krankheiten aufgrund eines temporären Ungleichgewichts in den Säfteverhältnissen, bedingt durch Ernährungsstörungen, Erkältungen oder dergleichen, kann jeder Mensch anheimfallen. Allein die konstitutionelle Prävalenz des Schwarzen Gallensaftes über die anderen Säfte gebiert den echten Melancholiker, und nur er ist kraft physiologischer Veranlagung zu hervorragenden geistigen Leistungen fähig.

Aristoteles war im Übrigen der Ansicht, übermäßiger Genuss von dunklem Wein (= Wärme = Energie) lasse zeitweilig solche Charaktereigenschaften hervortreten, die Melancholikern eigen sind: Schwermut, Genialität, Jähzorn, Verwegenheit, Menschenliebe, Mitleid. Milch, Honig und Wasser haben diese Wirkung nicht, weil sie kein Pneuma besitzen. Schwarzer Gallensaft ist wie Wein von Natur aus lufthaltig. Was Wunder, dass beide Einfluss auf das individuelle Temparament haben, das seinerseits lufthaltig und wärmeabhängig ist. Soweit der Philosoph aus Stagira, dessen Gedanken in der mittelalterlichen Hochscholastik zu neuer Blüte kamen.

Dass das rechte Maß das Maß aller Dinge ist, sollte man sich nicht nur beim Weinkonsum merken. Maßhalten in allen Lebensbereichen: im rechten Maß arbeiten, im rechten Maß genießen, das macht Gesundheit aus. Demokrit wies bereits vor 2400 Jahren darauf hin, dass Gesundheit nicht in den Händen der Götter liegt, sondern allein Angelegenheit des Menschen ist. Jeder ist seines Glückes und seiner Gesundheit Schmied. Wobei wir Gesundheit im kybernetischen Sinne als irgendein eigenartiges Fluktuations-Optimum definieren und weiterhin als erfolgreiche Selbstheilung, die sich für uns selbst unbeobachtbar in der black box »Körper« abspielt.

Und was sagt die Kybernetik zur Krankheit? In altchinesischer Tradition betrachtet sie Krankheit und Gesundheit als zwei Seiten einer Form:

„Die Krankheitssymptome sind nichts vom Körper wesentlich Verschiedenes, sondern integrierende Bestandteile von dessen Gesamtstruktur. Sie sind temporäre Veränderungen oder Ergänzungen der durch die veränderten regulativen Prozesse gebildeten körperlichen Struktur.” (ZYCHA 1996/231)

Dysregulationen basieren sozusagen auf einem Unmaß an Fehlinformationen. Jeder Stoff (Nahrung, Gift, Bakterien) hat seine Toxitizitäts- (Informations-) Grenze. Alles, was diese Grenze überschreitet, verursacht Stoffwechsel-Störungen und Krankheiten, die als Ausdruck der organismischen Desorganisation von Information verstanden werden können.

Somatische und psychische Heilungsprozesse haben etwas Wesentliches gemeinsam: Stets kommt es auf richtige Information und Dosierung, auf gekonntes »information engineering« an. Wie im therapeutischen Setting deutende und andere heilende Informationen verabreicht werden, so bekommt der körperlich Kranke von der Kybernetischen Homöopathie Informationen in Form von richtigen toxischen Potenzen oder anderen Indikationen (Licht, Wasser, Diätetik, Phytotherapie, Akupunktur, etc.).

Zurück zur antiken Humoralpathologie: Auf ihren vier Säften entwickelte Wilhelm von Conches im 12. Jahrhundert die physiognomische Lehre von den vier Temperamenten. Seither kennt man homo sanguineus, homo cholericus, homo phlegmaticus und homo melancholicus.

Zirka zur Zeit Boccaccios erweiterte sich das Sinnspektrum des Melancholiebegriffs. Zwar wird er weiterhin in aristotelischer Manier mit Krankheit und Temperamentsanlage identifiziert, außerhalb des wissenschaftlichen Schrifttums jedoch erhält der Begriff mehr und mehr die Bedeutung einer poetischen Vorstellung, die schließlich im normalen Denk- und Sprachgebrauch der Neuzeit die vorherrschende wird.

Melancholie als Genialitätsfaktor hat in nach-aristotelischer Zeit zunächst im elisabethanischen England einen Höhepunkt. Ben Jonson verkündet in seinem »Every man in his humour«: „Eure echte Melancholie brütet Euren vollkommenen feinen Witz aus, Sir; auch ich bin öfter melancholisch, Sir; dann brauch` ich nur zu Feder und Papier zu greifen, und ich fließe über von einem halben oder einem Dutzend Sonette auf einen Schlag.” Shakespeare, selbst genialer Melancholiker, hat in seinen Werken viele Figuren mit melancholisch-hin-und-her-gerissenem Charakter ausgestattet, z. B. King Lear und Hamlet. Lear nehme ich im dritten Kapitel unter die Lupe.

Das Melancholiegefühl der Neuzeit ist vornehmlich ein gesteigerter, hoch-ambivalenter ICH-Zustand, resultierend aus einer selbstauferlegten Klausur, in der der Künstler die bewusstgemachte Spannung zwischen Einsamkeit und Verzweiflung, Weltabgeschiedenheit und Weltschmerz, schöpferisch zu nutzen weiß. Selig, wer sich vor der Welt ohne Haß verschließt, sagt Goethe (An den Mond). Es ist dies das Paradoxon vom traurigen Luxus des Leids, von der Tristesse magnifique, von der Lust im Schmerz: der Schmerzlust, vom Enthusiasmus in der Depression. Noch einmal Goethe:

Zart Gedicht, wie Regenbogen,

Wird nur auf dunklen Grund gezogen;

Darum behagt dem Dichtergenie

Das Element der Melancholie.

Johann Wolfgangs Selbsterleben erschließt sich wie alle poetischen Innenwelt-Beschreibungen nur auf der konnotativen Ebene. Würde der Leser mit dem referentiellen oder denotativen Wortsinn operieren, würde er gleichsam auf die Welt zurückgeworfen und in ihren multioptionalen Sinnhorizonten verloren gehen. Luhmann (1997/201) meint deshalb, Dichtung erfordere „eine Intensivierung der Gedächtnisleistungen, und das heißt: retroactives Lesen.” Autor und Leser müssen sich von der linearen Struktur des Textes lösen, „ihn zirkulär begreifen, ja in viele wechselseitig vernetzte Zirkel zerlegen können.”

Dass die konnotative Ebene die bedeutungsvollere ist, proklamiert auch Eibl (1995/11), der Poesie eine zweite Kraft der Sprache nennt. Poesie ist Magie und Verzauberung. Das entdifferenzierende ICH der lyrischen Rede lässt einen anderen Bewusstseinszustand, eine affektlogische Parallelwelt erahnen, was die oftmalige Unverständlichkeit des sprachlichen Kunstwerks erklärt. Die manchen Interpreten zum Wahnwitz und manchen Dichter vom Vierzeiler zum Vierbeiner treibt.

„Siehe, darum möcht ich lieber Schweinehirt sein auf Amagerbro und verstanden sein von den Schweinen denn Dichter sein und mißverstanden sein von den Menschen.” (KIERKEGAARD, ENTWEDER ODER)

Wär‘s nicht schon zu spät, man könnte Sören nur raten, Vitruv zu studieren und anständig zu eurhythmisieren.

Je weniger Eurhythmus im Dichter und seinem Werk, umso unwahrscheinlicher das Verstehen auf der anderen Seite, und umso notwendiger die empathische Koppelung ebendieser Seite an die andere. Einzig wahre – abgrundtiefe – Lyrik-Rezeption erfordert abgrundtiefe Seiten-Harmonie: Isomorphie von Produktions- und Rezeptionserleben. So weit zu Kybernetischer Psychoanalyse und Poesie und damit zurück zur Melancholie.

Euphorie und Agonie, Ambition und Frustration, Selbstbehauptung und Fremdbestimmung sind Polaritätenprofile der Elegie, ureigenste dichterische Ausdrucksform der Melancholie. Exemplarisch bei Rainer Maria Rilke in seiner ersten Duineser Elegie:

Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel

Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme

einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge vor seinem

stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts

als des Schrecklichen Anfang, den wir gerade noch ertragen,

und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,

uns zu zerstören.

Kongenial Hölderlin im 7. Gesang von »Brod und Wein«

Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch.

Traum von ihnen ist drauf das Leben. Aber das Irrsaal

Hilft, wie Schlummer ...

Zur Melancholiethematik haben sich unzählige Künstler verschiedenster Couleur geäußert. Milton in Gedichtform: L'Allegro und Il Penseroso. Filidor in einem Streitgespräch zwischen Melancholie und Freude. Musikalisch umgesetzt wurde der Widerstreit zwischen Melancholicus und Sanguineus in einem Trio von Karl Philipp Emmanuel Bach, dessen letzter Satz mit einer Versöhnung der beiden Antipoden endet. Beethoven selbst hat das Largo aus seiner Klaviersonate Op. 10, Nr. 3 als Schilderung des Seelenzustandes eines Melancholikers gedeutet. In Bildform äußerten sich Albrecht Dürer (Melencolia I), Lucas Cranach, Giovanni Benedetto Castiglione und Caspar David Friedrich. Der große Antoine Watteau, Schöpfer des galanten Genres und Wegbereiter der französischen Rokoko-Malerei, ist gar an Melancholie gestorben.

Passionierter Melancholiker aus religiös-fatalistischer Überzeugung war auch Sören Kierkegaard. Seine hass-geliebte Seelenpein – kulminierend in »Die Krankheit zum Tode« – darf wohl als maßgeblicher Impetus seines literarischen Schaffens betrachtet werden. Kierkegaard kultivierte die Melancholie, sah sich selbstbeobachtend als Opfer einer unerklärlichen Schwermut, die eben dadurch zustande kommt, dass sie, anders als Trauer, für den Betroffenen ursächlich kaum fassbar ist. Das Bewusstsein kann sich hier und in vielen anderen Situationen selbst nicht durchschauen. Freud hat 61 Jahre nach Kierkegaards Tod diesen blinden Fleck ausgeräumt.

4. Melancholie und Trauer

Durch die Augen der klassischen Psychoanalyse gesehen ist Melancholie eine tiefe schmerzliche Verstimmung aufgrund des Verlustes einer geliebten Person, mit folgenden symptomatischen Begleiterscheinungen: Störungen des Selbstwertgefühls (Äußert sich in Selbstvorwürfen, Selbstverurteilung und Selbstentfremdung); ICH-Verarmung; Leistungshemmung; Desinteresse an der Außenwelt; zukunftsloses, vergangenheits-bezogenes Denken und Fühlen; Lust- und Antriebslosigkeit; Bewegungsarmut (Kann sich bis zum depressiven Stupor steigern); Beklemmung, Angst- und Schuldgefühle; Liebesunfähigkeit; Nahrungsverweigerung (Symbolisch gilt: Nahrung = Liebe) verbunden mit Furcht vor dem Verhungern; Atemabflachung; Schlafstörungen.

Alles trifft ebenfalls auf die Trauer zu, mit Ausnahme von ICH-Verarmung und Selbstentfremdung. Objektverlust bewirkt bei ihr keinen ICH-Verlust und keine Depersonalisation, keine Störung des Selbstwertgefühls und des Selbsterlebens. Ausnahme: die pathologische Trauer bei der neurotischen Depression (Dysthymia). Diese chronische Verstimmung mit ihren psychovegetativen Ess- und Schlafstörungen kommt nach amerikanischen Untersuchungen bei 5 bis 10% der Bevölkerung vor. (HOFFMANN/HOCHAPFEL 1995)

Kennzeichen bei Melancholie und Trauer gleichermaßen ist, dass gemäß Realitätsprüfung das libidinöse Objekt der Begierde – egal aus welchen Gründen – nicht mehr verfügbar ist. Folglich müsste alle an das Objekt gebundene Libido frei werden und einer Neubesetzung zur Verfügung stehen. Faktum aber ist: Der Mensch kann nur schwerlich eine einmal fixierte und damit strukturdeterminierte Libidoposition revidieren, selbst dann nicht, wenn bereits ein Objekt- (Lust-, Erlebnis-) Surrogat vorhanden ist. „Wer das Seelenleben des Menschen kennt, der weiß, daß ihm kaum etwas anderes so schwer wird, wie der Verzicht auf einmal gekannte Lust”, schrieb Freud 1908 (215).

Melancholisches und trauerliches Sträuben gegenüber der Lust-Alternative können solche Beharrlichkeit entfalten, dass eine Abwendung von der Realität und eine Fixierung an das verlorene und dann oft idealisierte Objekt in Form einer Wunschpsychose stattfindet. Man denke an Ovids »Pygmalion«; Don Quijotes minnehaft-ideale »Dulcinea von Toboso«, die Green (1998) als Konstrukt narzisstischer Projektion betrachtet; Robert Musils »Entfernte Geliebte«; Mark Twains »Jeanne d'Arc« oder an Leopardis »La donna che non si trova«. Wohl siegt normalerweise die Realität. Allerdings bedarf es großen Aufwandes an Kraft und Zeit für eine neue Libido-Allokation. Währenddessen wird die Existenz des verlorenen Objektes psychisch aufrechterhalten.

Bei der Trauer ist das ICH nach vollendeter Trauerarbeit wieder frei und ungehemmt in seiner Libidoverteilung.

Anders liegt der Fall bei Melancholie: Das Objekt ist nicht real verloren (durch Tod), sondern als Liebespartner nicht mehr verfügbar (Trennung, Scheidung). Bei solchem Verlust weiß der Kranke wohl bewusst, wen er verloren, selten aber, was er verloren hat. Im Gegensatz zur Trauer, die immer bewusstes »wissen weshalb« ist, negiert der Melancholiker aus unbewussten Motiven solches Wissen. Seine Selbstbeschimpfungen, Selbstquälereien und moralischen Selbstvernichtungen zeigen eine Verneinung des Willens zum Leben, was einen Todestrieb glauben machen will, der im Übrigen vielen nicht-(er)leben-wollenden Anti- oder Roboter-Analysanden eigen ist. (MCDOUGALL 1989)

Die ins Spiel gebrachte Moralität suggeriert, dass es sich bei Melancholie im Grunde um einen intrapsychischen Konflikt zwischen ICH und ÜBER-ICH handelt. Die nicht agierte Auseinandersetzung mit dem faktischen Objekt wird intern mit einem imaginären Substitut ausgetragen, woraufhin das ÜBER-ICH, der Moralapostel, mitleidlose Wutattacken gegen das ICH reitet. Wie ist das zu erklären?

Libido, die dem Objekt anhaftet, geht mit dem Verschwinden desselben nicht auf ein neues Objekt über, sondern wird narzisstisch-regressiv – wir dürfen auch sagen: oral-sadistisch, um die Phase der infantilen Sexualentwicklung zu pointieren, die diesem Mechanismus ureigentlich zugrundeliegt – ins eigene ICH zurückgenommen. Narzisstische Introjektion oder Inkorporierung des ambivalent besetzten (hassgeliebten) Objektes. Das ÜBER-ICH nun betrachtet jenes internalisierte Objekt als fremdartiges, äußeres Ding, nicht zur Person gehörig, und behandelt es entsprechend diskriminativ, möchte es am liebsten aus dem psychischen System hinauskatapultieren. Somit wird verständlich, warum der Objektverlust zum qualvollen ICH-Verlust mutiert und das Gefühl der eigenen Unvollkommenheit – »le sentiment habituel de nôtre imperfection« (DIDEROT) – krasser denn sonst ins Blickfeld springen lässt. In gewisser Hinsicht zeigt der Melancholiker Ähnlichkeit mit dem Masochisten, der anderen Seite des Sadisten.

„... it is not the sadism of the masochist himself that is turned upon his ego, but the sadism of another person, a love object. ... Masochism is the hate or the sadism of the object reflected in the libido of the subject.” (BERLINER 1947/460f)

Ähnlich beim Masochismus geht es letztlich um eine Auseinandersetzung zwischen ICH und ÜBER-ICH im Zusammenhang mit einem ambivalent erlebten Introjekt.

Kybernetisch-psychoanalytisch kann der melancholische Konflikt folgendermaßen erläutert werden: Psycho-System A steht mittels struktureller Koppelung mit Psycho-System B in einer ambivalenten Kommunikationsbeziehung. B fällt faktisch aus, bleibt jedoch als Unsicherheitsfaktor im Gedächtnis von A präsent. Will sagen: A introjiziert B = Auflösung der Unterscheidung zwischen A und B. A macht B in Form einer zweiwertigen (Liebe/Hass) Konstruktion zu einem integralen Bestandteil seiner Selbstorganisation ( = neue Substruktur). Dieser Integrationsversuch führt logischerweise zu Systemstörungen und infolge – weil das Gesamt-System Psyche sich durch eine zirkuläre Vernetzung seiner affektlogischen Erlebnis-Elemente auszeichnet und ein Element alle anderen beeinflusst und selbst wieder durch sie beeinflusst wird – zu Irritationen des ICH-Bewusstseins. Das veränderte ICH-Bewusstsein tangiert den inneren Richter ÜBER-ICH, der seinerseits auf das ICH zurückwirkt und lokale Strukturspezifikationen veranlasst, die sich auch im somatischen und interpersonellen Kontext niederschlagen.

Beobachtet man die Selbstanklagen des Melancholikers, fällt auf, dass sie in der Regel gar nicht zu seiner Charakterstruktur passen; wohl aber zu einer anderen Charakterstruktur, mit der der Kranke im wahrsten Sinne des Wortes strukturell gekoppelt ist. Es ist dies der Schlüssel zur Nosologie: Die Erkenntnis, dass die ICH-dystonen Selbstvorwürfe und Selbsthassgefühle im Grunde Vorwürfe gegen das introjizierte Objekt sind, die von diesem weg auf das eigene ICH projiziert werden. Ähnlich wie bei den Epilepsieanfällen von Fedor Dostojewski – dazu später Genaueres –, ergeht sich das ÜBER-ICH in sadistischen Wütereien, die das ICH zwecks Neutralisierung unbewusster Schuldgefühle in masochistischer Manier hinnimmt. Es besteht eine starke autodestruktive Tendenz mit Suizidgefahr.

Ich bin sicher, dass die Überwindung melancholischer Zustände durch produktive Auseinandersetzung mit dem Problemobjekt kreative Leistungen zu Tage fördern kann, die eine heilsame Integration des »Verlorenen« bewirken und zur affektlogischen Restabilisierung führen. Melancholie zeichnet sich also durch eine Zwei-Seiten-Form aus. Auf der einen Seite das pathologische Moment: Depression, Desorganisation, Desinteresse und auf der anderen Seite die aktive Leidensbewältigung: Selbst-Überwindung, Kreativität, Restabilisierung.

5. Melancholie und Filmästhetik

ICH-Verarmung und Depersonalisation können zu multipler Identifizierungs-Anfälligkeit führen. Der Schwermütige strebt unwillkürlich danach, seine Selbstdifferenzierung an den Nagel zu hängen und sich mit zufälligen Erlebnis-Angeboten aus der Umwelt zu verschmelzen. Er versucht seinen sinn-entleerten Eigenzustand zu kompensieren, indem er sich unabhängig von persönlichen Vorlieben und Neigungen in die Welt wirft.

Im Film wird »innere Leere und Empfänglichkeit« oft durch eine ziellos umherirrende Person dramatisiert: Hausfassaden, Neonlichter, Reklameflächen, vereinzelte Straßenpassanten tauchen auf und verschwinden. Alles bleibt diffus, nichtssagend. Die Bildsequenzen werden vom Publikum automatisch mit Niedergeschlagenheit und Entfremdung in Verbindung gebracht.

Melancholie als Aktualisierung des Inaktuellen, als akut-gewordene Gewissheit von der eigenen Vergänglichkeit, als camoufliertes Wollen zum Tode, als stummer Schrei nach Erlösung von den Lebensqualen, findet eine perfide filmische Personifizierung in der mitleiderregenden Vampir-Figur des Nosferatu in Werner Herzogs gleichnamigem Remake von Fritz Murnaus Stummfilm-Klassiker.

Wir sehen einen kahlköpfigen, leichenblassen, fast zahnlosen, hochaufgeschossenen Leptosom in schwarzem Tuch, der Blick ruhelos und angstvoll, die spitzen Fledermausohren stets bereit, jede noch so leise Gefahr zu erfassen – ein Ausgestoßener, der unter seiner einsamen Existenz und seinem Nicht-sterben-können leidet; der keinen Wert mehr legt „auf Sonnenschein und blitzende Fontänen, für die sich die Jugend begeistern möge.” Er liebe die Dunkelheit und die Schatten, sagt er, wo er mit seinen trübsinnigen Gedanken allein sein kann. Die Zeit, das sei ein Abgrund, tausend Nächte tief. Die Jahrhunderte kämen und gingen. Nicht altern können, das sei furchtbar, schlimmer noch als der Tod. Und Nosferatu fragt sein Opfer Jonathan Harker, ob er sich vorstellen könne, Jahrhunderte zu überdauern und jeden Tag die gleichen Nichtigkeiten miterleben zu müssen?

Nehmen wir den »Leptosomen« zum Anlass für eine kurze, aber aufschlussreiche Fortsetzung unserer Überlegungen zur Humoralpathologie und betrachten die Typenlehre von E. Kretschmer, der Anfang des 20. Jahrhunderts begann, konstitutionell-biologische, psychodynamische und sozial-situative Verhaltens-Parameter in ihrem komplexen Zusammenspiel zu erforschen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 39 Seiten

Details

Titel
"Wer Erfolg haben will, muss verrückt sein!" – Genie und Wahnsinn in der Kunst
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2005
Seiten
39
Katalognummer
V46554
ISBN (eBook)
9783638437196
ISBN (Buch)
9783638718080
Dateigröße
1248 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erfolg, Genie, Wahnsinn, Kunst
Arbeit zitieren
Dr. Volker Halstenberg (Autor:in), 2005, "Wer Erfolg haben will, muss verrückt sein!" – Genie und Wahnsinn in der Kunst, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46554

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: "Wer Erfolg haben will, muss verrückt sein!" – Genie und Wahnsinn in der Kunst



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden