Vichy - dieses Kapitel französischer Geschichte bleibt offenbar noch für lange Zeit "un passé qui ne passe pas" (Rousso). Mitterrand noch - selbst einst Pétain-Verehrer und auch sonst vielfältig in die Vichy-Vergangenheit verstrickt - vertrat die "Betriebsunfall" - Position, nach der Vichy nicht Teil französischer Geschichte sei. Diese Auffassung, Ausdruck einer "idéologie francaise" (B.-H. Levy), hatte auch in der Nachkriegs-Intelligenzia ihre geistigen Wegbereiter: man denke nur an Sartres ("wir waren 40 Millionen Pétainisten") höchst widersprüchliche existentialistische Engagement-Rhethorik, die Kollaborateur und Résistant philosophisch versöhnt ("wir sind zur Freiheit verdammt, doch können nicht tun, was wir wollen"). Mit Chirac begann das Aufbröckeln des Staatsdogmas, nach dem "das wahre Frankreich sich zu jener Zeit in London befände", wie C. Wajsbrot ironisierte.
Diese Arbeit gibt einen Einblick in den "authochtonen Anteil" des Vichy-Faschismus, in die Begriffsproblematik des "Faschismus" und in die französische Vergangenheitsbewältigung. Sie entstand im Rahmen eines Seminars, das sich mit dem Für und Wider der Faschismusforschung als eigenständige und nicht in der traditionellen deutschen Totalitarismusforschung aufgehende Disziplin auseinandersetzte. Dreh- und Angelpunkt der Diskussionen war die Herausstellung von „originär faschistischen“ Bestandteilen verschiedener rechtsautoritärer, vermeintlich faschistischer Bewegungen oder Regimes als Begründung derer Spezifizität, bzw. die Unmöglichkeit der Festlegung eines „Katalogs“ von Spezifika. Rückt beispielsweise der Antisemitismus als zentrales Charakteristikum von Faschismus ins Blickfeld, dann erweist sich manches im Vichy-Frankreich als „faschistischer“ als im Italien Mussolinis. Diese Arbeit will nicht beantworten ob Vichy faschistisch war, sondern: welche Phänome des Vichy – Staates haben Analogien in anderen faschistischen Bewegungen Europas. Die Abgrenzung zum Totalitarismusbegriff kann und soll hier nicht geleistet werden. Es sollen aber bestimmte Merkmale offen gelegt werden, die dann für die Beantwortung der Frage, was denn Faschismus sei, herangezogen werden können – nicht im Umfang einer eigenen Bestandsaufnahme sondern im Anführen von Einschätzungen von Autoren wie Altwegg, Sternhell und anderen. Beleuchtet werden soll dabei das frühe Vichy (1940-42), weil sich in dieser Zeit des relativ größeren Gestaltungsspielraums des Regimes die autochthonen Anteile besser aufzeigen lassen.
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- Einleitung
- Illegalität und Betriebsunfall
- Motive des Verdrängens
- Schwierigkeiten in der Beurteilung des Vichy-Regimes
- Die Version des „legalen Regimes mit illegitimem Ursprung“
- Geschichtlicher Rückblick: Vom Kriegsbeginn bis zum Waffenstillstand
- Compiègne und Montoire
- Frankreichs Sonderstellung und seine Ausbeutung
- Antiliberale und korporatistische Reformen
- Vichy und Berlin als Vertragspartner
- Die Entstehung des „,État français\" - Bruch und Kontinuität
- Ideologische Ausrichtung: Katholizismus, „dérive fasciste“,...
- Feindbild Antisemitismus
- Führer oder Riege von Protagonisten? Führerkult? Massenbewegungen, Einheitspartei
- Entwicklungstendenzen des Vichy-Staates
- Markante Merkmale des Vichy-Staates; Diskussionsgrundlagen
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der Frage, inwiefern der „État français“ unter Vichy faschistische Züge aufweist und welche Analogien zu anderen faschistischen Bewegungen in Europa bestehen. Sie untersucht die spezifischen Phänomene des Vichy-Staates und analysiert deren Bezüge zum Faschismus. Die Arbeit strebt nicht danach, die Frage nach der „Faschismus“ von Vichy zu beantworten, sondern will anhand spezifischer Merkmale die Diskussion um den Begriff des Faschismus beleuchten.
- Der autochthone Charakter des „Faschismus“ in Frankreich
- Die Handlungsfreiheit des Vichy-Regimes
- Die Rolle des Antisemitismus als zentrales Charakteristikum des Faschismus
- Die Analogien zwischen Vichy und anderen faschistischen Bewegungen in Europa
- Die Abgrenzung zum Totalitarismusbegriff
Zusammenfassung der Kapitel
Das Vorwort stellt den Kontext der Arbeit dar und erläutert die Diskussion um die Faschismusforschung als eigenständige Disziplin. Die Einleitung führt in die Problematik der Spezifität des französischen Faschismus und die Frage nach dem autochthonen Charakter des „Faschismus“ ein. Das dritte Kapitel beleuchtet die Debatte um die Illegitimität des Vichy-Regimes und die These, dass Vichy ein „Betriebsunfall“ war. Das vierte Kapitel analysiert die Motive des Verdrängens der Vichy-Zeit in der französischen Erinnerungskultur.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beschäftigt sich mit zentralen Themen wie dem „État français“, Vichy-Regime, Faschismus, Antisemitismus, Totalitarismus, autochthone Faschismus, Handlungsfreiheit, Geschichtsdeutung, Erinnerungskultur und der Analyse von Analogien zu anderen faschistischen Bewegungen in Europa.
- Quote paper
- Bernhard Nitschke (Author), 2005, Der Faschismus des "État francais" - Der "État francais" im Faschismus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46842