Erziehung und Religion am Beispiel des Bahá'í Glaubens


Hausarbeit, 2005

40 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt:

1. Einleitung

2. Religion und Erziehung
2.1 Religiöse Erziehung als Risiko
2.2 Religiöse Erziehung als Chance

3. Die Bahá’í Religion
3.1 Geschichtlicher Überblick (die Zentralgestalten der Bahá’í Religion)
3.1.1 Der Báb
3.1.2 Bahá’u’lláh
3.1.3 Abdu’l-Bahá
3.2 Die Bahá’í Prinzipien
3.2.1 Elf Bahá’í Grundprinzipien nach Abdu’l-Bahá
3.2.2 Weitere Prinzipien
3.2.3 Maßstäbe für das persönliche Leben und Verbote
3.3 Die Bahá’í – Verwaltungsordnung
3.3.1 Das Hütertum
3.3.2 Das Universale Haus der Gerechtigkeit
3.4 Einige weitere Aspekte der Bahá’í Religion
3.4.1 Heilige Stätten und Häuser der Andacht
3.4.2 Der Bahá’í Kalender und Feiertage
3.4.3 Finanzen

4. Erziehung in der Bahá’í Religion
4.1 Der Mensch im Bahá’í Glauben
4.2 Geistige Erziehung
4.3 Erziehung der Kinder
4.4 Bahá’í Erziehung und Gesellschaft
4.5 Weitere Themen der Erziehung
4.5.1 Sexualität, Ehe/Familie
4.5.2 Bildung und Schule, Beruf

5. Zusammenfassung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

1. Einleitung

Religion und Erziehung waren schon immer zwei eng verwobene Themen, wobei es immer die Religion war, welche die Erziehung beeinflusste und nicht umgekehrt, da sie zuerst da war. Dies kann man z.B. klar am Beispiel der zehn Gebote erkennen, die die gesamte Erziehung auch noch bis heute beeinflusst. Erziehungskonzepte mit ethisch-moralischen Fragen haben oft einen Ursprung in der Religion.

In der vorliegenden Arbeit sollen zunächst allgemeine Aspekte religiöser Erziehung betrachtet werden. Vor allem die Risiken und die Chancen sollen hier zu Wort kommen. Da unser Kulturkreis überwiegend christlich geprägt ist, habe ich christliche Auffassungen religiöser Erziehung verwendet, jedoch bin ich davon überzeugt dass sie nicht so speziell christlich sind, als dass sie nicht auch bis zu einem gewissen Grad auch für die anderen Religionen gelten würden. Auch die Psychologie kommt hier zu Wort und ist nicht weniger wichtig.

Anschliessend soll die Bahá’í Religion vorgestellt werden. Der Leser mag vielleicht schon vom Bahá’í Glauben im Zusammenhang mit Sekten und dergleichen gehört haben. Dass die Bahá’í Religion jedoch keine Sekte oder dergleichen ist, wurde religionswissenschaftlich bereits festgestellt (vgl. Schaefer 1981, S. 5-32). Es wurden in der Vergangenheit ebenfallsstark verzerrte Darstellungen des Bahá’í Glaubens veröffentlicht, jedoch liegt inzwischen eine fundierte Korrektur und Richtigstellung vor, die für den Leser vielleicht hilfreich sein könnten (vgl. hierzu ausführlich Schaefer/Towfigh/Gollmer 1995, Gesamtwerk). Der Bahá’í Glaube wird also hier anhand von Primärliteratur (die heiligen Schriften) sowie von Auslegungen und verlässlicher Sekundärliteratur skizziert und dargestellt. Man kann natürlich kritisch anmerken, dass hier einseitig recherchiert wurde. In diesem Fall jedoch lade ich den Leser herzlich dazu ein, in der angegebenen Literatur zu forschen und sich ein eigenes Bild zu machen.

Abschliessend soll verstärkt auf die Erziehung in der Bahá’í Religion eingegangen werden, die ein grosses Thema ist und hier in der Hausarbeit nur begrenzt vorgestellt werden konnte. Ich hoffe jedoch, dass ich wesentliche pädagogische Fragen behandeln konnte.

2. Religion und Erziehung

Bei fast keinem anderen Thema in der heutigen Erziehungswissenschaft und Pädagogik scheiden sich die Geister so sehr wie bei der Frage nach der religiösen Erziehung und bei keiner anderen Thematik sind die Meinungen so konträr positioniert. Dies mag vor allem daran liegen, dass in den letzten Jahrzehnten die Angst vor Sekten und fragwürdigen „religiösen“ Gruppierungen zugenommen und diese Angst auf andere Religionen übertragen wurde und wird. Der zunehmende Fundamentalismus und Fanatismus der jüngsten Terroranschläge, der vor allem religiösen Hintergrund hat, verstärkt diese Angst auch noch.

Auf der anderen Seite wird jedoch auch vor einem übereiltem Urteil gewarnt, denn es gilt als erwiesen, dass Sekten im Vergleich zu den Weltreligionen eine relativ kleine Anzahl an Mitgliedern haben und auch der Fundamentalismus beispielsweise im Islam oder Christentum beschränkt sich auf eine geringe Minderheit, für die eine ganze Religion nicht verurteilt und etikettiert werden sollte. Soviel zu einer groben Spiegelung der Meinungen über Religion, die sicher nicht umfassend ist und es auch nicht sein will.

In der Frage der religiösen Erziehung gibt es jedoch verschiedene Meinungen für oder gegen eine Erziehung mit Religion von denen hier einige betrachtet werden sollen. Aufgrund des begrenzten Rahmens dieser Arbeit möchte ich hier nur den europäischen Kulturkreis berücksichtigen um eine Begrenzung festzulegen. Um konsequent zu sein, wird dann aus religiöser Sicht nur der christliche Hintergrund berücksichtigt (und später im Detail auch die Bahá’í Sichtweise), denn dass Europa überwiegend christlich geprägt ist, lässt sich nicht abstreiten.

2.1 Religiöse Erziehung als Risiko

Es stellt sich zunächst die Frage, ob Religion für die Erziehung des Kindes überhaupt notwendig ist. Dazu gibt es gegensätzliche Darstellungen. Beispielsweise ist die Angst dass religiöse Erziehung zu „Gottesvergiftung“ führen könnte, weit verbreitet. Der Psychoanalytiker Tilmann Moser, der diesen Begriff geprägt hat, meint damit, dass Gottesvergiftung eine unfreie Erziehung ist, die sich auf Gott beruft um das Kind zu kontrollieren und zu manipulieren. „Am bekanntesten ist die Vermittlung von Strafängsten (Der liebe Gott sieht alles!), durch die die Erwachsenen ihre Kontrollmöglichkeiten gegenüber dem Kind erweitern“ (Schweitzer 2000, S. 40). Betroffene dieser Form von religiöser Fehlerziehung berichten weiterhin von „abgrundtiefen Minderwertigkeitsgefühlen“ wenn Kindern angeblich göttliche Erwartungen hinsichtlich ihres Verhaltens aufgezeigt werden, etwa nach dem Motto: „Wie willst du vor Gott bestehen, wenn du im Leben nichts erreichst?“ Schliesslich ist auch oft von sexueller Verklemmung und neurotischen Hemmungen die Rede dessen Ursache Betroffene in der religiösen Erziehung sehen („Ein gutes Kind tut so etwas nicht“) (vgl. Schweitzer 2000, S. 40). Man könnte also sagen dass Gottesvergiftung symbolisch für eine Erziehung steht, in der Gott die allmächtige Überwachungs- und Kontrollinstanz ist und von Erwachsenen mehr oder weniger bewusst eingesetzt wird.

Zweifellos ist eine Erziehung die solche Traumata in einem Kind hervorruft schädigend und behindert es in seiner gesunden Entwicklung. Es wird sogar von ekklesiogenen Zwangsneurosen berichtet, die Kinder und Jugendliche, die mit einer religiösen (und in meinen Augen fehlerhaft-religiösen) Erziehung aufwachsen, durchleiden können. Es bedarf dann jahrelanger Therapie bevor Aussicht auf Erfolg und Normalität für den/die Betroffene besteht (vgl. Knölker 1994, S. 179-184). Natürlich sollten diese Berichte nicht zu einer pauschal negativen Ansicht über religiöse Erziehung als Ganzes führen. Es kommen immer auch andere Faktoren als Auslöser mit in Frage.

Kritisiert wird in der religiösen Erziehung auch die vorwiegend christliche Sichtweise vieler Religionspädagogen. Vor allem der Aspekt, dass die beiden grossen Konfessionsrichtungen eine Machtposition innehaben die ihresgleichen in Europa sucht, dass also „in der Realität unserer Gesellschaft Religion primär christliche Religion ist, dass diese gestützt und getragen wird von der Mehrheit einer Bevölkerung, die getauft ist und Kirchensteuer zahlt, dass diese Religion durch Konfessionen vertreten ist, und – schliesslich – dass diese staatlich geachtet und gestützt in Öffentlichkeit, Schule und im Wohlfahrtswesenweithin unangefochten agieren“ (Thiersch 1994, S. 43) ist eine Tatsache. Sicherlich leisten Einrichtungen kirchlicher und konfessioneller Träger wichtige und unentbehrliche Arbeit im sozialen und medizinischen Bereich, doch wird der konfessionelle Einfluss kritisiert und vor allem die Tatsache dass andere religiöse Sichtweisen es schwer haben, hier ihre Ressourcen aufgrund des religiösen Hintergrunds anbieten zu können[1].

Schliesslich sind die sexuellen Hemmungen und Probleme religiös erzogener Menschen ein weiteres kritisiertes Thema. Mit der zunehmenden Entwicklung haben die traditionellen Sozialisationsträger ihren Einfluss in der Sexualität mehr und mehr verloren, Jugendliche benutzen als sexuelle Orientierungsmöglichkeit nicht mehr die kirchliche Instanz. Es ist eine Dissonanz zwischen den kirchlichen Normen, an denen sich immer noch viele Jugendliche orientieren und der Praxis entstanden. Jugendliche die ein religiöses Wertesystem verwenden, klammern den sexuellen Aspekt in der Praxis meist aus, ohne sich dadurch vom Normengeber zu distanzieren (vgl. Bartholomäus 1994, S. 139). Als veraltet und nicht mehr zeitgemäss wird die kirchlich-konfessionelle Sichtweise kritisiert. Die jugendliche Sehnsucht nach Lust und Liebe ist beispielsweise für die katholische Kirche eine „abgelehnte Realität“ (Bartholomäus 1994, S. 41) die für sie nicht existiert. Jugendliche Sexualerfahrungen besitzen hier keinen Eigenwert und die Kirche „forciert eine an die Ehe gebundene Fortpflanzungssexualität. Sexuelle Lust und Liebe werden hier nur zögerlich zugelassen“ (ebd.).

Die Kritik ist in manchen Punkten natürlich berechtigt, beispielsweise wenn es um ausgelöste Neurosen und sexuelle Funktionsprobleme geht. Doch können meiner Meinung nach all diese Punkte einer religiösen Erziehung auch so umgesetzt werden, dass keine Traumata entstehen. Der Begriff der Freiheit ist ja ein relativer Begriff und nur subjektiv wahrnehmbar. Die Kritiker orientieren sich deshalb an gesellschaftlichen Normen, die einen demokratisch-freiheitlichen Hintergrund haben.

2.2 Religiöse Erziehung als Chance

Eine gegensätzliche Meinung beispielsweise zur Gottesvergiftung stellt das „religiöse Kaspar-Hauser-Syndrom“ dar. Hier steht das Schicksal des Kaspar Hauser, der „ganz auf sich allein gestellt in der sozialen Isolation eines bis heute unbekannten Gefängnisses aufwachsen musste“ (Schweitzer 2000, S. 41) symbolisch für die Erfahrungen des mit seinen religiösen Fragen alleingelassenen Kindes, dass sich beispielsweise bei Themen wie Leben und Tod, Glaube, Religion oder Gott, also mit seinen religiösen Erfahrungen nicht auf die Eltern oder andere Erwachsene verlassen kann. Doch was sind religiöse Erfahrungen im Leben des Kindes?

Das Kind wird, wenn es auf die Welt kommt, sofort in ein Verhältnis zu Erwachsenen hineingeboren, in dem es von ihnen komplett abhängig ist. Hier kommt es also um die Vertrauenswürdigkeit von Mutter und Vater oder Pflegepersonen an, damit das Kind sich gesund entwickeln kann. Wenn dieses „Urvertrauen“ fehlt, wird das Kind krank (vgl. Schweitzer 2000, S. 15).

Es geht in der Entwicklung des Kindes also um mehr als nur um richtige Ernährung, warme Kleidung und pünktliche Mahlzeiten. Für das Kind ist es eine Frage von Leben und Tod ob es geliebt wird oder nicht. Zunächst spielen dabei nur die Eltern eine Rolle, später auch andere Menschen, die dem Kind diese liebevolle Zuwendung geben müssen. Die Beziehung zwischen Zuwendung zum Kind und dessen Vertrauen als Antwort hat der Psychologe Erikson als Spannungsfeld zwischen „Grundvertrauen“ und „Grundmisstrauen“ (Erikson 1971 in: Schweitzer 2000, S. 15) bezeichnet. Schweitzer weist darauf hin, dass diese Begriffe mehr aussagen als das was die Eltern oder andere Erwachsene wirklich versprechen können. „Es geht um ein unbedingtes Vertrauen – um das Vertrauen in die Vertrauenswürdigkeit der Welt. Die Vertrauenswürdigkeit der Welt kann kein Mensch garantieren. Sie verweist auf die Frage nach Gott, auch wenn das Kind diese Frage noch nicht aussprechen kann. Gibt es in dieser Welt eine Liebe, auf die ich mich letztlich verlassen kann, oder gibt es sie nicht?“ (Schweitzer 2000, S. 15) Er spricht hier von Fenstern in der Kinderwelt im Verhältnis zum Rest der Welt. Fenster aus denen man in die Welt sehen kann und man bemerkt, dass die Welt um einen herum mehr ist als das, was man mit den Sinnen erfassen kann. Die Frage nach Gott und dem Vetrauen in die Vertrauenswürdigkeit der Welt ist ein erstes solches Fenster. Das Kind spürt, dass da mehr ist als nur das Sichtbare, Hörbare, Greifbare.

Ein zweites solches Fenster entsteht bei der Frage nach dem Ende des Lebens. Die Frage nach dem Tod bricht oft schon relativ früh in der Kindheit auf, meistens durch den Tod eines Grosselternteils, eines alten Verwandten oder auch eines anderen Kindes. Kinder gehen mit dem Tod ganz anders um als Erwachsene, was oft dazu verleitet zu denken, dass sie es nicht verkraften könnten. Dabei ist die kindliche Umgangsweise einfach nicht immer für Erwachsene einsichtig. „Für das Kind hat der Tod vor allem mit Beziehungen zu tunder Tod bedroht die soziale Welt des Kindes, lässt deren Brüchigkeit erahnen.“ (Schweitzer 2000, S. 17) Kinder verwenden dann oft Fantasien und suchen kreativ Lösungen für ihre Fragen, Fragen mit denen Erwachsene oft überfordert sein können. Was ist die Folgerung daraus für die religiöse Erziehung? Sie kann grundsätzlich in solchen Fragen Erklärungen bieten, Trost und Kraft spenden und sich mit der Angst der Kinder (und allen anderen Menschen) vor dem Tod auseinandersetzen.

Es gibt ein drittes Fenster in der Kinderwelt und dies betrifft die ausdrückliche Frage nach Gott. Die anderen beiden Fenster, die sich mehr um Geburt und Tod drehen sind Teil des menschlichen Lebenslaufs sind. Dieses Fenster jedoch nicht, obwohl die Frage nach Gott unweigerlich im Leben des Kindes irgendwann kommt, vorausgesetzt das Wort „Gott“ begegnet dem Kind, was hierzulande ja vielfach der Fall ist, auch wenn die Eltern dies nicht wollen.

Nach Schweitzers Untersuchungen herrscht unter Kindern die weit verbreitete Vorstellung, dass man wenn man tot ist, zu Gott in den Himmel kommt. Woher sie diese Vorstellung haben, ist nicht feststellbar, jedoch konnte auch beobachtet werden, dass Eltern von dieser Vorstellung berichteten, obwohl sie grossen Wert darauf gelegt hatten, davon ihren Kindern nichts zu erzählen (vgl. Schweitzer 2000, S. 19). Der Himmel erscheint bei Kindern wie ein Dach, dass sich über der Welt wölbt und somit dafür sorgt, dass die Erde wohnlich bleibt. Man kann hier eine deutliche Beziehung zum Grundvertrauen in die Vertrauenswürdigkeit erkennen, welches eine gewisse Sicherheit in sich birgt.

Mit zunehmendem Alter entwerfen Kinder ganze Weltbilder und bringen alles, was sie einzeln wahrgenommen haben, in eine umfassende Ordnung. Die Welt hat ein oben und ein unten, einen Himmel über der Erde unter der sich auch manchmal die Hölle befindet. Gott wohnt dabei in einer Wohnung im Himmel. Gott ist für Kinder dennoch geheimnisvoll, was Anlass für viele schwer zu beantwortende Fragen gibt.

In der späteren Kindheit werden aus den Fenstern in der Kinderwelt konkrete Fragen, von denen Schweitzer fünf als die Wesentlichsten konkretisiert. Ich möchte sie hier kurz erwähnen. Die erste Frage behandelt das Selbst („Wer bin ich und wer darf ich sein?“). Natürlich fragt das Kind diese Frage nicht direkt sondern trägt sie in sich, genau wie auch das Verhalten der Erwachsenen eine Antwort auf diese Frage ist, beispielsweise durch positive oder negative Verstärkung des Verhaltens des Kindes. Also wird „nicht alles was das Kind sein will, wird ihm von den Erwachsenen auch zugestanden“ (Schweitzer 2000, S. 29). Der religiöse Aspekt in dieser zwischenmenschlichen Angelegenheit äussert sich dadurch, dass die Bildung von Identität eine Tiefendimension einschliesst die über die zwischenmenschlichen Erfahrungen hinausgeht. Erikson beispielsweise schreibt, dass „das Wort „Ich“ bedeute die sprachliche Versicherung, derzufolge ich fühle, dass ich das Zentrum des Bewusstseins bin in einem Universum der Erfahrung, in dem ich eine kohärente Identität habe. Diese Erfahrung sei so subjektiv, dass sie sich nicht quantifizieren lasse...Der Gegenspieler des Ich kann daher, streng genommen, nur die Gottheit sein.“ (vgl Erikson 1968 in: Schweitzer 2000, S. 30) Nur eine Gottheit, ein grösseres Ich, ein transzendentes Gegenüber, kann also dem Kind (einem sterblichen Menschen) dieses Gefühl geben, dem Kind diejenige Anerkennung schenken, „durch die sein Ich zu einem freien Gegenüber aller Menschen werden soll.“ (Schweitzer 2000, S. 30). Alle Betrachtungsweisen die nur auf das Soziale beschränkt sind greifen hier demnach zu kurz, denn sie klammern die geistige Natur des Kindes vollständig aus und es besteht die Gefahr, dass das Kind nur als Produkt seiner Umwelt wahrgenommen wird und sich überanpassen kann. Als Kontrollinstanz wird ebenfalls diese Umwelt genommen. Jedoch wird die Erziehung des Kindes, die als autonom gesehen wird, gerade dadurch unfrei, dass Eltern die keine höhere Instanz als sich selbst anerkennen. Natürlich kann auch eine falsch verstandene religiöse Erziehung höchst unfrei machen, wie oben schon betrachtet wurde. Es soll kein Entweder-Oder behauptet werden. Ein angemessener Transzendenzbezug kann zumindest aber eine wesentliche Voraussetzung für eine Selbstwerdung in Freiheit darstellen.

Die zweite wesentliche Frage handelt vom Sinn des Ganzen („Warum musst du sterben?“). Dabei ist nicht umstritten ob die Frage relevant ist, sondern eher der religiöse Gehalt. Ist es nicht ausreichend, dem Kind die Natürlichkeit des Todes zu erklären? (Etwa nach dem Motto: Alle Menschen müssen einmal sterben – das ist eben so) Diese Erklärung mag vielleicht ein Ansatz sein, doch gibt sie dem Kind auch ein Gefühl von Endlichkeit, später vielleicht Hoffnungslosigkeit und Sinnlosigkeit des Lebens. Der Umgang mit dem Tod ist also auch mit entscheidend wie wir leben und ob wir überhaupt leben. Korczak beispielsweise formuliert dies so: „Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreissen, entziehen wir es dem Leben; um seinen Tod zu verhindern, lassen wir es nicht leben.“ (Korczak 1983, S. 44) Sicherlich gibt es auch nicht-religiöse Antworten auf die Frage nach dem Tod, ob sie aber weiterhelfen bleibt offen. Sicher ist, dass die Antwort der Religionen hier eine wichtige Hilfe leisten können, da sie den Fragen des Kindes näher kommen als der naturwissenschaftliche Ansatz (vgl. Schweitzer 2000, S. 33).

Die Frage nach Gott (Wo finde ich Schutz und Geborgenheit?) ist die dritte Frage die Schweitzer hier erwähnt. Diese Frage kann auf religiöse Erziehung zurückgeführt werden und hat so betrachtet, nicht die gleiche Relevanz wie beispielsweise die Frage nach dem Tod oder dem Selbst. In allen Bereichen des Lebens jedoch werden Kinder (zumindest in unserem Kulturkreis) fast zwangsläufig auf das Wort Gott oder auf Darstellungen von Gott stossen, auch wenn sie im Elternhaus nicht religiös erzogen werden. Weiterhin erfahren Kinder ihre Eltern, so die Psychoanalytikerin Rizzuto, als allmächtige Quellen von Zuwendung und Versorgung. Jedoch gehen diese Erfahrungen weit tiefer als man von aussen sehen kann. Diese Erfahrungen besitzen eine gewisse Unbedingtheit, „die über sich selbst hinausweist.“ (Schweitzer 2000, S. 34) Dies alles passiert natürlich, bevor das Kind sprechen und sich damit artikulieren und seine Erfahrungen ausdrücken kann. Offenbar werden aber Spuren im Kind hinterlassen, in Form von Sehnsüchten, Hoffnungen aber auch Ängsten und Enttäuschungen. Besonders bezeichnend ist dabei, dass diese Gefühle die gesamte Existenz des Kindes betreffen. Folgernd daraus kann man leicht erkennen, dass Kinder, die sich später religiöse Geschichten aneignen, dadurch zugleich eine Sprache für ihre Erfahrungen aus der Kindheit gewinnen, die sonst sprachlos bleiben. Die Sehnsüchte und Ängste aus der Kindheit werden so sprachlich einer bewussten Gestaltung zugänglich und können mitgeteilt werden. Der Sprachgewinn ist also für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung wichtig. Leider ist noch wenig darüber bekannt, was passiert, wenn Kinder diese Möglichkeit der „religiösen Sprache“ nicht angeboten bekommen und wie genau die Persönlichkeit unterschiedlich entwickelt.

[...]


[1] Man muss natürlich dazu sagen, dass die Situation sich in vielerlei Hinsicht gebessert hat. Es sind bereits vielerorts interreligiöse Dialoge vorhanden, sowie gemeinsame Projekte mit Gemeinden anderer Religionen (vgl. Schweitzer 2000, S. 50)

Ende der Leseprobe aus 40 Seiten

Details

Titel
Erziehung und Religion am Beispiel des Bahá'í Glaubens
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft)
Veranstaltung
Seminar
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
40
Katalognummer
V46848
ISBN (eBook)
9783638439435
Dateigröße
2067 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erziehung, Religion, Beispiel, Bahá, Glaubens, Seminar
Arbeit zitieren
Dominik Schreiner (Autor:in), 2005, Erziehung und Religion am Beispiel des Bahá'í Glaubens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46848

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