Welche Rolle spielte Deutschland bei der EU-Osterweiterung?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2016

28 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Theoretische Vorüberlegungen
2.1. (Neo-) Realismus
2.2. Konstruktivismus
2.3. Institutionalismus

3. Die Osterweiterung der Europäischen Union
3.1. Strukturelle Voraussetzungen in Europa nach dem Ende des Ost-West-Konflikts
3.2. Der Rollenkonflikt zwischen Vertiefung und Erweiterung
3.3. Etappen der EU-Osterweiterung

4. Deutschlands Rolle bei der EU-Osterweiterung
4.1. Außenpolitisches Selbstverständnis Deutschlands
4.2. Neue Konstellation fwür Deutschland nach 1989/90
4.3. Deutschlands Motive für eine Unterstützung der Osterweiterung
4.3.1. Politische Motive
4.3.2. Ökonomische Motive
4.4. Die deutsche Rolle im Prozess der EU-Osterweiterung
4.4.1. Regierung Kohl
4.4.2. Regierung Schröder

5. Theoretische Verortung der deutschen Erweiterungspolitik

6. Fazit

1. Einführung

Am 1. Mai 2004 sind mit den mittel- und osteuropäischen Staaten (MOE-Staaten) Polen, Tschechien, Ungarn, Slowakei, Estland, Lettland und Litauen, sowie den Mittelmeer-Inselstaaten Malta und Zypern zehn neue Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) beigetreten. Die fünfte und bis heute größte Erweiterungsrunde der EU wird meist zusammen mit dem EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens im Jahr 2007 als Osterweiterung bezeichnet. In der vorliegenden Arbeit wird dieser Begriff allerdings ausschließlich auf die Erweiterung von 2004 bezogen. Die Osterweiterung der Europäischen Union bedeutete einen Bevölkerungszuwachs von 75 Millionen auf etwa 450 Millionen Unionsbürger, das Territorium der EU vergrößerte sich zudem um etwa 23% (vgl. Lippert 2004, S.420). Bereits die Betrachtung dieser Zahlen lässt das Ausmaß an Veränderungen innerhalb Europas durch diese Erweiterung erahnen. Die Osterweiterung war allerdings mehr als nur die Aufnahme von zehn neuen Mitgliedern in den Rechtsraum der EU, sie war zudem auch von immenser ideeller Bedeutung für die Europäische Union. Der deutsche Außenminister Joschka Fischer sprach im Oktober 2000 in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag von einer möglichen „Wiedervereinigung Europas“ (Fischer 2000) durch die angestrebte Osterweiterung. Auch wird häufig von einer Rückkehr der osteuropäischen Staaten und Völker nach Europa gesprochen (vgl. Kreile 1999, S.1, und Weidenfeld 2002, S.16). Werner Weidenfeld spricht davon, dass die Osterweiterung die Union wie keine der früheren Erweiterungen verändert hat. Als Gründe nennt er zum Einen die Abkehr von der bisherigen Regierungspraxis der EU, die nach wie vor stark von den sechs Gründungsstaaten geprägt war. Daneben verdopple sich, so Weidenfeld, das Wohlstandsgefälle innerhalb der Europäischen Union und konfiguriere somit eine neue Wirtschafts- und Verteilungspolitik (vgl. Weidenfeld 2003, S.13).

Der lange Prozess bis zur Vollendung der Osterweiterung im Mai 2004 findet in der Literatur vielfach Beachtung. Eine besonders detaillierte Nachzeichnung findet sich beispielsweise im von Werner Weidenfeld jährlich herausgegebenen Jahrbuch der Europäischen Integration. Barbara Lippert beschreibt den Verhandlungsprozess der EU-Osterweiterung darin als politischen „Kraftakt“ (Lippert 2004, S.430), der sowohl auf Seiten der Beitrittskandidaten, wie auch auf Seiten der alten Mitgliedsstaaten einen immensen politischen Willen vorausgesetzt hat.

Der Bundesrepublik Deutschland kam in den Verhandlungen zur Osterweiterung eine Schlüsselrolle zu. Durch die besondere geografische Nähe zu den mittel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten sowie aufgrund der politischen Gestaltungsspielräume als vereinigtes Deutschland nach dem Ende des Ost-West-Konflikts war das Engagement der Bundesrepublik besonders gefragt. Wie genau sich Deutschlands Rolle bei der Vorbereitung und Ausarbeitung der EU-Osterweiterung darstellte, soll Gegenstand der nachstehenden Untersuchungen sein. Dabei sollen die Betrachtungen immer mit Blick auf die Theorien der internationalen Beziehungen (IB) durchgeführt und nach Erklärungsmustern für die Handlungen der Bundesrepublik in der Frage der Osterweiterung gesucht werden. Nach einer theoretischen Einordnung werden zunächst die strukturellen Gegebenheiten in Europa näher skizziert, die die Rahmenbedingungen für die Aushandlung der Osterweiterung bildeten. Ausgehend davon wird die Rolle Deutschlands näher analysiert. Dafür muss zunächst ein Blick auf das außen- und europapolitische Selbstverständnis der Bundesrepublik in der Zeit nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes geworfen werden. Daraus ableitend werden die Motive für die Unterstützung der EU-Osterweiterung durch Deutschland näher ausgeführt. Vor dem Hintergrund der Motive und des Selbstverständnisses deutscher Außenpolitik werden die einzelnen Politiken der Regierungen Kohl und Schröder auf ihren Einfluss und ihre Haltung zur Osterweiterung untersucht. Abschließend wird die deutsche Politik theoretisch verortet. Untersucht wird dabei, welche Theorie der IB das Handeln der Bundesrepublik in der Frage der Osterweiterung am besten erklären kann.

2. Theoretische Vorüberlegungen

Die deutsche Europapolitik im Hinblick auf die Osterweiterung kann aus vielen verschiedenen politikwissenschaftlichen Perspektiven heraus analysiert werden. Mit dem Blick auf die Theorien der internationalen Beziehungen kommen unterschiedliche Erklärungsansätze für die Handlungen der Bundesrepublik in Betracht. Im Folgenden sollen einige der wichtigsten theoretischen Erklärungsansätze der IB ausgeführt werden, die dabei helfen können, die Handlungsmuster der neuen und alten EU-Mitgliedsstaaten und insbesondere der deutschen Europapolitik mit Blick auf die Osterweiterung besser einordnen und systematisieren zu können. Schließlich können Theorien dazu dienen, konkrete politische Handlungen zu abstrahieren und daraus ableitend Gesetzmäßigkeiten formulieren zu können. Analysiert wird im Folgenden die Theorie des (Neo-) Realismus als rationalistischer Erklärungsansatz und die Theorie des Konstruktivismus als liberal, idealistische Theorie. Ebenfalls wird geprüft, welche Erklärungsansätze der Institutionalismus und die Regimetheorie mit Blick auf die deutsche Erweiterungspolitik geben können. Im Hinblick auf die Osterweiterung besonders interessant sind zudem die europäischen Integrationstheorien, die den Integrationsprozess theoretisch einzuordnen versuchen.

2.1. (Neo-) Realismus

Im klassischen Realismus nach Hans Morgenthau dient der Staat als zentrale Analyseebene der internationalen Politik. Staaten werden dabei als gleichförmige Akteure wahrgenommen, die zweckrational handeln und deren oberstes Ziel ein Machtgleichgewicht mit dem Zweck der Sicherheit ist. Internationale Politik ist deshalb primär Sicherheitspolitik. Der realistische Ansatz geht davon aus, dass die Handlungen der einzelnen Akteure im internationalen System sich primär an deren Interessen ausrichten (vgl. Morgenthau 1963).

Im strukturellen Realismus nach Kenneth Waltz bestimmt sich das staatliche Handeln zuvorderst nach der Struktur und den Machtpolaritäten des internationalen Systems (vgl. Waltz 1979). Die unterschiedliche Ausstattung der Staaten mit „capabilities“, also deren Fähigkeiten zur Machterhaltung, begründet das entsprechende Verhalten. Während aber der defensive Realismus, wie ihn Waltz beschreibt, davon ausgeht, dass Staaten „in erster Linie ihre Position im internationalen System erhalten“ (Jerabek 2011, S.28) wollen, geht der offensive Realismus nach Mearsheimer davon aus, dass die Staaten nach Autonomie und einem stetigen Machtgewinn streben (vgl. Mearsheimer 1990, vgl. zu diesem Abschnitt: Nohlen/ Schultze 2010a, S.882f).

Auch der europäische Integrationsprozess wird aus realistischer Sichtweise als Mittel zur Erreichung von neuen Machtressourcen betrachtet. Demnach soll auch die „Osterweiterung zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit von Europa weltweit beitragen“ (Jerabek 2011, S.28), die dadurch ein größeres Gewicht im internationalen System erlangt. Die deutsche Europapolitik der Unterstützung der EU-Osterweiterung kann aus realistischer Sicht vor allem aus den eigenen ökonomischen und politischen Interessen heraus verstanden werden.

2.2. Konstruktivismus

Die konstruktivistische Sichtweise bestimmt die Handlungsstränge der Akteure im Gegensatz zu den rationalistischen Theorien zunächst nach deren Normen und Werten. Im Zentrum stehen ideelle Wandlungsprozesse der Staaten und Gesellschaften. Alexander Wendt spricht in seiner Theorie des Sozialkonstruktivismus davon, dass das Handeln der Staaten nicht nur durch Strukturen, sondern auch von Interaktions-/ und Lernprozessen in der Gesellschaft beeinflusst wird (vgl. Wendt 2000). Gemeinsame Identitäten, Ideen und Interessen werden verinnerlicht und wirken dadurch prägend für die Außenpolitik. Nach der Theorie des Konstruktivismus sind die Handlungen der Akteure in den internationalen Beziehungen also primär von normativen und kulturellen Faktoren bestimmt. „Entscheidend ist dabei, in welchem Maße die außerhalb einer Organisation agierenden Akteure sich mit denen innerhalb der Organisation kollektive Identitäten und Grundsatzeinstellungen teilen.“ (Jerabek 2011, S.32, vgl. zu diesem Abschnitt Nohlen/ Schultze 2010, S.501f)

Mit Blick auf die Osterweiterung würde man nun dem konstruktivistischen Ansatz folgend davon ausgehen, dass sich die strategische Kultur und die kollektive Identität der MOE-Staaten nach dem Ende des Ost-West-Konflikts der Identität der Europäischen Union angenähert hat und dadurch eine vertiefte Kooperation und letztlich die Bereitschaft zur Erweiterung der Union entwickelt hat. Das deutsche Engagement war dem Konstruktivismus folgend also nicht primär durch nationale Interessen bedingt, sondern ist vor allem vor dem Hintergrund sozialer und kultureller Verbindungen mit den MOE-Staaten zu sehen.

2.3. Institutionalismus

Der Institutionalismus greift zunächst die konstruktivistischen Hypothesen auf und erklärt die Motivation der europäischen Akteure für eine Erweiterung ebenfalls primär mit der Kompatibilität von Normen- und Wertevorstellungen. Dabei kommt den gesellschaftlichen Gruppen und dem öffentlichen Diskurs innerhalb der Staaten eine zentrale Bedeutung zu. Robert O. Keohane nimmt zudem an, dass durch gegenseitige Abhängigkeiten im Sinne einer komplexen Interdependenz die Handlungsmöglichkeiten der internationalen Akteure bedeutsam eingeschränkt sind. Dabei kommt den innerhalb einer internationalen Organisation geschaffenen Institutionen und deren Wirkungen eine wichtige Bedeutung zu. Die zentrale Hypothese des Institutionalismus ist, dass die internationale Politik geprägt wird durch die Regeln und Normen, die in internationalen Institutionen verankert sind (vgl. Nohlen/ Schultze 2010, S.411). Insbesondere erlangt der Institutionalismus auch dann eine Erklärungskraft, wenn aus rationalistischer Sicht keine vernünftige Erklärung zu erwarten ist, wenn beispielsweise „ökonomische Wohlfahrtsgewinne nicht oder nur mit erheblichen Verzögerungen zu erwarten sind“ (Jerabek 2011, S.32). Der Institutionalismus geht zudem davon aus, dass die Kooperation in einer internationalen Organisation zu einer Win-Win-Situation werden kann und durch eine zwischenstaatliche Zusammenarbeit die Interessen aller beteiligten Akteure verwirklicht werden können. Die Errichtung von multilateral organisierten Institutionen ist für Keohane deshalb sinnvoll, weil Akteure ohne die Existenz einer zentralen Autorität schlechtere ‚Outcomes‘ erreichen können als mit der Existenz einer solchen. Eine klassische Integrationstheorie ist zudem die des Funktionalismus, bzw. der ‚Spill-over-Effekte‘ aus Integrationserfolgen heraus. So wird hier häufig vom ‚working peace‘, also dem arbeitenden Frieden als Funktion einer langfristigen Kooperation gesprochen, die die kurzfristige, auf die eigene Sicherheit und aktuelle Machtstellung im internationalen System gerichtete Politik ablösen soll. Dabei steht das Ziel der Friedenssicherung vor der funktionalen Gestaltung der Organisation. Die Europäische Union als breitgefächerte und vielschichte Organisation mit multilateralem und supranationalem Charakter ist geeignet, langfristige Sicherheits- und Wohlfahrtbedürfnisse zu decken und hat somit auch nach außen hin Anziehungskräfte für neue Mitglieder (vgl. Nohlen/ Schultze 2010, S.287f).

Die Theorie des Institutionalismus, angewandt auf die europäische Integration geht also von einer Pfadabhängigkeit pro Integration aus, da das institutionelle Gebäude von sich aus ein starker ‚Pull-Faktor‘ für die neuen Beitrittskandidaten ist. „In Bezug auf die Osterweiterung bedeutete dies, dass die Institutionen und organisatorischen Regeln und Normen formell über den ursprünglichen Geltungsbereich in Westeuropa hinaus übernommen wurden“ (Jerabek 2011, S.27). So könnte mit Blick auf die Osterweiterung argumentiert werden, dass durch die Ausrichtung an den gemeinsamen Normen sowohl für die Beitrittskandidaten als auch für die alten Mitgliedsstaaten ein Sicherheits- und Wohlfahrtsgewinn erlangt werden kann. Eine friedliche Konfliktlösung und die Schaffung eines friedlichen Gesamteuropas sind in der supranational organisierten EU durch eine zunehmende Verrechtlichung möglich.

Letztlich besitzen wohl alle genannten Theorien eine gewisse Erklärungskraft zur Einordnung und Systematisierung von Handlungen in der internationalen Politik, wobei die verschiedenen Theorien jeweils unterschiedliche Aspekte hervorheben. Insofern erscheint es als sinnvoll, zur Erklärung der deutschen Rolle bei der Osterweiterung auf einen Theoriemix zurückzugreifen und die verschiedenen Erklärungsansätze, wenn möglich, zu verbinden, um eine bestmögliche Analyse der politischen Handlungen zu erreichen. Die nachfolgende Analyse versucht deshalb, sowohl rationalistische wie auch idealistische Erklärungsansätze zu finden, um zu erklären, warum die Bundesrepublik die EU-Osterweiterung so stark unterstützt hat.

3. Die Osterweiterung der Europäischen Union

3.1. Strukturelle Voraussetzungen in Europa nach dem Ende des Ost-West-Konflikts

Um den Prozess der EU-Osterweiterung und die deutsche Rolle dabei verstehen zu können, müssen zunächst die strukturellen Voraussetzungen in Europa nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes beschrieben werden. Insbesondere unter Rücksichtnahme auf die realistische Theorie der IB sind die Fragen nach der Struktur des internationalen Systems von zentraler Bedeutung: Unter welchen Rahmenbedingungen fanden die Verhandlungen zur EU-Osterweiterung statt und welche Variablen wirkten sich dabei positiv oder negativ auf den Erweiterungsprozess aus?

Der Prozess der Osterweiterung ist bestimmt durch die strukturellen Umwälzungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. 1989/90 steht Europa vor einer Neuordnung des politischen Systems. Diese Neuordnung bedeutete auch das Ende der Bipolarität im internationalen System sowie eine Entideologisierung der Weltpolitik. Internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen, aber auch die Europäische Union gewannen an Bedeutung und die Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes mussten sich neu orientieren. Dabei war insbesondere für die EU die Frage nach dem Umgang und der potentiellen Einbindung der mittel- und osteuropäischen Nachbarstaaten von erheblicher Bedeutung (vgl. Semeniy 2007, S.208). Denn mit der Auflösung des Ost-West-Gegensatzes haben sich ganz eindeutig auch „die Bezugsrahmen und die Bedeutung dessen gewandelt, was Einigung Europas heißt“ (Kreile 1999, S.1). Während die Europäische Union lange Zeit mit Westeuropa gleichzusetzen war, mahnten die osteuropäischen Staaten nach 1989/90 die Einlösung des Versprechens an, „dass die Europäische Gemeinschaft grundsätzlich allen Staaten offenstehe“ (ebd.). Für die EU bot die Osterweiterung also eine Herausforderung, die ihr Selbstverständnis sowie ihre kollektive Handlungsfähigkeit und Gestaltungskraft im Kern herausforderte. Mit der Osterweiterung begibt sich die EU zudem in ein außen- und sicherheitspolitisches Spannungsfeld, sind doch aufgrund der Hinwendung der MOE-Staaten zur Europäischen Union und der zeitgleichen Ausdehnung der NATO „Friktionen im Verhältnis mit Russland zu erwarten“ (Kreile 1999, S.3).

Interessant ist auch ein Blick auf die öffentliche Meinung im Hinblick auf die Osterweiterung. Dabei ist die Position von Regierung und Bevölkerung in Fragen der Befürwortung der Osterweiterung nicht immer auf einer Linie. Wie Lippert im Jahrbuch der Europäischen Integration 2001/2002 ausführt, sind „in den Bewerberländern durchschnittlich 66% für den EU-Beitritt ihres Landes.“ (Lippert 2002, S.402) Die meisten Erweiterungsgegner sind in Österreich, Frankreich, Deutschland und Luxemburg anzutreffen. Sie verknüpfen mit der Erweiterung vor allem „Skepsis hinsichtlich der Frage ihrer Finanzierung“ (Weidenfeld 2002, S.16). Hier wird deutlich, dass gerade die Bundesrepublik Deutschland, deren Regierung sich besonders für eine erfolgreiche und zügige Erweiterung eingesetzt hat, in der Bevölkerung besonders kritische Stimmen zu verzeichnen hatte. Die Verhandlungen zur Osterweiterung und die Aussicht auf eine Ausdehnung der EU auf über 20 Mitglieder führen daneben auch zu neuen politischen Allianzen innerhalb Europas. Wie Weidenfeld ausführt, werden sich die Konstellationen innerhalb der Europäischen Union allerdings nicht einfach in neue und alte Mitglieder aufteilen lassen. Vielmehr seien je nach Politikfeld wechselnde Koalitionen zu erwarten.

3.2. Der Rollenkonflikt zwischen Vertiefung und Erweiterung

Innerhalb der Europäischen Union herrscht schon über den gesamten Integrationsprozess hinweg ein Rollenkonflikt zwischen Befürwortern einer stärkeren Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft und einer fortgeführten Erweiterung. Dieser Konflikt trat nun mit Blick auf eine mögliche EU-Osterweiterung erneut zum Vorschein. Insbesondere sahen viele der alten Mitgliedsstaaten in einer übereilten Erweiterung die Gefahr, dass die Stabilität der Europäischen Union gefährdet werden könnte. Ohne eine adäquate institutionelle Anpassung droht die Erweiterung der Europäischen Union „die Arbeitsfähigkeit von Kommission, Rat, Ausschüssen und Parlament zu untergraben“ (Kreile 1999, S.2). Zudem hegten insbesondere die südeuropäischen Mitgliedsstaaten der EU erhebliche Vorbehalte gegenüber einer Erweiterung nach Osten. Schließlich werde die Aufnahme von zehn neuen Mitgliedsstaaten dazu führen, dass die Konkurrenz um knappe Finanzmittel wächst und einen Konkurrenzkampf zwischen alter und neuer Peripherie auslöst, so Kreile (ebd.). Insbesondere bei den Mittelmeeranrainer-Staaten wächst die Sorge, dass sich das Zentrum der Europäischen Union nach Osten hin verlagert und dass die Osterweiterung die ökonomische und machtpolitische Stellung Deutschlands weiter stärken wird. Mit Blick auf diese Befürchtungen kam der Bundesrepublik also die Aufgabe zu, diese Ängste zu entkräften und diesen durch eine Einbindung und Berücksichtigung der südeuropäischen Interessen entgegenzuwirken.

Zunächst jedenfalls sollten institutionelle Reformen durchgeführt werden, um die Europäische Union fit für die Erweiterung zu machen (vgl. Kreile 1999, S.7). Die Stabilität der Europäischen Union soll dabei gewährleistet werden durch die Stärkung der Europäischen Institutionen einerseits und durch das Aufstellen formaler Kriterien für potentielle Beitrittskandidaten andererseits. Dazu dienten die Kopenhagener Kriterien von 1993, die sowohl politische als auch wirtschaftliche Kriterien für den EU-Beitritt festlegen und die Beitrittskandidaten zur Übernahme des aquis communautaire, also dem gemeinschaftsrechtlichen Besitzstand der Europäischen Union verpflichteten (vgl. Europäischer Rat [ER] 1993). Durch die in Kopenhagen festgelegten Kriterien sollte die Beitrittsfähigkeit der Kandidaten gewährleistet werden, also sichergestellt werden, dass die Beitrittskandidaten sowohl wirtschaftlich als auch politisch in der Lage sind, die europäischen Rechtsvorschriften zu übernehmen und sich ohne größere Schwierigkeiten in den europäischen Binnenmarkt einzugliedern.

Der Konflikt zwischen Befürwortern einer raschen Erweiterung und einer Vertiefung der Integration verschärfte sich 1997 noch unter dem Eindruck des Vertrags von Amsterdam, der die notwendigen institutionellen Anpassungen nicht herbeiführen konnte. Vielmehr waren die als ‚Amsterdam leftovers‘ bekannten fehlenden Vertiefungsschritte zu langwierigen Aufgaben geworden, die die Union vor einer Erweiterung zu bewältigen hatte.

Dagegen argumentiert Kreile, dass sich die Frage nach Vertiefung oder Erweiterung in den Neunziger Jahren nicht mehr in dem Maße stellt, wie im bisherigen Integrationsprozess, sondern dass „der Maastrichter Vertrag […] den Vorrang für die Vertiefung statuiert [hat]“ (Kreile 1999, S.3). So sei „für die jetzigen Beitrittskandidaten die Hürden, die sie zu nehmen haben, höher denn je“ (ebd.). Grundsätzlich ist dem zwar zuzustimmen, dennoch verursacht die Frage, wie tiefgreifend die europäische Integration fortgeschritten sein muss, bevor über einen Erweiterungsschritt nachgedacht werden kann, auch im Verhandlungsprozess der EU-Osterweiterung heftige Diskussionen unter den alten Mitgliedsstaaten und erweist sich somit als zentraler Streitpunkt. Die Reform der europäischen Institutionen wurde teils als Hebel genutzt, um die Erweiterung hinauszuzögern (vgl. Kreile 1999, S.19).

3.3. Etappen der EU-Osterweiterung

Der Prozess der EU-Osterweiterung vollzog sich in verschiedenen Etappen. Der folgende Abschnitt soll die wichtigsten Wegmarken des Erweiterungsprozesses und die daran beteiligten Akteure kurz darstellen.

Seit dem Herbst 1989 bereits wurde „die Marktöffnung gegenüber Osteuropa unter Bevorzugung der Reformstaaten beschleunigt vorangetrieben“ (Kreile 1999, S.4). So wurden zwischen 1988 und 1990 umfassende Handelsabkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft (EG) und den Staaten des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) abgeschlossen. Diese Abkommen der ersten Generation sahen eine erste vorsichtige Handelsliberalisierung sowie eine verstärkte Zusammenarbeit in den Bereichen Landwirtschaften, Finanzen und Energie vor (vgl. Becker 2011, S.29). Die dramatische Beschleunigung der Umwälzungen in den MOE-Staaten im Jahr 1989 führte dazu, dass die EG Soforthilfemaßnahmen unternahm, um die Reformprozesse in den Umbruchstaaten zu unterstützen. Zum Abschluss dieser „ersten Phase einer eigenständigen Ostpolitik der Europäischen Union“ (ebd., S.30) bekannte sich die Europäische Gemeinschaft zu ihrer besonderen Verantwortung für die Prozesse in den MOE-Staaten.

Als zweite Etappe der Annäherung der MOE-Staaten an die Europäische Gemeinschaft stand eine umfassende Assoziierungsstrategie, die die Reformstaaten bei der Integration in die westlichen Strukturen und Institutionen unterstützen sollten. Diese Phase war allerdings gekennzeichnet von unionsinternen Differenzen im Hinblick auf den Umgang mit den assoziierten Beitrittskandidaten. Einen weiteren wichtigen Schritt hin zur Anbindung der MOE-Staaten an die Europäische Gemeinschaft markierten die sogenannten Europa-Abkommen im Jahr 1991, deren Kern eine Handelsliberalisierung zwischen den assoziierten Staaten und der Europäischen Gemeinschaft bildete (vgl. ebd., S.32f). Die Europaabkommen sollten das Drängen der MOE-Staaten auf einen Beitritt aufnehmen und gleichzeitig deutlich zum Ausdruck bringen, „welche Wegstrecke sie noch von einer Mitgliedschaft trennt“ (Kreile, zit. nach Becker 2011, S.32). Diese Abkommen wurden zunächst mit Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik ausgehandelt, ab der Mitte der 90er Jahre kamen weiter mittel- und osteuropäische Staaten hinzu.

Einen weiteren zentralen Wegepunkt markierte der Beschluss der Kopenhagener Kriterien für den Beitritt zur EU auf dem Kopenhagener Gipfel 1993. Als Voraussetzungen für eine EU-Mitgliedschaft gelten demnach eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, eine funktionsfähige Marktwirtschaft, sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb der Union standzuhalten. Zudem mussten die Beitrittskandidaten sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu Eigen machen (vgl. Becker 2011, S.38f, siehe auch: ER 1993). Auf der Grundlage dieser Kriterien wurden dann Heranführungsstrategien entwickelt, um die Beitrittskandidaten unter politischen und ökonomischen Gesichtspunkten auf einen Beitritt vorzubereiten. Aber nicht nur die Beitrittskandidaten mussten auf einen möglichen EU-Beitritt vorbereitet werden. In der Agenda 2000 wurden die Ziele zusammengefasst, um die Europäische Union als solche für die Aufnahme neuer Mitglieder zu rüsten. Dafür sollten zentrale Politikbereiche, wie etwa die Agrarpolitik, sowie der Finanzrahmen der EU grundlegend reformiert werden (vgl. Becker 2011, S.44f). Die darin angemahnten Reformbestrebungen sollten die Union noch bis Ende der Beitrittsverhandlungen begleiten.

Als letzte Etappe wurden die offiziellen Beitrittsverhandlungen mit den fünf Ländern der ersten Runde (Polen, Tschechien, Slowenien, Estland, Zypern) am 30. März 1998 eröffnet. Auf dem Gipfel in Helsinki 1999 wurde dann beschlossen, dass die Union zudem mit Rumänien, Slowakei, Lettland, Litauen, Bulgarien und Malta die Beitrittsverhandlungen im Frühjahr 2000 aufnimmt. Ende des langwierigen Verhandlungsprozesses im Jahr 2003 überwiegt in den europäischen Mitgliedsstaaten dann „die Einschätzung, dass die Erweiterung ein politisches Projekt von epochaler Bedeutung ist, das auch ökonomisch sinnvoll ist und in einem längeren Zeitraum für alle ertragreich sein wird“ (Lippert 2004, S.419f). Am Ende waren, wie Lippert im Jahrbuch der Europäischen Integration 2002/2003 schreibt, „sich alle Teilnehmer der Schlussverhandlungen einig, dass die Erweiterung weder an den Reformdefiziten der EU, noch an den finanziellen Ansprüchen der Kandidaten scheitern soll“ (Lippert 2003, S.417). Vielmehr wollte man die historische Chance zur Überwindung der Teilung Europas nutzen und einen dauerhaften Beitrag zur Neuordnung des Kontinents nach 1989 leisten (vgl. ebd.).

So wurde am 16. April 2003 der Beitrittsvertrag zwischen den zehn neuen Mitgliedsstaaten und der Europäischen Union abgeschlossen. Obwohl mit der Osterweiterung die politische, ökonomische und soziale Heterogenität innerhalb der Europäischen Union zweifellos zugenommen hat, wird sie aus heutiger Perspektive sowohl für die beigetretenen Länder als auch für die alten Mitgliedsstaaten insgesamt als Erfolg angesehen (vgl. Becker 2011, S.11). So sind die erwarteten Wohlstandsgewinne in den neuen Mitgliedsstaaten tatsächlich eingetreten, befürchtete Sicherheits- und Kriminalitätsprobleme dagegen nicht in dem befürchteten Ausmaß gegenwärtig.

[...]

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Welche Rolle spielte Deutschland bei der EU-Osterweiterung?
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg  (Institut für Politische Wissenschaft)
Note
1,7
Autor
Jahr
2016
Seiten
28
Katalognummer
V471306
ISBN (eBook)
9783668950351
ISBN (Buch)
9783668950368
Sprache
Deutsch
Schlagworte
EU-Osterweiterung, Osterweiterung, Deutsche Außenpolitik, Europäische Union, EU-Erweiterung
Arbeit zitieren
Jonathan Loos (Autor:in), 2016, Welche Rolle spielte Deutschland bei der EU-Osterweiterung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/471306

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