John Coltrane und die afroamerikanische Oraltradition


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

23 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Afroamerikanische Musikästhetik
2.1. Sermonizing
2.1.1. Beispiel: Rev. B.W. Smith - Watch Them Dogs
2.2. Shouting
2.2.1. Beispiel: Rev. C. J. Johnson – It’s A Sin To Gamble
2.3. Kantillation
2.3.1. Beispiel: Aretha Frankin – Amazing Grace

3. Schaffensperioden
3.1. Funktionsharmonische Anfänge
3. 2 Die Übergangsphase 10 3.2.1. Skalen
3.2.2. Formulae
3.2.3. Harmonische Progressionen
3.2.4. Allgemeine Charakteristika
3.2.5. Beispiel: So What
3.3. Die modale Periode
3.3.1. Beispiel: Impressions
3.4. Der Kantillationsstil
3.4.1. Beispiel: Song Of Praise

4. Zusammenfassung und Fazit

5. Literatur

1. Einleitung

John Coltrane stammt aus North Carolina. Die amerikanischen Südstaaten sind nun von vornherein religiöser geprägt als die Nordstaaten; Coltrane im Besonderen wuchs in einem familiäre Umfeld auf, das diese ohnehin schon vorhandene Prägung um ein vieles vertiefte. Seine Großväter waren Reverends, wobei der eine stimmlich und rhetorisch sehr gut gewesen sein soll und den schwarzen Sermonstil perfekt beherrscht haben dürfte. Seine Eltern waren beide Prediger und ebenfalls musikalisch aktiv: Seine Mutter leitete den Gospelchor und begleitete selbigen am Piano, sein Vater war ein Amateurmusiker, der Violine spielte und Balladen sang. Coltranes Kindheit war also stark von afrochristlicher Musik und Religiösität geprägt. Gerhard Putschögl (1993) geht in seinem Buch „John Coltrane und die afroamerikanische Oraltradition“ davon aus, dass die vokalen religiösen Ausdrucksformen auch eine prägende Wirkung auf Coltranes musikalischen Konzepte, seiner Gestaltungsformen und seine Ausdruckscharakteristik hatten. Diese Ausarbeitung soll Putschögls Thesen und Ausführungen nun zunächst in möglichst kompakter Form wiedergeben. Sie beginnt mit einem Einblick in die afroamerikanische Musikästhetik, wo zunächst mit Hilfe jeweils einen Beispiels auf die zwei grundlegenden Sermonstile sowie die Kantillation eingegangen wird. Im Anschluss beleuchtet sie die einzelnen Schaffensperioden Coltranes und versucht anhand verschiedener Beispiele den Zusammenhang zwischen Coltranes Spiel und der afroamerikanischen Oraltradition herauszustellen. Danach soll unter Einbeziehung anderer Quellen eine kurze Einschätzung von Putschögls Thesen formuliert werden.

2. Afroamerikanische Musikästhetik

Ein Hauptanliegen vokaler und instrumentaler Aufführung im schwarzen Kulturraum ist es, die Lebenskraft zu steigern. Die Aufgabe eines Reverends oder Predigers besteht darin, Energien freizusetzen und die Anwesenden, also die versammelte Gemeinde, darin mit einzubeziehen sodass sie an diesem Energiefluss teilhaben. Der Prediger versucht dies zu erreichen, indem er die Aufmerksamkeit der Anwesenden hervorruft, durch ständige Überraschungen ihre Konzentration erhöht und schließlich in einen Zustand der Entrückung oder der Ekstase versetzt. Sein Vortrag beginnt recht gemächlich und steigert sich dann stufenweise oder kontinuierlich bis zum Höhepunkt, der durch Glossalie gekennzeichnet ist (Putschögl 1993; 71f). Das zentrale Ausdrucksmittel dieser Klimax ist eine sehr expressive, hyperbolische Klangsprache („Glossalie“), die oft in Zusammenhang mit Repetitionen einzelner Wörter und Kurzphrasen („zooning“) oder verschiedenen Formen verzögerter Formulierungen (beispielsweise dem „calculated stutter“) steht. Diese weitgehend freie Gestaltungsweisen spiegelt den Zustand der Ergriffenheit während des ekstatischen Stadiums (Putschögl 1993; 125). Ist der Höhepunkt überschritten, lässt der Prediger den Adrenalinspiegel relativ schnell abfallen und am Minimumlevel auslaufen. Als gestalterische Mittel einer solchen Predigt gelten drastische Veränderungen der Ausdrucksintensität und Dynamik (Stimmvolumen, Diktion), der rhythmischen und der Akzentgestaltung, mithilfe des taktlichen Gefüges, der Ablaufgeschwindigkeit, der Klangfarbe, Tonhöhe usw. Eine wichtige gestalterische Rolle nimmt auch die paraphrasierende Variation ein; sie spricht das Thema nicht banal in direkter Form an, sondern umkreist es in immer variierende Wiederholung (Putschögl 1993; 72ff). Der Zusammenhang ergibt sich dabei jeweils aus der Bezugnahme zur Grundidee. Die Klangsprache ist dem Wortinhalt bei solchen Predigten ebenbürtig und kann sich verselbständigen. Innerhalb des Vortragsstils des traditionellen Southern Preaching Style lassen sich zwei Kategorien nach der tonlichen Struktur der Predigerzeile („sermonline“) unterscheiden: das „sermonizing“ und das „shouting“. Eine weitere Kategorie bildet der „große“ Gospelsong (Putschögl 1993; 75f).

2.1. Sermonizing

Unter dem Begriff “Sermonizing” versteht man den Vortrag eines afroamerikanischen Sermons, dessen Sermonline durch einen relativ durchgängig fallenden tonlichen Duktus bestimmt ist (Putschögl 1993, 125). Als Beispiel analysiert Putschögl Reverend B.W. Smith, dessen Predigt er als Feldaufnahme festgehalten hat.

2.1.1. Rev. B.W. Smith: “Watch Them Dogs”

In Reverend Smiths Vortrag „Watch Them Dogs“ lässt sich sowohl die bereits erwähnte Struktur wie auch einzelne typische Merkmale schön beobachten. Besonders charakteristisch ist etwa das Zeilenmodell, das „Stay there“ als konstanten Anfangsteil hat. Hier erzeugt die Repetition der Wörter und Phrasen Spannung, die sich im glossolierenden „Aouummmmhyeeeaah“ kurzfristig entlädt. Die unmittelbar wieder anschließenden „zooning“-Phrasen führen die Spannung fort: beim zooning des Wortes „never“ wird die zweite Silbe verdreifacht und es entsteht eine viertönige Figur, die dasselbe Patter wie die Phrase „stay there“ hat.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Durch das lange Verharren auf dem Wort „never“ verharrt ergibt sich eine Verzögerung des Satzes „you promised (Beginn Zeile 29) „never to leave me“ (Zeile 41). Hier kommen also Repetitions- bzw. Glossalie-Effekt mit der Taktik der gewollten Verzögerung der Auflösung sowohl nach Wortlaut als auch musikalisch zusammen. Im weiteren Aufbau holt Smith im Ruhezustand aus, findet zur ersten Klimax und stellt einen Beruhigungspunkt dahinter, bevor er erneut ausholt, die zweite Klimax stattfinden lässt und die Predigt erschöpft ausklingen lässt (Putschögl 1993; 91ff). Bereits anhand der „Lautschrift“ kann man beobachten, wie in der Endphase des Sermons also jedes Wort und jede Phrase ad infinitum gesteigert und bis zur Unkenntlichkeit verformt werden kann. Formale Bindungen werden dabei zugunsten freier Strukturierungen aufgelöst, der Wortinhalt tritt hinter der klanglichen Aussage zurück (Putschögl 1993; 95).

2.2. Shouting

Unter dem Begriff des “shouting” versteht man den Vortrag eines afroamerikanischen Sermons, dessen Sermonline primär durch einen Rezitationston (tonus currens) gekennzeichnet ist, der durch einzelne Töne emphatisch überhöht werden kann. Der Vortragstil des „Shouting“ wird zumeist mit klanglicher Intensität („dirty-Lautbildung“), markanter Artikulation und in flüssig rhythmisierter Weise ausgeführt (Putschögl 1993; 101). Als Beispiel analysiert Putschögl Reverend C.J. Johnson, dessen Predigt er ebenfalls als Feldaufnahme festgehalten hat.

2.2.1. Rev. C. J. Johnson: “It’s A Sin To Gamble”

„It’s A Sin To Gamble“ wird von Reverend Johnson mittels eines Lauftons eingeleitet. Während die Sermonline bei Smith von einem Gefälle von der Quint zum Grundton charakteristisch war, ist für Johnson das Verharren auf dem Rezitationston charakteristisch. Die einzelnen Zeilen seines Vortrags enden jeweils mit einer abfallenden Endsilbe, der ein explosives c’ angehängt wird. Dieses anfängliche Stilmittel entwickelt sich im Verlauf des Sermons zu einer zentralen rhythmischen Kraft, die den Ereignisfluss nicht unmaßgeblich vorantreibt (Putschögl 1993; 101f).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Zeilen 7-18 beispielsweise umfassen die verzögerte Vervollständigung des Satzes „Early Sunday morning he got up and said: all power is in my hand!“

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Mit dem Intonieren des Wortes “early” bricht Johnson aus der bisherigen Struktur aus; er schafft hier (durch das Ansingen der Oberquint g’) eine typische emphatische Überhöhung. In den Zeilen 7-11 wiederholt er „early“ bis hin zur glossolierenden Verformung: nachdem er in Zeile 12 zunächst auf dem Laufton einen Ansatz zur Komplettierung des Satzes macht, fällt er in 13 wieder in paraphrasierend repetierende Muster des „early“ zurück. Der Rest des Sermons folgt dann auch schon bekanntem Muster (Putschögl 1993; 103f).

[...]

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
John Coltrane und die afroamerikanische Oraltradition
Hochschule
Universität Hamburg
Note
2,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
23
Katalognummer
V47293
ISBN (eBook)
9783638442701
Dateigröße
2109 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
John, Coltrane, Oraltradition
Arbeit zitieren
Christiane Rohr (Autor:in), 2005, John Coltrane und die afroamerikanische Oraltradition, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47293

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