Sigmund Freuds These, dass der Aggressionstrieb des Menschen ein Abkömmling und Hauptvertreter des Todestriebes sei, der neben dem Eros zum Lebenskampf der Menschenart gehöre, lässt die Frage aufkommen, warum nicht auch Tiere einen solchen Kulturkampf führen. "Sehr wahrscheinlich", glaubte Freud, haben "die Bienen, Ameisen, Termiten durch Jahrhunderttausende" darum gerungen, um innerhalb "ihrer staatlichen Institutionen" jene "Verteilung der Funktionen" gegen den Preis beschränkter Individuen hervor zu bringen, "die wir heute bei ihnen bewundern".
Aus dem Wir, das er hier im Namen aller beansprucht, möchten sich heute bestimmt viele ausklinken, denn die meisten können sich weder für deterministische Geschichtsphilosophien noch totalitäre Ameisenstaaten begeistern. Außerdem darf man wenigstens ahnen, dass sich der gegenwärtige Zustand menschlicher Empfindungen, dem ja wohl immer auch ein Quäntchen Vernunft zur Seite steht, gegenüber solchen Tierstaaten, bei George Orwell auch „Farm der Tiere“ geheißen, niemals grundsätzlich verändert.
Freud brachte es fertig zu fragen, ob möglicherweise die ganze Menschheit unter dem Einfluss der Kulturstrebungen - dabei tat er so, als gäbe es nur einen einzigen Kulturkreis auf der Erde - „neurotisch“ geworden sei. Kurz zuvor belehrte er uns noch, dass die "Symptome der Neurosen (...) wesentlich Ersatzbefriedigungen für unerfüllte sexuelle Wünsche" seien. So gesehen scheint der ganze Planet ein einziges Freud(en)haus zu sein.
Der Begründer der Psychoanalyse hatte recht, abschließend zu sagen, dass er mit seinen Antworten keinen Trost zu bringen weiß, obwohl er sich in aller Bescheidenheit die Schicksalsfrage der Menschenart zu stellen wagte. So bleibt uns zum Glück das Unbehagen an der Kultur weiterhin erhalten.
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Sigmund Freuds These im Kapitel VI, dass der Aggressionstrieb des Menschen ein Abkömmling und Hauptvertreter des Todestriebes[1] sei, der neben dem Eros zum Lebenskampf der Menschenart gehöre, lässt im darauf folgenden Kapitel die Frage aufkommen, warum nicht auch die Tiere einen solchen Kulturkampf führen. Sehr wahrscheinlich, glaubte Freud, haben die Bienen, Ameisen, Termiten durch Jahrhunderttausende darum gerungen, um innerhalb ihrer staatlichen Insti-tutionen jene Verteilung der Funktionen gegen den Preis beschränkter Indivi-duen hervor bringen zu können, die wir heute bei ihnen bewundern.
Aus dem Wir, das er hier im Namen aller beansprucht, möchte ich mich ausklinken, denn mich können weder deterministische Geschichtsphilosophien noch totalitäre Ameisenstaaten begeistern; außerdem hoffe ich, dass sich der gegenwärtige Zustand menschlicher Empfindungen, dem ja wohl immer auch ein Quäntchen Vernunft zur Seite steht, gegenüber solchen Tierstaaten, bei George Orwell auch „Farm der Tiere“ geheißen, niemals grundsätzlich verändert.
Mich überzeugt mehr die Anschauung seines Zeitgenossen Max Scheler, der zu dieser Thematik sagte: Der Mensch ist das Lebewesen, das kraft seines Geistes sich zu seinem Leben, das heftig es durchschauert, prinzipiell asketisch - die eigenen Triebimpulse unterdrückend und verdrängend, d.h. ihnen Nahrung durch Wahrnehmungsbilder und Vorstellungen versagend - verhalten kann. Mit dem Tiere verglichen, das immer „Ja“ zum Wirklichen sagt - auch da noch, wo es verabscheut und flieht -, ist der Mensch der „Neinsagenkönner“, der „Asket des Lebens“, der ewige Protestant gegen die bloße Wirklichkeit, der somit seine Triebenergie zu geistiger Tätigkeit „sublimieren“ kann.[2] Das von Freud betonte menschliche Triebverdrängen, das er fast nur negativ deutete, münzte Scheler produktiv um und sagte, dass der Mensch als der ewige „Faust“ die ihn umgebende Wirklichkeit ständig zu transzendieren sucht - darunter auch seine eigene jeweilige Selbstwirklichkeit. Das konstitutionelle „Nein“ zum Triebe lasse ihn deshalb seine Wahrnehmungswelt durch ein ideelles Gedankenreich[3] überwölben.
Abgesehen davon, bemühte sich Freud durchaus verdienstvoll um Fragen, die wesentlich sind und wohl noch lange aktuell bleiben, zum Beispiel: Welcher Mittel bedient sich die Kultur, um die ihr entgegenstehende Aggression zu hemmen, unschädlich zu machen, vielleicht auszuschalten?
Er glaubte, etwas Merkwürdiges entdeckt zu haben: Aggression könne auch verinnerlicht, zum Ursprung zurück gedrängt, also gegen das eigene Ich gewendet werden. Anstatt sich an anderen auszutoben, stellt sie sich in strenger Aggressionsbereitschaft als Über-Ich in Form des „Gewissens“ gegen das Ich. Solch eine innere Transformation zeitigt natürlich auch eine Außenwirkung, was dazu führen kann, dass einem dann manche ähnlicher sehen als man sich selber, wie mein Dichterfreund Jürgen K. Hultenreich sagen würde.
Aus dieser Spannung entstehe das Schuldbewusstsein, das sich als Strafbedürfnis äußere. Hier entwaffne gleichsam die Kultur die gefährliche Aggressionslust durch eine innere Instanz, der Freud jedoch ein ursprüngliches Unterscheidungsvermögen für Gut und Böse absprach und der er stattdessen einen fremden Einfluss zuwies, dem sich der Mensch aus Angst vor dem Liebesverlust unterwerfe.
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[1] Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften, Einleitung von A. Lorenzer und B. Görlich, 7. unveränderte Auflage, Frankfurt / Main 2001 (Alle fett ausgedruckten Textstellen ohne weitere Fußnoten sind Zitate aus diesem Buch von S. 85 bis 108)
[2] Scheler, Max: Schriften zur Anthropologie. Stuttgart 1994, S. 176 f
[3] Ebenda, S. 177
- Arbeit zitieren
- Siegmar Faust (Autor:in), 2003, Zu: Sigmund Freud - Das Unbehagen in der Kultur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47448