Leseprobe
Doch das Opfer samt der Opferung ist leider mehr als ein Gefühl, vielmehr eine blutige Tatsache wie zum Beispiel ein Verkehrsunfall in seines Wortes doppelter Bedeutung. Ob nun als unerwünschte Schwangerschaft oder als ungewollter Zusammenprall von Fahr- oder Flugzeugen jeder Art, die zahlreichen Opfer sind von alters her von Geheimnissen umwittert und bleiben selbst heute noch im Zwielicht hängen, während man in die Täter - und das nicht nur im „Krimi“, sondern aus dem Alltag bis in die Rechtssprechung hinein - viel mehr investiert.
Vor dieser Banalität hatte sich gewissermaßen ein Mysterienkult herausgebildet. Klar ist indessen, dass dabei stets Aggression im Spiele war und ist. Obwohl der wie auch immer ausgebrochenen Gewalt zumeist „Irrationalität“ zugeschrieben wird, „mangelt es ihr nicht an Beweggründen“.[1] Selbst als friedliche Gesellschaftswesen erleben wir täglich, mit welchen Unterschieden zwischen sich und den Anderen man sich anfreunden oder anfeinden möchte, wenn man den eigentlich noch schlimmeren Zustand der Indifferenz mal beiseite lässt. Eifersucht, Neid, ungestilltes Begehren kann sich allzu leicht zum Hass steigern, der sich entladen will oder muss, nach innen oder außen, einzeln oder kollektiv. So bleibt das Leben immer im Zustand der Ambivalenz, denn man weiß ja nie, ob unsere Zivilisation „vorkatastrophisch oder vorreformatorisch“[2] ist.
Der aggressionsgeladene Mensch sucht und findet zumeist ein Ersatzopfer, und sei es ein Tier, das sich dann oft dadurch ausgezeichnet findet, dass es ein Nutztier ist oder irgendwie menschliche Züge aufweist, wie der konservative Denker Joseph de Maistre (1753-1821) meinte, der auch sah, dass im rituellen Opfer immer ein „unschuldiges“ Geschöpf für einen „Schuldigen“ zahlen, soll heißen: den Kopf hinhalten musste. Zumeist reagiert sich der aufgebrachte Mensch heute im Alltag jedoch an sich selber, an harmlosen Geschöpfen, Suchtmitteln oder Gegenständen ab, die sich in Reichweite befinden. Noch zivilisiertere, also „abgeklärte“ Zeitgenossen donnern nur eine Kanonade Beschimpfungen los, die zumeist mit Begriffen aus Brehms Tierlexikon gespickt und zudem durch ausgesprochen menschliche Attribute wie blöde, dämlich oder doof aufgerüstet sind.
So kann das vorhandene Gewalt-Potential überlistet und verharmlost werden, aber leider funktioniert das nicht immer auf so ungefährliche Weise. Ein klassisches, biblisches wie tragisches Beispiel sind die Brüder Kain und Abel; Viehzüchter der eine, Ackerbauer der andere. Das Lammopfer Abels nimmt Gott an, Kains qualmende Feldfrüchte jedoch nicht. Kain erschlägt schließlich enttäuscht seinen Bruder Abel - soweit die so genannten Tatsachen. Hinter dieser Geschichte wie hinter vielen weiteren, die auch in griechischen Mythen oder deutschen Hausmärchen unter „feindlichen Brüdern“ vorfallen, verbergen sich Spannungen, die unser Leben bis in die Gegenwart nicht nur begleiten, sondern bisweilen sogar bedingen.
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[1] Ebenda, S. 11
[2] Sloterdijk, Peter: Erwachen im Reich der Eifersucht, Nachwort zu René Girards kritischer Apologie des Christentums: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz, München 2002, S. 252
- Arbeit zitieren
- Siegmar Faust (Autor), 2003, Zu: René Girard: "Das Opfer", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47449
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