Das Geschäftsmodell des Kolportageromans und Karl Mays "Waldröschen"


Bachelorarbeit, 2013

44 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Das Geschäftsmodell der Kolportage
2.1 Die Rahmenbedingungen des Buchhandels gegen Ende des 19. Jahrhunderts
2.2 Das System der Kolportage, Geschichte und Definition

3. Der Kolportageroman und seine Merkmale am Beispiel von Karl Mays „Waldröschen“
3.1 „ Das Waldröschen“
3.1.1 Der Autor
3.1.2 Inhalt „Das Waldröschen“
3.2 Merkmale am Beispiel des Waldröschens

4. Gewinner und Verlierer. Verleger, Autoren und Leser des Kolportageromans
4.1 Die Verleger
4.1.1 Der Münchmeyer-Verlag
4.2. „Das Waldröschen“ Entstehungsgeschichte und Vertrag
4.2.1 Karl May als Autor der Kolportageromane und die Beziehung zu seinem Verleger Münchmeyer
4.3 Der Prozess gegen Münchmeyer und dessen Nachfolger Fischer
4.4 Leserschaft
4.5 Das Prämienwesen

5. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit soll das Geschäftsmodell des Kolportageromans untersuchen. Die gewonnenen Erkenntnisse werden auf Karl Mays Roman „Das Waldröschen“ angewendet. Schwerpunkt der Untersuchung ist neben der literarischen Einordnung das mögliche wirtschaftliche Interesse von Leser, Verleger und Autoren und damit verbunden die Frage, ob an einem Kolportageroman alle gleichermaßen profitiert haben oder aber, ob es Gewinner und Verlierer gab. Münchmeyer als typischer Verleger, May als typischer Autor des Kolportageromans und sein Roman „Das Waldröschen“ wurden ausgewählt, da es sich um einen der bekanntesten, erfolgreichsten und somit auch am besten untersuchten Kolportageromane handelt.

Obwohl das Genre des Kolportageromans und die Kolportage besonders im Buchhandel des 19. Jahrhundert eine sehr wichtige Rolle gespielt haben, hat beides in der Geschichte des Buchhandels nicht viel Beachtung gefunden. Karl May ist ein gut erforschter Autor. Das Waldröschen stellt seinen bekanntesten Kolportageroman dar. Seitdem der Verlag Olms Presse in Hildesheim 1969 in einem Reprint die Originalfassung des Waldröschens als Faksimiledruck veröffentlicht hat, hat sich die Forschungslage um das Waldröschen deutlich verbessert. Da das Papier der Kolportageheftchen von einer sehr schlechten Qualität war und daher nicht lange hielt, ist es heute schwierig, an Originale zu gelangen. Des Weiteren wurden die Hefte selten aufbewahrt, vor allem weil es sich im damaligen Verständnis des seriösen Buchpublikums um „Schundliteratur“ handelte. Dementsprechend war es auch sehr schwierig, an die unveränderte Originalausgabe des Waldröschens zu gelangen, was sich auch auf die Forschungslage auswirkte. Der Karl-May-Verlag hatte 1913 alle Rechte an den Münchmeyer-Romanen erworben und dann nur noch stark überarbeitete Versionen veröffentlicht. Ab 1969 findet sich allerdings mehr Forschungsliteratur zum Waldröschen. Hierzu gehört unter anderem das Werk „Karl May und seine Münchmeyer-Romane“ von Ralf Harder 1. Hier befasst sich der Verfasser mit der Entstehungsgeschichte von Mays Kolportageromanen und dem Konflikt zwischen Autor und Verleger vor allem wegen der Eingriffe seitens des Münchmeyer-Verlages in Mays Texten. Auch die Dissertation von Friedhelm Munzel mit dem Titel „Karl Mays Frühwerk Das Waldröschen. Eine didaktische Untersuchung als Beitrag zur Trivialliteratur zur Wilhelminischen Zeit“ 2 stellt eine wichtige Quelle dar. Munzel beschäftigt sich nicht nur ausführlich mit Mays Werk, dem Forschungsstand zum Erscheinungsjahr des Werkes, 1977, und der Entstehungsgeschichte, sondern auch mit der Trivialliteratur in der Wilhelminischen Zeit und der Rolle der Kolportage. Für das Vertriebssystem der Kolportage und den Kolportageroman ist vor allem das Werk „Der Kolportageroman. Bibliographie 1850-1960.“ 3 von Gunter Kosch und Manfred Nagl relevant. Die Autoren erläutern das Prinzip der Kolportage, stellen die wichtigsten Merkmale des Kolportageromans vor und liefern zudem noch eine ausführliche Bibliographie zu den Kolportageromanen von 1850 bis 1960. Auch Georg Jägers „Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert.“ 4 liefert viele wertvolle Informationen zur Vertriebsform der Kolportage, der Entwicklung der Leserschaft, dem Aufbau der Kolportageromane und der Rolle des Verlegers. Für diese Arbeit relevante Informationen zu Karl May bietet Gert Ueding in seinem „Karl-May Handbuch“ 5. In diesem sehr ausführlichen Werk wird auch ein genauer Blick auf Karl Mays Tätigkeit als Kolportageautor und sein Verhältnis zu seinem Verleger Münchmeyer geworfen. Ebenfalls wichtig erscheint die May-Biographie von Hermann Wohlgschaft 6, in welcher der Verfasser ausführlich auf Mays Tätigkeit als Kolportageautor und die Folgen eingeht. Mays Verleger Münchmeyer wird in der Forschung meistens im Zusammenhang mit Mays Kolportageromanen behandelt. In den eingangs genannten Werken spielt auch der Verlag immer wieder eine Rolle. May selbst schrieb in seinem Werk „Ein Schundverlag und seine Helfershelfer“ 7 recht negativ über seinen ehemaligen Verlag. Da Verlag und Autor oft im Streit lagen, soll diese Quelle kritisch bewertet werden. Die Arbeit der Karl-May-Gesellschaft 8 soll bei dem aktuellen Forschungsstand keineswegs außer Acht gelassen werden. In den Mitteilungen und Sonderheften werden regelmäßig neue Arbeiten veröffentlicht. Die Karl-May-Stiftung hat ihren Beitrag zur Forschung dahingehend geleistet, dass sie den gesamten Text des Waldröschens in der Originalfassung online zur Verfügung gestellt hat. 9 Das Problem des aktuellen Forschungsstandes besteht allerdings darin, dass sich zahlenmäßig viele Werke zu der Thematik der Kolportage und des Kolportageromans finden lassen, die sich inhaltlich jedoch nur wenig voneinander unterscheiden.

Der begrenzte Rahmen dieser Bachelorarbeit lässt nur einen historischen Ansatz der Untersuchung des Kolportageromans zu. Der Schwerpunkt liegt auf den buchwissenschaftlichen Aspekten des Kolportageromans und nicht auf den literaturwissenschaftlichen. Um über den Kolportageroman sprechen zu können, muss man Geschichte und System der Kolportage kennen und verstehen. Um diese zu erläutern, wird zunächst ein Blick auf die Rahmenbedingungen des Buchhandels Ende des 19. Jahrhunderts geworfen, da die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen der Zeit relevant für den Erfolg des Kolportageromans waren. Im Anschluss wird der Begriff der Kolportage kurz definiert, das Prinzip erläutert, die Geschichte und die Beteiligten vorgestellt und kurz auf die historisch-politische Lage eingegangen. Es folgt eingebunden in die oben genannten Erläuterungen die eigentliche Untersuchung des historischen Kolportageromans. „Das Waldröschen“ und der Autor May werden kurz vorgestellt, um daran dann allgemeine Merkmale eines Kolportageromans herauszuarbeiten. Im Anschluss soll versucht werden, die anfangs gestellte Frage nach Gewinner und Verlierer zu beantworten. Hierzu scheint es sinnvoll auf die Rolle der Verleger, im Falle des Waldröschens dem Münchmeyer-Verlag, die der Autoren, im Rahmen dieser Arbeit also May und zuletzt auf ihre Kunden, die Leser, einzugehen. Ziel ist, herauszuarbeiten, wer das größere wirtschaftliche Interesse an der Erstellung und Vertrieb der Kolportageromane hatte und am Ende den größeren wirtschaftlichen Nutzen hieraus gezogen hat.

2. Das Geschäftsmodell der Kolportage

Zunächst wird in dieser Arbeit auf das System der Kolportage eingegangen. Dabei wird ein Blick auf die Rahmenbedingungen des Buchhandels, den Kolporteur und die Kolportagebuchhandlungen sowie ihre geschäftliche Beziehung zueinander geworfen.

2.1 Die Rahmenbedingungen des Buchhandels gegen Ende des 19. Jahrhunderts

Die Vereinheitlichung der Währung im Reich, der Ausbau des Post-und Paketwesens sowie die Verbesserung des Nachrichten- und Verkehrswesens waren wichtige Entwicklungen für den Buchhandel im Kaiserreich. Der Tauschhandel war nun endgültig Geschichte. Der Gründerzeitboom ließ die jährliche Buchproduktion nach 1871 rasch ansteigen und im Jahr 1900 war die Zahl der produzierten Bücher schon sechs Mal so hoch wie noch 1800 und 1913 mit knapp 36.000 Titeln neun Mal so hoch. Die Bevölkerungsexplosion und Urbanisierung sowie die verbesserte Kulturpolitik, die Boomphase der Hochschulen und die allgemeine Verbesserung der Lebensverhältnisse unterstützen das Wachstum des Buchhandels. Die Industrialisierung brachte die Menschen in den Genuss geregelter Arbeits-und Freizeiten. Mit diesen Neuerungen einhergehend entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts ein neues Lesepublikum. 10 Seit der Leserevolution des ausgehenden 18. Jahrhunderts stellte die informations- und unterhaltungsorientierte Lektüre eine wichtige Gruppe dar. Vor allem für das Bürgertum waren periodische Presse und Romane besonders relevant. 11 Die staatlichen Rahmenbedingungen waren im Kaiserreich zunächst sehr günstig. Das Urheber-und Verlagsgesetz, welches 1871 zu einem Reichsgesetz geworden war, schaffte dem Buchhandel einen gesetzlichen Rahmen. Im Kaiserreich kam es zu einer Ausweitung und Differenzierung des Marktes. Zum einen kamen neue Vertriebswege, wie der Verkauf am Bahnhof, auf der Straße oder von Haus zu Haus hinzu, zum anderen dementsprechend auch neue Produkte wie zum Beispiel Serienhefte oder Reiseliteratur. Neuerungen der Produktionsverfahren führten zur Mechanisierung und Automatisierung des Buchgewerbes. Durch den Übergang von Bildungs- zu Unterhaltungsliteratur entstand langsam ein früher Massenmarkt, der auch besonders durch die nun erheblich günstiger gewordene Produktion angetrieben wurde. Durch das Aufkommen von Billigangeboten wurden neue Lesergruppen wie Schüler und Studenten gewonnen und das Land konnte nun flächendeckend mit Literatur versorgt werden. 12

2.2 Das System der Kolportage, Geschichte und Definition

Der wachsende Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung, die Einführung der Gewerbefreiheit und die neuen Reproduktionsverfahren und Vertriebsformen öffneten den Weg für einfallsreiche und risikofreudige Unternehmer, die mit dem stets weiter wachsenden Markt der Neuleserschaft experimentierten. Durch die Änderung der Gewerbeordnung in den 1860er Jahren wurde es nun auch Berufsfremden und nicht einschlägig Ausgebildeten ermöglicht, Unternehmen zu gründen. 13 Zu den sich neu entwickelnden Vertriebsformen gehörte auch der Kolportagebuchhandel. Der Kolportagebuchhandel ist zwar keine im 19. Jahrhundert neu erfundene Vertriebsform doch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts veränderte er sich grundlegend.

Für die neue Leserschaft mussten billige Periodika und Lieferungswerke produziert werden.14

Die Bezeichnung „Kolporteur“ oder „Kolportage“ stammt von dem französischen Begriff „colporter“, was herumtragen bzw. feilbieten bedeutet und wiederum von den Worten „col“, was Hals bedeutet und „porter“, was tragen meint, abstammt. Das weist darauf hin, dass die Händler die Bücher in einem Korb auf dem Rücken transportierten, der mit einem Band um den Hals befestigt war. 15 Aus diesem Bereich stammt auch der Begriff „kolportieren“ im Sinne von Verbreiten von Gerüchten.

Ein Kolporteur, auch Bücherhausierer genannt, zog mit seinem Korb von Tür zu Tür. In seinem Angebot befanden sich hauptsächlich günstige Kleinschriften, Kalender, Gebets-und Gesangbücher, Schulbücher, Erbauungsschriften und Briefsteller. Ab dem 18. Jahrhundert kamen hierzu auch noch die unterhaltenden Schriften. 16 Nach Dr. Karl Baumbach versteht man unter dem Kolportagebuchhandel

den Hausirhandel mit Druckschriften und Bildwerken; also der Gewerbebetrieb desjenigen, der außerhalb des Gemeindebezirks seines Wohnorts ohne Begründung einer gewerblichen Niederlassung und ohne vorgängige Bestellung in eigener Person Druckschriften, andere Schriften oder Bildwerke im umherziehen feilbietet. 17

Anfang des 19. Jahrhunderts ließen die Verleger ihre Händler, die meistens ungelernte Kräfte waren, mit Prospekten von Haus zu Haus ziehen und mit diesen etwas „Nochniedagewesenes“ 18 anpreisen. Die Abonnentensammler und Reisenden waren oft nur vorübergehend in der Buchbranche tätig und gingen sonst einem anderen Beruf nach. Meistens kamen sie aus dem unteren Mittelstand und waren stellenlose Kaufleute, Kellner, Handwerker, Maurer, Zimmerleute oder Bäcker. 19 Häufig hatten sie auch Inhaltsangaben der Romane dabei, welche die Kunden anlocken sollten. Später wurde das Geld dann mithilfe eines Lieferburschens abkassiert, der gleichzeitig die Ware lieferte. 20 Der Unterschied zum früheren Kolportagebuchhandel bestand nun darin, dass das Anwerben der Kunden und die Auslieferung der Ware sowie das Abkassieren in zwei getrennten Arbeitsschritten stattfanden. 21 Vor 1800 hatten die Kolportagehändler ihre Ware immer dabei und verkauften sie sofort. Die Kolportagebuchhändler bezogen ihre Ware bei Verlegern oder Grossisten und gaben sie dann an die Kolporteure oder Reisenden weiter.

Um 1850 wurde der Begriff der Kolportage nicht mehr nur vorrangig mit einer Vertriebsform verbunden, sondern bezog sich immer mehr auf die sogenannten „Schund-und Hintertreppenromane“. 22 „Hintertreppenromane „auf Grund der Tatsache, dass die Bediensteten den Kolportagehändler meist heimlich an der Hintertreppe empfangen haben, um zu vermeiden, dass der Hausherr etwas von dem Handel mitbekam.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts arbeiteten die Kolporteure meistens nicht mehr als Angestellte, sondern als selbstständig Gewerbetreibende. Hierzu benötigten sie einen sogenannten Wandergewerbeschein. Diese wurden nur an volljährige Reichsangehörige und befristet auf ein Jahr ausgestellt. Ab 1883 kam noch hinzu, dass der Kolporteur der Verwaltungsbehörde seines Wohnortes ein Druckschriftenverzeichnis vorlegen musste. Die Kolportagebuchhandlungen dienten zumeist nur als Sammelstelle für die aufgenommenen Bestellungen und als Lager für die Boten, die die Werke auslieferten. 23 Die Bezahlung der Kolporteure bestand darin, dass ihnen von der Kolportagebuchhandlung die ersten Heftlieferungen eines Werkes gratis überlassen wurden. Der Erlös dieser Hefte stellte die Bezahlung dar. 24 Es gab allerdings auch fest angestellte Werber und Reisende. 25

Der Gewerbezweig des Kolportagehandels besaß von Beginn an keinen guten Ruf. Oft wurden die Umherziehenden wie Ausgestoßene behandelt, denn man vermutete, dass sie Hehlerei betreiben oder Nachdrucke und unzüchtige, teuflische Werke vertreiben würden. 26 Daher unterlag der Kolportagebuchhandel zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch einer Vielzahl von staatlichen Kontrollen und Schikanen der Zensurbehörden.

Im Börsenblatt äußert sich ein Kritiker folgendermaßen über die günstigen Arbeitskonditionen der Kolporteure

Die Colporteure erhalten die ersten 4 oder 5 Lieferungen ohne jede Entschädigung zur Belohnung für die von ihnen gesammelten Subscribenten und außerdem den Buchhändlerrabatt für jede folgende Lieferung. Letztere beträgt z.B. bei einer bekannten Firma 40 Procent bei Abnahme von 1, 50 Procent bei Abnahmen von 10, 60 Procent bei einer Abnahme von 100 Exemplaren. 27

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte sich das Vertriebssystem der Kolportage in den städtischen Regionen endgültig etabliert. Die Kolportagebuchhandlungen wurden von Grossisten beliefert und ließen durch die sogenannten Werber Abonnements sammeln. Diese wurden dann wiederum von Boten bzw. Reisenden ausgetragen. Die Verlage boten bei Direktbezug für gewöhnlich die Hefte eins bis fünf gratis an und weitere Lieferungen mit 50-55% Rabatt. Häufig wurde auch ein sogenannter „Staffelrabatt“ von den Verlagen gewährt. Bei dem Werk „Völkerkunde“ von Friedrich Ratzel zum Beispiel sah die Rabattstaffelung folgendermaßen aus: Bei einem Bezug von ein bis neun Exemplaren gab es einen Rabatt von 30%, bei zehn bis 24 gab es 35% bis hin zu 45% Rabatt bei einem Bezug von 50 und mehr Exemplaren. Natürlich kam es auch vor, dass vereinzelte Werke aufgrund ihrer mangelnden Qualität sehr hoch rabattiert waren, die Leser dann nur ein Exemplar kauften und der Händler auf den restlichen günstig erworbenen Heften sitzen blieb. Bestellt und abgerechnet wurden bei den Verlegern wöchentlich, was den Kolportagehändlern dahingehend entgegenkam, da sie im vornherein nur schwer einschätzen konnten, wie viele Exemplare eines Werkes sie längerfristig tatsächlich benötigten würden. 28

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlangten die Kolporteure einen zusätzlichen Ausgleich für die Unsicherheit ihres Angestelltenverhältnisses in Form einer Provision. Da die Kolportagebuchhandlungen abhängig von ihren Kolporteuren waren, waren diese in der Lage, ausgesprochen hohe Forderungen zu stellen. 29 Versuche, ein festes Gehalt einzuführen, wurden von den Kolporteuren nicht akzeptiert. Angebote, ein Jahresgehalt von 6000 Mark zu erhalten wurden abgelehnt, da die durchschnittliche Provision in einem Jahr 16 000 bis 20 000 Markt betrug. 30

Besonders gegen Ende der sechziger Jahre kam es durch die oben bereits genannten Verbesserungen der Lebens-und Vertriebsverhältnisse zu einem regelrechten Boom der Kolportage. Viele Verlage nahmen den Kolportagebuchhandel als eine Vertriebsform in ihr Programm auf und es wurden etliche kleine Kolportagebuchhandlungen gegründet. Die Bedeutung des Kolportagebuchhandels war nun so groß wie nie zuvor. In fast jeder Stadt fand man eine Kolportagebuchhandlung und in einigen Fällen beschäftigten die Geschäfte einige hundert Kolporteure. 31 Zwischen 1875 und 1892 stieg die Zahl der Kolportagehandlungen im Kaiserreich von 589 auf 1033 an. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Zahl der in der Gesamtkolportage tätigen Personen auf rund 26.000 geschätzt. 1886 schlossen sich mehrere Vereine, die die Interessen des Kolportagebuchhandels wahren wollten, zum „Central Verein Deutscher Colportage-Buchhändler“ zusammen. 32 Ihr Ziel lautete: „ Der Zweck des Vereins ist die Wahrnehmung und Förderung der gemeinsamen Interessen des Deutschen Colportage-Buchhandels, unter Ausschluss politischer und religiöser Fragen“. 33 Des Weiteren machte es sich der Verein zur Aufgabe, Rabattkonditionen zu erarbeiten und zu überwachen, Angriffe auf das Ansehen des Kolportagebuchhandels abzuwehren sowie Preisunterbietungen und Ramschaktionen zu unterbinden. Zur Wende zum 20. Jahrhundert konnte man die Produktpalette der Kolportagebuchhändler in vier Gruppen unterteilen. 54% bestanden aus den großen Familienblättern wie der Gartenlaube, Kunst-und Witzzeitungen sowie Mode-und Hausfrauenzeitschriften. Knapp 20% bestanden aus Fachzeitschriften, 10% aus kompletten Werken wie Koch-und Liederbücher und 16% aus Kolportageromanen. 34 Der größte Unterschied zum Sortimentsbuchhandel bestand in der Zahlungsweise. Wenn ein Kunde sich im Sortimentsbuchhandel für ein Abo entschieden hatte, musste er dies meist für mindestens ein Vierteljahr im Voraus bezahlen. Beim Kolportagebuchhandel wurde wöchentlich geliefert und auch bezahlt.

Man pflegt jetzt die erste Nummer durch Buchhändler zur Ansicht verteilen und dann persönlich nachfragen zu lassen, und besorgen dieses Geschäft in der Hauptsache die Zeitungsspediteure mit ihren hausiernden Kolporteuren. Dies in ausschließlicher Weise und in größerem Maßstab betrieben, ist aber überhaupt nichts anderes als Kolportage und thatsächlich ist dieselbe in der Gegenwart selbst für die vornehmsten und ältesten Unterhaltungsblätter unentbehrlich geworden. Ein reines Kolportageblatt und doch nicht als Schund zu betrachten ist z.B. der 'Häusliche Ratgeber', und dessen Verbreitungsweise eine entschieden nachahmenswerte. Die ersten Nummern, die Agitations-Exemplare, werden in ungeheurer Auflage gedruckt, an die Kolportage-Grosso-Handlungen gratis versandt und von diesen wieder an die größeren Kolporteure abgegeben. Diese verbreiten nun die Nummern durch ihre Austräger in alle Häuser und lassen dann von denselben nachfragen und den Betrag der einzelnen Nummern, der ohne Kürzung der Verdienst der Boten ist, erheben oder die Nummern zurückverlangen. In der Billigkeit der einzelnen Nummer, die möglichst nicht mehr als 10 Pfg. kosten darf und in der Bequemlichkeit der einzelnen quasi Ratenzahlung liegt der gewaltige Erfolg des Kolportage-Buchhandels [...] Natürlich muß man auch bestrebt sein, länger währende Abonnements zu erhalten, da ja dieser einzelne Vertrieb immerhin größere Kosten verursacht und größere Kreditgewährung erfordert. 35

So beschreiben Gustav Bärwinkel und Oskar Webel das Prinzip des Kolportagebuchhandels. Sie machen auch die „Werbestrategien“ deutlich. Häufig wurde das erste Heft einer Reihe kostenfrei an die Kolportagehändler gegeben, die diese dann günstig an die Kunden weiter gaben und somit den Grundstein für ein längeres Abonnement legen konnten.

Der Kolportagebuchhandel spielte folglich im 19. Jahrhundert eine sehr wichtige Rolle beim Vertrieb von Literatur.

Allerdings gab es auch etliche Gegner der Kolportage, insbesondere der Kolportageromane. Ende der siebziger Jahre kam es zu der sogenannten „Schmutz-und Schunddebatte“. Diese ging zunächst von konservativer und christlich-bürgerlicher Seite aus. Es wurde stark gegen die „Schundliteratur“ protestiert. Schmutz und Schund beinhaltete alles, was schlecht geschrieben, bunt, reißerisch, billig, abenteuerlich und kitschig war. Bis zum Ersten Weltkrieg entwickelte sich eine einflussreiche Bewegung mit Vereinen, Zentralverbänden und eigener Fachpresse. 36 Titel wie „Vornehme Verbrecher“ oder „Ein unschuldig verurteilter Arbeiter“ suggerieren eine Wirklichkeit in der in den höheren Kreisen Schwindel, Betrüger und Schurken regieren und die Unterschicht edel, hilfreich und gut ist. Diese Rollenverteilung stieß nicht auf die Zustimmung der Oberschicht. 37 Durch die Verschärfung der bestehenden Gesetze, Boykotte der Geschäfte und Aufklärungsveranstaltungen versuchten die Kritiker, der „Vergiftung des Volkes“ entgegenzuwirken. Ein anderer Versuch war, an die ethische und ästhetische Fürsorgepflicht der Leute gegenüber ihrem Dienstpersonal zu appellieren und den Kolportagebuchhändlern den Zutritt zum Haus zu verwehren. 38 Das Lesen zur Unterhaltung würde von der Arbeit abhalten, es führe zu Sinnlichkeit und Weichlichkeit und es würden falsche und unverdaute Ideen in den Umlauf kommen, die der „einfache Verstand“ nicht fassen kann. Unzufriedenheit und Missmut, wenn nicht sogar Aufstand und Revolution wären die Folgen. Geschürt von der Angst vor einer proletarischen Revolution wuchs die Kritik an der Schmutz- und Schundliteratur immer weiter an. Wer gelernt hat zu lesen könnte auch lernen, sich gegen die herrschenden Verhältnisse aufzulehnen. Besonders Kinder und Jugendliche seien durch die sozial und sittlich minderwertige Literatur gefährdet und ihr Geschmack würde verwirrt werden. Es gehörten allerdings nur weniger als 6% der Kolportageliteratur dem gefürchteten Schund-und Schauerroman an. 39

[...]


1 Vgl. Harder, Ralf: Karl May und seine Münchmeyer-Romane. Eine Analyse zu Autorschaft und Datierung. Ubstadt: KMG-Presse 1996.

2 Vgl. Munzel, Friedhelm : Karl Mays Frühwerk „Das Waldröschen“. Eine didaktische Untersuchung als Beitrag zur Trivialliteratur der Wilhelminischen Zeit. Dissertationsdruck Dortmund 1977.

3 Vgl. Kosch, Günter; Nagl, Manfred: Der Kolportageroman: Bibliographie 1850-1960. Stuttgart; Weimar : Metzler, 1993.

4 Vgl. Jäger, Georg : Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert , Bd. 1: Das Kaiserreich 1871-1918. Berlin: De Gruyter 2010 [ Band 1, Teil 3].

5 Vgl. Ueding, Gert (Hg): Karl-May Handbuch Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2001.

6 Vgl. Wohlgschaft, Hermann: Große Karl-May-Biographie. Leben und Werk. Paderborn 1994.

7 Vgl. May, Karl: Ein Schundverlag. Dresden 1905. Reprint im Karl-May-Verlag, Bamberg 1982

8 Vgl. Karl-May-Gesellschaft URL: http://www.karl-may-gesellschaft.de/index.php (28.5.2013)

9 Vgl. Karl-May-Stiftung Text des Waldröschens URL: http://www.karl-may-stiftung.de/roeschen.html

10 Vgl. Kosch/ Nagl 1993 S. 23.

11 Vgl. Wittmann, Reinhard : Geschichte des deutschen Buchhandels. München: C.H. Beck 1999 S. 298 f.

12 Vgl. Jäger 2010 S. 521.

13 Vgl. Maase, Kaspar; Kaschuba, Wolfgang: Schund und Schönheit: Populäre Kultur um 1900. Köln: Böhlau Verlag Köln 2001 S. 11.

14 Vgl. Kosch/ Nagl 1993 S. 15.

15 Vgl. Graf, Andreas : Kolportage bei Münchmeyer und anderswo (I)In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft Nr. 149 S. 4.

16 Vgl. Jäger 2010 S. 523.

17 Dr. Baumbach, Karl: Der Kolportagebuchhandel und seine Widersacher Berlin 1894. S. 11.

18

19 Vgl. Jäger 2010 S. 552.

20 Vgl. Ueding 2001 S. 53.

21 Vgl. Prinz, August: Stand, Bildung und Wesen des Buchhandels. Altona: Verlagsbureau 1856 S. 49.

22 Vgl. Ueding 2001 S. 54.

23 Vgl. Jäger 2010 S. 523.

24 Vgl. Ebd. S.550.

25 Vgl. Kosch/ Nagl 1993 S. 34.

26 Vgl. Ueding 2001 S. 52.

27 Jäger 2010 S.550.

28 Vgl. Jäger 2010 S. 544.

29 Vgl. Ebd. S. 550.

30 Vgl. Ebd. S. 552.

31 Vgl. Kosch/Nagl 1993 S. 23.

32 Vgl. Ebd. S.25.

33 Vgl. Baumbach 1894 S. 11.

34 Vgl. Jäger 2010 S. 529.

35 Bärwinkel, Gustav, Webel, Oskar: Handbuch für Inserenten. Leitfaden zur Organisation jeder Propaganda. Leipzig: Schmidt-Bärwinkel und Webel 1900 S. 14 f.

36 Vgl. Kosch/Nagl 1993 S.42.

37 Vgl. Ebd. S. 43.

38 Vgl. Ebd. S.44.

39 Vgl. Schenda, Rudolf: Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910 S. 244.

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Das Geschäftsmodell des Kolportageromans und Karl Mays "Waldröschen"
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Note
1,3
Jahr
2013
Seiten
44
Katalognummer
V475293
ISBN (eBook)
9783668960763
ISBN (Buch)
9783668960770
Sprache
Deutsch
Schlagworte
geschäftsmodell, kolportageromans, karl, mays, waldröschen
Arbeit zitieren
Anonym, 2013, Das Geschäftsmodell des Kolportageromans und Karl Mays "Waldröschen", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/475293

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