Leseprobe
Gliederung
1. Einleitung: Eine gesamtdeutsche politische Kultur?
2. Politische Kultur in Deutschland
2.1. Nationalbewusstsein
2.2. Systemakzeptanz
2.3. Vertrauen in politische Institutionen
2.4. Soziale Marktwirtschaft
2.5. Einstellungen zur DDR und zur Einheit
3. Interpretationen zur politischen Kultur
3.1. Eine politische Kultur in Deutschland
3.1.1. Interpretation nach Tuchscheerer
3.1.2. Interpretation nach Jesse
3.2. Zwei politische Kulturen in Deutschland
3.2.1. Interpretation nach Arzheimer und Klein
3.2.2. Interpretation nach Rudzio und Beyme
3.2.3. Interpretation nach Maaz
4. Schluss: Interpretation der Ergebnisse – zwei politische Kulturen
5. Literaturverzeichnis
Zwei politische Kulturen – eine Republik?
1. Einleitung: Eine gesamtdeutsche politische Kultur?
„Der Einigungsprozess in Deutschland vollzog sich in einer nüchternen, gleichsam geschäftsmäßigen Form, weit von so genanntem Hurra-Nationalismus entfernt“ (Jesse 2008: 180). Diese These Eckhard Jesses scheint in erster Linie auf die äußere Wirkung der Wiedervereinigung der DDR und der BRD Bezug zu nehmen. Doch wie sieht es in den Bürgern selbst aus? Wie gehen sie mit der Wiedervereinigung um? Wird durch die äußere Einheit die Innere nach sich gezogen?
Um diesen Fragen nachzugehen beschäftigt sich die vorliegende Seminararbeit mit dem Themenbereich der politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung. Die politische Kultur ist zur Untersuchung dieser Fragen deshalb besonders geeignet, da sie „vornehmlich die subjektive Dimension der Politik“ (Jesse 2008: 169) betrifft und somit das Individuum auf der Mikroebene näher betrachtet. Unter dem Begriff der politischen Kultur sollen „Verhaltensweisen, Wertvorstellungen, politisch-gesellschaftliche Orientierungen, […] ungeschriebene Ideen und ´Befindlichkeiten`“ (Jesse 2008:169) aufgefasst werden, durch die wiederrum Rückschlüsse auf die Stabilität des politischen Systems gezogen werden können.
Inwieweit hat heute, nach mehr als 20 Jahren nach dem Mauerfall, die vielzitierte „Mauer in den Köpfen“ (Tuchscheerer 2010: 158) immer noch Bestand? Oder anders formuliert: Inwieweit können wir von einer gesamtdeutschen politischen Kultur in Deutschland sprechen oder muss von zwei Teilgesellschaften bzw. zwei politischen Kulturen die Rede sein? Mit dieser zentralen Frage setzen sich die folgenden Kapitel auseinander. Dabei sollen zunächst die wichtigsten Teilbereiche der politischen Kultur mit ihren Unterschieden oder Gemeinsamkeiten in Ost und West herausgearbeitet werden, um anschließend eine fundierte Basis für unterschiedliche Interpretationen aufzubauen, welche in einem zweiten Teil analysiert werden.
2. Politische Kultur in Deutschland
Anhand der Punkte Nationalbewusstsein, Systemakzeptanz, Vertrauen in politische Institutionen, Soziale Marktwirtschaft und Einstellung zur DDR und zur Einheit soll die politische Kultur in Deutschland näher beleuchtet werden. Die Informationen beziehen sich auf Grund der Aktualität und Nachvollziehbarkeit auf Heike Tuchscheerers Buch „20 Jahre vereinigtes Deutschland“ aus dem Jahre 2010.
2.1. Nationalbewusstsein
Auch heute noch werden Debatten über die Angemessenheit von nationaler Identifikation geführt, wobei sich doch herauskristallisiert, dass ein „Mindestmaß an Zusammengehörigkeitsgefühl der Bürger […] wesentlich für die Stabilität und den Fortbestand des politischen Systems“ (Tuchscheerer 2010: 157) ist.
Von einem „gedämpften Nationalbewusstsein“ (Tuchscheerer 2010: 184) kann in Deutschland die Rede sein, denn ein unbefangenes Bewusstsein gegenüber der eigenen Nation haben die Deutschen bis heute nicht. Nichtsdestotrotz sind die Einschätzungen zum Patriotismus und Nationalbewusstsein entspannter geworden und werden sowohl im Osten als auch im Westen in vergleichbarem Umfang bejaht. Bei der Betrachtung einer gesamtdeutschen Identität sieht es dagegen anders aus. Hier sind doch signifikante Defizite messbar. Durch das Institut für Demoskopie Allensbach konnte belegt werden, dass sich 2006 erstmals mehr Bürger der neuen Bundesländer als Deutsche denn als Ostdeutsche wahrnahmen, was sich jedoch 2009 wieder umkehrte und zudem rund 30 Prozentpunkte geringer ausgeprägt ist als in Westdeutschland.
Die gleiche Entwicklung fand in Bezug auf die Wahrnehmung von Unterschieden zwischen der ostdeutschen und westdeutschen Bevölkerung statt. Die Betonung von Unterschieden stieg im Westen von 28% (2006) auf 42% (2009) und im Osten von 43% (2006) auf 63% (2009) (Tuchscheerer 2010: 159-163). Dies spricht nach Heike Tuchscheerer dafür, dass eine „neue Bundesrepublik“ entstanden ist. Unter „neuer Bundesrepublik“ versteht sie das Vorhandensein von signifikanten Unterschieden, was für die hier bearbeitete Fragestellung als Indiz für zwei politische Kulturen in Deutschland gewertet werden kann (Tuchscheerer 2010: 184).
2.2. Systemakzeptanz
Bei der Betrachtung der Systemakzeptanz geht es darum, wie die Demokratie als Staatsform bewertet wird und wie die Einstellung der Bürger in Bezug auf die Ausgestaltung der Demokratie ist.
Generell kann man sagen, dass die Bewertung der Demokratie als beste Staatsform und die Zufriedenheit mit ihr seit 1990 über die Jahre abgenommen hat. Dies ist sowohl ein west- als auch ostdeutscher Trend. Wobei auch hier eine Differenzierung notwendig ist, denn die Ergebnisse der neuen Bundesländer liegen durchschnittlich um ca. 20 Prozentpunkte unter denen der alten Bundesländer. Dies zeigt jedoch nicht automatisch, „dass es der Mehrheit der Ostdeutschen an einem demokratischen Bewusstsein fehlt […] wohl aber legt dies ein anderes Demokratieverständnis nahe“ (Tuchscheerer 2010: 185). Im Westen wird eher ein liberales bzw. sozialdemokratisches Model der Demokratie vorgezogen, während die ostdeutsche Bevölkerung eine Synthese von Demokratie und Sozialismus befürworten (Tuchscheerer 2010: 167). Die sinkende Demokratiezufriedenheit ist in den neuen Bundesländern besonders durch das „Ausbleiben eines sich selbst tragenden Wirtschaftsaufschwungs in Ostdeutschland, die als ungerecht empfundene Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums sowie das Gefühl, als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden“ (Tuchscheerer 2010: 169) zu erklären, während sie in Westdeutschland auf reale Wohlstandsverluste zurückzuführen ist. Das relativ schwach ausgeprägte demokratische Bewusstsein und die niedrige Demokratieunterstützung sind nach Tuchscheerer ein Merkmal für eine „neue Bundesrepublik“, also für zwei politische Kulturen in Deutschland.
2.3. Vertrauen in politische Institutionen
Untersucht man das Vertrauen der Bevölkerung in politische Institutionen, so ist sowohl ein absolutes als auch ein zu geringes Vertrauen in die Institutionen für eine Demokratie nicht von Vorteil.
Zusammenfassend lässt sich zu politischen Institutionen sagen „[s]eit der Wiedervereinigung hat das Vertrauen in die meisten Institutionen nachgelassen, im Ost-West-Vergleich fällt es in den neuen Bundesländern geringer aus als in den alten Bundesländern“ (Tuchscheerer 2010: 185). Dabei wurden jedoch im Vergleich zur Systemakzeptanz wesentliche Anpassungsleitungen vollzogen. Die Niveauunterschiede zwischen Ost und West sind eher graduell als prinzipiell und ein weiteres Angleichen findet statt. Die anfängliche Skepsis der neuen Bundesländer ist zu verstehen, da sie mit Institutionen konfrontiert wurden, die ihnen nicht oder nur wenig vertraut war. In beiden Teilen des Landes gibt es Abstufungen beim Vertrauen in die Institutionen. So ist es jedoch nicht verwunderlich, dass beispielsweise politische Einrichtungen eher geringeres Vertrauen zukommt, da sie in den Parteienwettbewerb eingebunden sind und ständigen, häufig konfliktreichen, tagespolitischen Diskussionen ausgesetzt sind (Tuchscheerer 2010: 172). Die sich angleichenden Werte lassen auf eine gewonnene Vertrauensbasis der Bewohner neuer Bundesländer in politische Institutionen schließen und können somit als Hinweis für eine gemeinsame politische Kultur in Deutschland interpretiert werden.
2.4. Soziale Marktwirtschaft
Im Hinblick auf die Beurteilung der sozialen Marktwirtschaft muss differenziert werden. Die alten Bundesländer entwickelten sich spätestens in den 70er Jahren zu einer Überflussgesellschaft, während die DDR eine Mangelgesellschaft blieb. Als Folge galt das System der sozialen Marktwirtschaft im Osten als Garant des Wohlstands im Westen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn Anfang 1990 77% der Ostdeutschen das Wirtschaftssystem positiv beurteilten. Dagegen hatten 2004 und 2006 nur noch 18% eine gute Meinung von der sozialen Marktwirtschaft. Die Meinungsänderung der Bewohner östlicher Bundesländer ist dadurch zu erklären, dass sie sich als stärker Benachteiligt auf dem Arbeitsmarkt empfunden haben und den sich selbst tragenden Wirtschaftsaufschwung vermissen. Die gleichzeitig auch im Westen sinkende Zustimmung ist mit realen Einkommensverlusten zu erklären. (Tuchscheerer 2010: 173-174) Trotz der Tatsache, dass Ostdeutsche die soziale Marktwirtschaft einer Planwirtschaft vorziehen, sind sie wesentlich unzufriedener gegenüber dem Wirtschaftssystem als ihre westdeutschen Nachbarn, was auf zwei politische Kulturen hinweist. Doch wirft man einen Blick auf die Befürwortung staatlicher Zuständigkeit im Bezug auf sozioökonomische Sicherheit und das Leistungsprinzip, so wird deutlich, dass hier wesentliche Anpassungsleistungen vollzogen sind. Aufgrund der höheren Arbeitslosenquote wird Sicherheit im Osten etwas höher eingestuft wie im Westen, doch haben die Gegensätze im zeitlichen Verlauf deutlich abgenommen und nähern sich weiter an. (Tuchscheerer 2010: 186) Die Einstellungen gegenüber dem Wirtschaftssystem sprechen jedoch zum jetzigen Zeitpunkt noch für zwei politische Kulturen in Deutschland.
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