Eine Projektentwicklung zur Betreuung Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Sachsen


Diplomarbeit, 2001

113 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Darstellungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

1. Zur Situation der Zielgruppe
1.1 Beschreibung der Zielgruppe
1.1.1 Eine einführende Eingrenzung des Personenkreises
1.1.2 Die Zielgruppe in Sachsen
1.2 Das Bild der Betroffenen in Politik und Gesellschaft
1.2.1 Tendenzen der Meinungsbildung zu Ausländerfragen in Deutschland
1.2.2 Zum Umgang mit Ausländerfragen in Sachsen
1.3 Fluchtgründe und Fluchtwege
1.3.1 Der „Verlust von Sicherheit“ als verstehender Ansatz der Erklärung von Fluchtgründen
1.3.2 Warum Flüchtlinge auf die Hilfe von Schleusern angewiesen sind
1.3.3 Wege der Einreise nach Sachsen
1.3.4 Die Auswirkungen der Flucht auf die besondere Situation Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge
1.4 Der Wechsel zwischen den Kulturen
1.4.1 Die allgemeine Bedeutung des Wechsels zwischen den Kulturen
1.4.2 Die Bedeutung der Sprache innerhalb des kulturellen Transformationsprozesses
1.4.3 Lösungsansätze zur Bewältigung sprachbezogener Transformationsprobleme
1.5 Auswirkungen der Migration auf die psychische Verfassung der Betroffenen
1.5.1 Psychische Belastungen auf Grund des Wechsels zwischen den Kulturen
1.5.2 Mögliche psychische Folgeschäden auf Grund des kulturellen Transformationsprozesses
1.5.3 Problemlösungsansätze zur Vermeidung psychischer Folgeschäden
1.6 Zur momentanen Betreuungssituation in Sachsen
1.6.1 Wichtige Aspekte der Ausgangssituation in Sachsen
1.6.2 Die Betreuungssituation in Sachsen an ausgewählten Beispielen

2. Rechtliche Grundlagen des zu entwickelnden Projektes 48
2.1 Internationale und europäische Rahmenbedingungen des deutschen Ausländerrechtes
2.1.1 Der Einfluss internationaler Vereinbarungen auf die Rechtsstellung Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Deutschland
2.1.2 Die europäischen Rahmenbedingungen zur Aufnahme von Flüchtlingen
2.2 Die ausländerrechtlichen Voraussetzungen der Aufnahme und Betreuung Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Deutschland
2.2.1 Die staatlichen Beschränkungen einer legalen Einreise von Flüchtlingen
2.2.2 Die rechtlichen Verfahrensweisen beim Eintreffen Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Sachsen
2.2.3 Der Status Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge
2.2.4 Das Prüfungsverfahren
2.2.5 Das Ende des Aufenthaltes
2.2.6 Die deutsche Gesetzgebung im Widerspruch zur Wahrung der Rechte Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge
2.3 Rechtliche Grundlagen der Betreuung und pädagogischen Versorgung von U.m.F. in Sachsen
2.3.1 Die rechtlichen Rahmenbedingungen des vorläufigen Schutzes und längerfristiger Hilfen zur Erziehung
2.3.2 Die rechtlichen Grundlagen der vormundschaftlichen Vertretung von U.m.F
2.3.3 Rechtliche Möglichkeiten der Erst- und Folgebetreuung Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge
2.4 Entwicklungstendenzen und Perspektiven der nationalen und europäischen Gesetzgebung
2.4.1Das deutsche Ausländerrecht im Kontext europäischer Entwicklungstendenzen der Asylbewerberzahlen
2.4.2 Perspektiven der nationalen und europäischen Gesetzgebung

3 Die Projektentwicklung als Ergebnis der Grundlagenanalyse 83
3.1 Ausgangspunkte einer Intervention zur Verbesserung der Betreuung
3.1.1 Zu den besonderen Problemlagen von Unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und dem daraus resultierenden Betreuungsbedarf
3.1.2 Die Auswirkungen von Rahmenbedingungen und Möglichkeiten der Intervention
3.2 Geeignete Interventionsformen als Projektangebote
3.2.1 Zur Grundstruktur des Projektes
3.2.2 Zum äußeren Wirkungskreis des Projektes
3.3 Die Projektangebote im Einzelnen
3.3.1 Die Vereinsvormundschaft
3.3.2 Beratung
3.3.3 Sprachliche Förderung
3.3.4 Jugendsozialarbeit
3.3.5 Netzwerkarbeit
3.4 Standortvorschläge zur Betreuung
3.4.1 Zur Notwendigkeit einer Zentralisierung der Betreuung
3.4.2 Zur Auswahl des Projektstandortes und des geeigneten Landkreises für eine Zentralisierung

Schlusswort

Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis

Anhang

Darstellungsverzeichnis

Tabelle 1: In-Obhutnahmen von U.m.F. in Sachsen 1995 -1999

Tabelle 2: Einreisemonat und Verweildauer von U.m.F. im ostsächsischen Raum 1998

Tabelle 3: Die zehn zugangsstärksten Länder 1996-1999

Tabelle 4: Verfahrensregelungen und Zuständigkeiten in Görlitz, Dresden und Chemnitz

Tabelle 5: Spezielle Angebote der Förderung und Betreuung von U.m.F. in: Görlitz, Dresden und Chemnitz

Tabelle 6: Zahlen der Asylbewerber in Europa 1995-1999

Grafik 1: Entwicklung der Asylantragszahlen 1978 -1999 15

Grafik 2: Asylbewerber nach Kontinenten 1999 u. 2000

Grafik 3: Mitgliedsstaaten des Dubliner Übereinkommens 2000

Grafik 4: Angebotsformen des Projektes

Grafik 5: Der äußere Wirkungskreis des Projektes

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Einleitung

1998 schrieb das Landesjugendamt Sachsen für den Ostsächsischen Raum ein Pilotprojekt zur Schaffung einer Erstaufnahmeeinrichtung für Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus. Auf Grund dessen gingen sieben Projektvorschläge bei dieser Behörde ein. Doch wenige Monate später wurde das Vorhaben ausgesetzt. Eine Begründung lag in den sinkenden Einreisezahlen und der zu kurzen Verweildauer der Klientel. (vgl. SLJA, 1 / 99, S.22) Jedoch bedeutet ein zahlenmäßig fehlender Bedarf zur Schaffung dieses Angebotes nicht, dass die Betreuungssituation Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Sachsen ohne Mängel ist. Im Juni 1999 wurde während eines Fachgespräches des Sächsischen Landesjugendhilfeausschusses Kritik an der Verfahrensweise und dem Umgang mit der Klientel geäußert. (vgl. SLJA, 2 / 99, S. 21 ff)

Daher soll mit dieser Arbeit geprüft werden, ob Mängel bei der Betreuung Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Sachsen auftreten. Es wird nach entsprechenden sozialpädagogischen Interventionsansätzen gesucht und anhand dieser ein Projektvorschlag entwickelt. Nach Bortz und Döring befasst sich die Interventionsforschung auf der Basis technologischer Theorien mit der Entwicklung von Maßnahmen (vgl. Bortz / Döring, 1995, S. 100). Sie setzt jedoch das Vorhandensein geeigneter Ergebnisse aus der Grundlagenforschung voraus. Daher werden in Kapitel 1 und 2 zunächst Daten gesammelt und bewertet, welche in Zusammenhang mit der Klientel stehen. Es wird auf die Problemlagen der Minderjährigen und auf die bestehenden Rahmenbedingungen der Betreuung eingegangen. Die Analyse erfolgt auf der Grundlage eines Literaturstudiums sowie schriftlicher und telefonischer Befragungen bei zuständigen Behörden und in betreuenden Einrichtungen.

Die Arbeitsergebnisse dieser Grundlagenanalyse sind der Ausgangspunkt der in Kapitel 3 folgenden Projektentwicklung. Zunächst werden dort Aussagen zum Betreuungsbedarf der Unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge getroffen. Orientiert an jenen Rahmenbedingungen, welche der angemessenen Betreuung entgegenstehen kann schließlich der Projektvorschlag unterbreitet werden. Es werden solche Angebotsformen entwickelt, die bestehende Mängel ausgleichen und den Bedürfnissen der Minderjährigen entsprechen.

1. ZUR ALLGEMEINEN SITUATION DER ZIELGRUPPE

1.1 Die Beschreibung der Zielgruppe

1.1.1 Eine einführende Eingrenzung des Personenkreises

Auf eigene Faust zuwandernd oder von Verwandten allein nach Deutschland geschickt, gelingt es jedes Jahr einigen ausländischen Kindern und Jugendlichen aus armen oder von Krisen betroffenen Ländern nach Deutschland einzureisen. Im Behördendeutsch nennt man sie Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge oder kurz U.m.F. Was meint diese Bezeichnung?

Flüchtlinge sind nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) Menschen, welche sich auf Grund ihrer Furcht vor Verfolgung außerhalb des Landes ihrer Staatsangehörigkeit befinden. Als Verfolgungsgründe werden die Religion, Rasse, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder die politische Überzeugung aufgeführt. (vgl. Art. 1 A, Nr. 2 GFK) Diese rechtliche Definition soll der vorläufigen Eingrenzung des Personenkreises innerhalb weltweiter Migrationsströmungen dienen. Das Wort „unbegleitet“ weist darauf hin, dass die Betroffenen ohne einen Erziehungsberechtigten nach Deutschland kommen. Umstritten ist die mit der Minderjährigkeit verbundene Alterseingrenzung der Personengruppe. Während nach §12 AsylVfG Jugendliche, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, im Asylverfahren wie Erwachsene zu behandeln sind, ist nach den Bestimmungen des BGB minderjährig, wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Welche Auswirkungen dies auf die Betreuung der Jugendlichen nach dem SGBVIII und der UN-Kinderkonvention hat, wird im Kapitel drei näher erläutert.

Angaben zur Zahl der U.m.F in Deutschland sind laut einer UNICEF-Studie von Behörden nicht zu erhalten (UNICEF, 2000, S. 1). Es wird dort jedoch von einer geschätzten Zahl zwischen 5.000 und 10.000 ausgegangen. Nicht inbegriffen sind dabei die Betroffenen, über deren Aufenthalt den Behörden nichts bekannt ist, weil sie illegal einreisten und bei keiner Behörde auffällig wurden.

1.1.2 Die Zielgruppe in Sachsen

Nach Angaben des Statistischen Landesamtes in Kamens wurden 1999 insgesamt 201 U.m.F. in Sachsen registriert. Betrachtet man die Entwicklung ab 1995, so kann demnach ein Anstieg von etwa 191 Prozent festgestellt werden. Wie die Tabelle Nr. 1 zeigt, blieben die Einreisezahlen in den letzten zwei Jahren, im Gegensatz zu den Vorjahren, relativ konstant.

Tabelle 1: In-Obhutnahmen von U.m.F. in Sachsen 1995 -1999

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Statistisches Landesamt, Kamens Bearbeitung: Karen Gerber

Von 89 einreisenden U.m.F. im Jahr 1996 stiegen die Zahlen auf 253 im Folgejahr an. Danach fielen sie 1998 auf ein Niveau ab, das noch immer um etwa 115 Prozent über dem von 1996 liegt.

Obwohl Sachsen an zwei Staaten grenzt, welche nicht der Europäischen Union (EU) angehören, sind die hiesigen Einreisezahlen im Vergleich zu anderen Bundesländern, wie Berlin oder Hamburg, eher niedrig. So wurden in Berlin 356 unbegleitete Flüchtlinge unter 16 Jahren, allein im ersten Halbjahr 1999, registriert (Berliner Senat, Halbjahresstatistik 1999). Als ein Grund für die vergleichsweise geringen Einreisezahlen in Sachsen kann angesehen werden, dass die Betreffenden häufig genaue Fluchtziele haben. Diese liegen meist in den alten Bundesländern und in vielen Fällen handelt es sich um Adressen von Verwandten, die schon länger dort leben. Nach Aussagen von Birgit Broszeit, Vorstandsmitglied im „Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge“, müssen die Jugendlichen in anderen Fällen Geld verdienen, um die Schleuser, welche ihnen zur Flucht verholfen haben, zu bezahlen und gehen deshalb in die alten Bundesländer.

Das Alter der meisten U.m.F., welche nach Sachsen einreisen und die den entsprechenden Jugendämtern gemeldet werden, liegt zwischen 12 und 15 Jahren. 1999 wurden 171 unbegleitete Flüchtlinge in dieser Altersspanne registriert (vgl. Tabelle Nr. 1). Das bedeutet einen Anteil von etwa 85 Prozent.

Die Aufenthaltsdauer Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Sachsen ist je nach der individuellen Situation der Betroffenen sehr unterschiedlich. Vom Statistischen Landesamt in Kamenz waren hierzu keine Angaben zu erhalten. Jedoch erteilte der sächsische Landesjugendhilfeausschuss 1998 den Auftrag eine Jahresbelegungsstatistik für den Ostsächsischen Raum zu erheben (Tabelle Nr. 2).

Tabelle 2: Einreisemonat und Verweildauer von U.m.F. im ostsächsischen Raum 1998

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: SLJA Mitteilungsblatt 1/99 Bearbeitung: Karen Gerber

Zur Ermittlung der Zahlen wurden Fragebögen an die jeweils zuständigen kommunalen Jugendämter versandt, deren Auswertung in der Tabelle 2 dargestellt ist. Hieraus wird ersichtlich, dass die durchschnittliche Verweildauer von U.m.F. 1998 im ostsächsischen Raum 48 Tage betrug. Es sind jedoch große Unterschiede bezüglich der Aufenthaltsdauer der einzelnen Flüchtlinge festzustellen. Weiterhin zeigt der Vergleich der Einreisezahlen, dass die Problematik in den Landkreisen Meißen, Kamenz, Annaberg, Görlitz und Hoyerswerda kaum oder nur vereinzelt auftrat. Insgesamt lassen sich aus dieser Tabelle jedoch keine signifikanten Aussagen über Einreisezahlen oder bevorzugte Orte der Einreise von U.m.F. in den aufgeführten Landkreisen treffen.

Detaillierte Statistiken über die Herkunftsländer Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge für ganz Sachsen liegen den Autoren nicht vor. Nach den Angaben des Ausländerbeauftragten von Chemnitz handelte es sich in dieser Stadt im Jahr 1999 vorrangig um Afghanistan, Indien, Pakistan und die Bundesrepublik Jugoslawien (vgl. Stadt Chemnitz, 2000, S. 25). Dem gegenüber nannte die zuständige Mitarbeiterin im Jugendamt Dresden Afghanistan, Indien, Sri Lanka und Bangladesch als Hauptherkunftsländer (vgl. Anhang S. 54). Aus den Aussagen von Birgit Broszeit, sowie einer Mitarbeiterin im Kinder und Jugendnotdienst Chemnitz, geht jedoch hervor, dass sich keine grundsätzlichen Feststellungen über die vorrangigen Herkunftsländer Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge treffen lassen, da diese in unregelmäßigen Zeitabständen wechseln (vgl. Anhang S. 2 u. S. 16). Die Gespräche ergaben weiterhin, dass die meisten U.m.F. in Leipzig und Chemnitz registriert sind. In den anderen Landkreisen, selbst in den Grenzgebieten zu Tschechien und Polen, werden momentan kaum Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Obhut genommen.

- Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (U.m.F.) sind ausländische Kinder und Jugendliche die das 18.Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Sie sind ohne einen Erziehungsberechtigten in das Bundesgebiet eingereist und stammen meist aus armen oder von Krisen betroffen Ländern.
- Im Jahr 1999 wurden in Sachsen 201 In-Obhutnahmen Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge registriert. Die Einreisezahl in Sachsen ist im Verhältnis zu anderen Bundesländern eher gering.
- Das Alter der meisten U.m.F., welche nach Sachsen einreisen und die den zuständigen Jugendämtern gemeldet werden, liegt zwischen 12 und 15 Jahren.
- Über die vorrangigen Herkunftsländer Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Sachsen lassen sich keine grundsätzlichen Feststellungen treffen.
- Die meisten U.m.F. werden in Chemnitz und Leipzig registriert. Andere Landkreise sind kaum oder nur für kurze Dauer von der Problematik betroffen. Abgesehen davon lassen sich keine signifikanten Aussagen über Einreisezahlen in den einzelnen Landkreisen treffen.
- Die Aufenthaltsdauer Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Sachsen ist je nach der individuellen Situation der Betroffenen sehr unterschiedlich.

1.2 Das Bild der Betroffenen in Politik und Gesellschaft

1.2.1 Tendenzen der Meinungsbildung zu Ausländerfragen in Deutschland

Die Betreuungssituation Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Deutschland steht in engem Zusammenhang mit der politischen und gesellschaftlichen Meinungsbildung hinsichtlich der gesamten Ausländerproblematik und dem Bild der Betroffenen in den Augen der Öffentlichkeit. Diese nehmen Einfluss auf rechtliche Entwicklungen, auf die Ausschöpfung von Ermessensspielräumen rechtlicher Entscheidungen, auf Integrationsprozesse, auf Betreuungskonzepte sozialer Einrichtungen oder Bildungsträger und nicht zuletzt auf die finanzielle Förderung durch den Staat.

Die Problematik „Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ ist nach den Erfahrungen der Autoren kaum bekannt. Lediglich direkt involvierte Professionelle oder Privatpersonen befassen sich mit diesem Thema. Demnach ist davon auszugehen, dass diese Flüchtlinge im gesellschaftlichen Verständnis unter den allgemeinen Begriff Ausländer gefasst werden. Im Folgenden wird daher verstärkt auf gesellschaftliche und politische Bilder hinsichtlich der „allgemeinen Ausländerfrage“ eingegangen.

Klaus J. Bade hat in einer Bestandsaufnahme die Entwicklung in der Behandlung der Ausländerfrage seit 1955 beschrieben und in dem Buch „Ausländer – Aussiedler - Asyl“ veröffentlicht. Diese begann mit der Anwerbung von Gastarbeitern und setzte sich bis 1981 durch Konsolidierungs- und Integrationskonzepte fort. Auf Grund wirtschaftlicher Rezension und steigender Arbeitslosenzahlen sowie einer zunehmenden Zahl an Asylbewerbern trat 1981 eine Wende in der Ausländerpolitik ein. Ängste der Bevölkerung paarten sich mit fehlenden politischen Konzeptionen. Letztendlich wandelte sich 1990 die Unsicherheit der Menschen in gewaltsame Ausschreitungen gegen Ausländer, welche von einer Mehrheit der Bevölkerung toleriert wurden. (vgl. Bade, 1994, S. 53 ff)

Diese Entwicklung manifestierte sich nach der Ansicht Bades unter anderem in einem Wandel des Sprachgebrauchs. Rhetorische Veränderungen in Politik und Medien schufen bewusst oder unbewusst Bilder, die Tatsachen vereinfachten oder verfälschten. So wurden aus Asylsuchenden „Asylanten“, aus diesen „Wirtschaftsasylanten“ und daraus folgend „Scheinasylanten“. Die Rede vom massenhaften Missbrauch der Asylgesetze führte in der Folge zur Diskriminierung der Asylsuchenden als Asylbetrüger. Hinzu kam, dass die Asylbewerberzahl ab 1978 gravierend anstieg. Waren es damals noch 8.645 Asylsuchende, so erreichte im Jahre 1992 die Bewerberzahl mit 438.191 registrierten Personen ihren Höchststand (vgl. Grafik Nr. 1). Das Bundesamt zur Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFL) führt diese Entwicklung zum einen auf die politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen in der Welt und die international verbesserte Mobilität zurück. Zum anderen sieht es die Ursachen in einem Sogeffekt des wirtschaftlichen Wohlstandes und der politischen Stabilität in Deutschland. (vgl. BAFL A, 2000, S. 2)

Quelle: BAFL Bearbeitung: Karen Gerber

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Grafik 1: Entwicklung der Asylantrags-zahlen 1978 -1999

Obwohl seit 1993 die Asylbewerberzahlen deutlich rückläufig sind, wird in Politik und Gesellschaft nach wie vor von sogenannten „Grenzen der Aufnahmefähigkeit und der Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung“ gesprochen. Innerhalb der öffentlichen Diskussion kommt den Medien und ihren auf Massenwirksamkeit abzielenden Tendenzen und den Parteien und ihrem Streit um die Wählergunst eine tragende Rolle zu. Die Politisierung und Instrumentalisierung der Ausländerproblematik tritt dabei in ein Wechselspiel mit sozialen sowie wirtschaftlichen Ängsten in der Bevölkerung und durch Verallgemeinerungen wird das Schicksal des einzelnen Flüchtlings kaum noch wahrgenommen.

Diese Entwicklung bleibt nicht ohne Folgen für die Chancen einer erfolgreichen Integration Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge während ihres Aufenthaltes in Deutschland. Die gesellschaftliche Akzeptanz der Betroffenen, wird auf Grund des Bildes vom „Scheinasylanten“ erschwert. Hinzu kommen allgemeine Vorurteile, welche durch unterschiedliche Kulturen, durch Sprachbarrieren, durch die Verschiedenartigkeit von Bildung und Sozialisation und nicht zuletzt durch Äußerlichkeiten verstärkt werden. So stellte Dietz fest, dass die Ablehnung der Fremden um so stärker wird, je mehr ihr äußeres Erscheinungsbild von dem der Deutschen abweicht (vgl. Dietz / Holzapfel, 1999, S. 135). Unter Integration wird in diesem Zusammenhang der Prozess verstanden, welcher ein bloßes Nebeneinander zu einem übergeordneten Ganzen zusammenschließt (vgl. Meyers Lexikon, 1991, S. 1830). Dies geht weit über die bloße Assimilation, also die möglichst unauffällige Anpassung der Betroffenen an ihr neues Umfeld hinaus.

Damit wird deutlich, wie weitreichend die Folgen einer politischen und gesellschaftlichen Ablehnung des Personenkreises der Asylsuchenden für U.m.F. sind. Geben sich die Jugendlichen als Asylsuchende und Ausländer zu erkennen, so werden Integrationsprozesse durch bestehende Vorurteile erschwert. Eine Anpassung unter Aufgabe der eigenen Identität und Kultur sowie die Verleugnung der Herkunft kann jedoch nur scheinbar die Integration erleichtern. Tatsächlich handelt es sich um einen Assimilationsprozess, der negativen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung der Betroffenen ausübt (vgl. Kapitel 1.4.2), und der Gesellschaft wird die Chance der kulturellen Bereicherung genommen.

Dennoch werden in Deutschland häufig Assimilation und Integration gleichgesetzt. So gibt die Bundeszentrale für politische Bildung eine Broschüre zur Ausländerproblematik heraus, in der als ein Kennzeichen der Integration folgende Kriterien angesehen werden: „Soziale Integration umfaßt die Anpassung an äußere Lebensumstände im weitesten Sinne (zum Beispiel Wohnen, Freizeit, Kleidung, Kenntnisse der deutschen Sprache, Kontakte zu Deutschen), ...“ (BZPB, 1992, S. 29) Nach Meinung der Autoren gehören jedoch Kleidung, Wohnen und Freizeitverhalten zur Privatsphäre des Einzelnen und sind Teil der Identität und der Individualität. Bezeichnend ist weiterhin, dass im gesamten Kapitel zur Thematik „Kennzeichen der Integration“ nur das Verhalten der ausländischen Bevölkerung als Bewertungsmaßstab für fortschreitende Integrationsprozesse dient. Obwohl Integration ein beidseitiger Prozess sein müsste, wird das Verhalten der aufnehmenden Seite nicht bewertet. (vgl. ebda. S. 28 f)

1.2.2 Zum Umgang mit Ausländerfragen in Sachsen

Sachsen gehört zu den fünf neuen Bundesländern. Hier fanden nach 1990 enorme Transformationsprozesse statt, die bis heute für viele Menschen eine gewisse Orientierungslosigkeit zur Folge haben. Letztere kann dazu führen, dass die Situation nach dem Wandel von diesen als Bedrohung empfunden wird. Werden Ausländer dann ausschließlich als unangepasst oder als Konkurrenz erlebt, so können sie als Projektionsfläche dienen, mit deren Hilfe sich die eigentlich ungreifbare Bedrohung konkretisiert. Bestätigt der Umgang mit Ausländerfragen in Politik und Medien solche negativen Bilder, so fördert dies eine rassistische Grundhaltung in breiten Bevölkerungsschichten und die Toleranz von gewaltsamen Ausschreitungen gegen Ausländer (vgl. Pfüller, 2000 S. 1). Dazu kommt, dass die neuen Bundesländer auch zehn Jahre nach der Vollendung der Einheit ökonomisch nicht den Standard der alten Bundesländer erreicht haben, was zusätzlich soziale Ängste schürt.

Die politischen Parteien reagieren unterschiedlich auf die fremdenfeindlichen Tendenzen ihrer potentiellen Wählerschaft. In Sachsen stellt derzeit die CDU die Mehrheit im Parlament und damit auch die Regierung dieses Bundeslandes. Nach Aussage des sächsischen CDU- Landtagsabgeordneten Arnold Pfaaz sieht seine Partei die Integration des rechten Wählerspektrums als eine wichtige Aufgabe an (vgl. Sächsische Zeitung, 19.10.2000, S. 2). Es ist überlegenswert, inwieweit eine solche Wirkung durch die Ankündigung zur Einbringung eines Gesetzentwurfes zur Verschärfung des Asylrechts in den Bundesrat erzielt wird bzw. beabsichtigt ist. Nach Informationen der Sächsischen Zeitung vom 18.10.2000 soll es Ziel dieses nach dem Vorbild der Flughafenregelung gestalteten Entwurfes sein, die Anerkennungsverfahren zu beschleunigen und abgelehnte Asylbewerber schneller abzuschieben (vgl. Sächsische Zeitung, 18.10.2000, S. 1). Sachsen plant, gemeinsam mit Bayern, den Entwurf in den Bundesrat einzubringen. Er soll gleichzeitig einen Vorschlag zur Festlegung von jährlichen Einwanderungsquoten für ausländische Arbeitnehmer enthalten. Die Vorschläge kennzeichnen beispielhaft, dass die Partei mit der Mehrheit im Landtag Sachsens eine eher restriktive Position im Umgang mit Ausländerfragen einnimmt. Im Hinblick auf das zu entwickelnde Projekt muss mit dementsprechenden politischen Widerständen gerechnet werden. Jedoch zeigen die in Kapitel 3.3 beschriebenen Initiativen von Vereinen oder zuständigen Behörden in Dresden sowie Chemnitz, dass von Seiten der direkt involvierten Stellen, durchaus Interesse an der Verbesserung der momentanen Betreuungssituation für U.m.F. besteht.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

- Die Integration Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge ist ein Entwicklungsprozess. Er beruht auf gegenseitigem Verständnis und der Akzeptanz des Anderen. Integration geht über die Assimilation (Anpassung) einer Seite hinaus. Dabei entsteht aus dem bloßen Nebeneinander ein übergeordnetes Ganzes.
- Das kaum Wissen über Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge existiert, kann zum großen Teil auf die undifferenzierte gesellschaftliche Betrachtungsweise hinsichtlich der Ausländerproblematik zurückgeführt werden.

1.3 Fluchtgründe und Fluchtwege

1.3.1 Der „Verlust von Sicherheit“ als verstehender Ansatz der Erklärung von Fluchtgründen

In den letzten Jahrzehnten beschäftigten sich zahlreiche Wissenschaftler mit der Erforschung von Flucht- und Migrationsursachen. Verschiedene erklärende Konzepte und Theorien entstanden. So wurde im Rahmen von Forschungsprojekten der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Entwicklungen, politischen Gegebenheiten, Bevölkerungswachstum und Armut nachgewiesen (vgl. Kane, 1997, S. 16). Treffen hier mehrere ungünstige Faktoren aufeinander, dann kann dies zu Krisen oder Konflikten führen, welche letztendlich schwerwiegende Gründe für den Einzelnen sind, seine Heimat zu verlassen. Zielgruppe des Projektes sind die Minderjährigen, welche sich bereits in Deutschland aufhalten. Da es sich demnach nicht um ein Präventionsprojekt handelt, soll im Folgenden weniger auf die allgemeinen Fluchtursachen mit ihren tief verwurzelten historischen, politischen und kulturellen Bedingungen eingegangen werden. Vielmehr stehen die Fluchtgründe des Einzelnen im Vordergrund. Darunter verstehen die Autoren jene Lebensumstände und individuellen Voraussetzungen, die den Entscheidungsprozess der Klientel direkt beeinflussten und als solche durch die Betroffenen bewusst oder unbewusst wahrgenommen werden.

In der genannten rechtlichen Definition des Flüchtlings durch die GFK (vgl. Kapitel 1.1.1) wird als Fluchtgrund die Verfolgung angenommen, welche ein Mensch im Heimatland befürchtet. Auch in der deutschen Gesetzgebung ist das „Verfolgt sein“ richtungsweisend für die Festlegung des Status als Flüchtling (vgl. Kapitel 2.2.4). Den Anforderungen an die Projektentwicklung kann eine solche rechtliche Eingrenzung jedoch nicht genügen. Ein großer Teil der zu Betreuenden genießt in Deutschland nicht die Rechtsstellung nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder nach Art. 16a Abs.1 GG. Dennoch sind diese Minderjährigen aus ihrer Heimat geflohen. Einen geeigneten Ansatz für das Verstehen ihrer Motive bietet das Konzept vom „Verlust der Sicherheit“. Gemeint ist hier ein Sicherheitsbegriff, der über die Frage des globalen militärischen Gleichgewichtes oder der Verteidigungsfähigkeit von Staaten hinausreicht und am Individuum orientiert ist. Ein solcher Ansatz geht mit der Erkenntnis einher, dass Sicherheitsprobleme ineinander übergreifen sowie einander verstärken können und, dass individuelles menschliches Handeln eng an den Verlust von Sicherheiten anknüpft. Flucht, kann so als Reaktion auf den subjektiv wahrgenommenen Verlust von Sicherheit angesehen werden. (vgl. UNHCR, 1997, S. 12 ff).

Orientiert an Befragungsergebnissen von Steffen Angenendt (vgl. Angenendt, 2000, S. 29 ff) sollen im Folgenden einige Möglichkeiten des Entstehens menschlicher Unsicherheiten genannt werden, die Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in zahlreichen Fällen betreffen:

Krieg oder Bürgerkrieg

- Vertreibungen und ethnische Säuberungen
- Zerstörung von Lebensgrundlagen in Flucht- und Zufluchtsgebieten
- Zwangsrekrutierungen von Minderjährigen
- Misshandlungen
- Vergewaltigungen
- Verlust von Familienangehörigen

Politische Betätigung (direkt und indirekt)

- Inhaftierung und Folter
- Erpressung von Auskünften
- Missbrauch als Mittel zur Erpressung
- Verlust von Familienangehörigen

Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder Religion

- Zwang zur kulturellen Assimilation
- Bedrohung der Freiheit und des Lebens
- Misshandlungen
- Vertreibung und Verfolgung

Geschlechtsspezifische Bedrohung

- Sexueller Missbrauch
- Geschlechtsverstümmelungen
- Zwang zur Prostitution
- Zwangsheirat

Steffen Angenendt beschränkt sich in seinen Ausführungen auf solche Fluchtgründe, die vom Bundesamt zur Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFL) als asylrelevant entschieden wurden oder die nach deutscher Gesetzgebung Abschiebungshindernisse darstellen. Beispielhaft seien darum noch weitere Möglichkeiten des Verlustes von Sicherheit genannt. Hierzu gehören Naturkatastrophen und Armut, der Verlust lebensnotwendiger Grundlagen wie Wasser, Nahrungsmittel, Obdach und Kleidung, fehlende Lebensperspektiven, fehlende Bildungsmöglichkeiten oder mangelnde Chancen auf einen zukünftigen Lebensunterhalt.

Die bisher aufgeführten Beispiele der Gefährdung von Sicherheit betreffen lediglich solche Fluchtmotive, welche auf Grund der Situation im Herkunftsort entstehen. Aus soziologischer Sicht fehlen jedoch weitere wesentliche Komponenten, welche die Entscheidung zur Flucht beeinflussen. Eine davon spiegelt sich in der Theorie der „transnationalen Ausbreitung des westlichen Wertekanons“ (vgl. Müller-Schneider, 2000, S. 105 ff) wieder. Demnach werden durch Informationsübermittlungen teilweise illusorische Vorstellungen und Ideale vom besseren Leben, Sicherheit und wirtschaftlichem Wohlstand im ausgewählten Zufluchtsland erzeugt. Diese bewirken, dass die Betroffenen Geschehnisse im Herkunftsland mit anderen Maßstäben bewerten und dass der Wunsch wächst, unter „idealeren“ Bedingungen zu leben. Da sich solche im Herkunftsland nicht herbeiführen lassen, wird die Flucht in das auserwählte, „bessere“ Land angestrebt.

Hinsichtlich der Wahl des Zufluchtslandes spielen etablierte Migrationsbeziehungen zwischen verschiedenen Herkunfts- und Zielregionen eine wesentliche Rolle. Die Forschungsarbeiten von Münz, Seifert und Ulrich ergaben, dass diesbezüglich kulturelle, politische und historische Verbindungen zwischen verschiedenen Ländern bestehen. Infolgedessen bevorzugen Flüchtlinge aus bestimmten Staaten Zufluchtsorte, die diesen Traditionen entsprechen. (vgl. Münz / Seifer / Ulrich, 1999, S. 23 ff).

Weiterhin wird die Entscheidung zur Flucht durch die zu erwartenden Erfolgsaussichten und die Abschätzung der damit verbundenen Risiken sowie durch die Bindung zum Herkunftsort, deren Ausprägung nicht unterschätzt werden sollte, beeinflusst. Die Abwägung zwischen allen genannten, subjektiv wahrgenommenen Faktoren führt letztendlich den Entschluss, zu fliehen oder am Herkunftsort zu verbleiben, herbei.

Erst dieses ganzheitliche Verständnis individueller Fluchtgründe ermöglicht eine Betreuung, die sich an den Bedürfnissen der Minderjährigen orientiert und den tatsächlichen Gegebenheiten angemessen ist.

1.3.2 Warum Flüchtlinge auf die Hilfe von Schleusern angewiesen sind

Es kann davon ausgegangen werden, dass unzählige Menschen aus ärmeren Ländern oder Krisengebieten nach Deutschland fliehen würden, wenn die Möglichkeit dazu bestünde. Neben solchen Informationen und Berichten, die zum Teil illusorisch den Traum zu fliehen stärken, benötigen Menschen, die eine Flucht planen, jedoch vor allem genaue Angaben über Möglichkeiten zur Umsetzung ihres Wunsches. Wie diese detaillierten Auskünfte übermittelt werden, beschreiben Ulrich, Seifert und Münz folgendermaßen: „Von großem Einfluß ist ein Diffusionsprozeß von Informationen über erfolgreiche Migranten sowie über existierende Chancen auf den Arbeits- und Wohnungsmärkten potentieller Zielländer. Ähnliches gilt für Informationen über bestehende Aufnahme- und Asylverfahren. Die Diffusion erfolgt über Kontaktträger (Briefträger, Telefonanrufe, Rückkehrer, Migranten auf Heimaturlaub, Medien). Sie wird auch in geographisch entferntere Regionen getragen.“ (Münz / Seifer / Ulrich, 1999, S. 24) Je nach den tatsächlichen Möglichkeiten, den Fluchtmotiven und der Risikobereitschaft des Einzelnen wird auf dieser Grundlage die Entscheidung getroffen, ob und auf welche Weise das Land verlassen werden soll.

Um sich gegen einen großen Zustrom von ungewollten Migranten zu schützen, ergreift der deutsche Staat Maßnahmen, welche Müller-Schneider in seiner Veröffentlichung „Zuwanderung in westliche Gesellschaften“ als „Migrationsbarrieren“ bezeichnet. Einerseits kann dies in Form von rechtlichen Verordnungen und Gesetzen geschehen und andererseits durch Kontrollen zur Durchsetzung derselben. (vgl. Müller-Schneider, 2000, S. 126 ff) Zu den rechtlichen Einschränkungen gehört in Deutschland die Visapflicht. Sie gilt für zahlreiche Staaten, welche nicht Mitglied in der Europäischen Gemeinschaft sind. Diese Einreiseerlaubnis wird nur unter bestimmten Voraussetzungen und zu bestimmten Zwecken erteilt. Durch die sogenannte „Drittstaatenregelung“ ist es außerdem nicht mehr möglich, an einer der deutschen Festlandsgrenzen um Asyl zu bitten, da alle angrenzenden Staaten als sicher gelten und die Betroffenen dahin zurückgeschoben werden. Zur Absicherung der Luftwege wurde außerdem gegen Fluggesellschaften ein Beförderungsverbot für sichtvermerkspflichtige Ausländer ohne gültiges Transit- oder Einreisevisa verhängt. (vgl. Kapitel 2.2.1) Nicht erwünschten Flüchtlingen ist es auf Grund dieser Rechtsmaßnahmen nahezu unmöglich geworden, legal nach Deutschland einzureisen.

Aber auch indirekt sind rechtliche Maßnahmen zur Eindämmung der Zahl Asylsuchender wirksam geworden. So verringern schlechte Aufenthalts-bedingungen in Deutschland die Fluchtanreize. Beispiele hierfür sind die Einschränkung der räumlichen Bewegungsfreiheit durch die Unterbringung in Sammelunterkünften oder das zentrale Verteilungsverfahren (vgl. Kapitel 2.2.3).

Trotz der genannten rechtlichen Migrationsbarrieren bleibt der Wunsch unzähliger Menschen, nach Deutschland zu fliehen, bestehen. In weitestgehender Unkenntnis über entsprechende Möglichkeiten greifen viele Betroffene auf die Dienstleistungen von Schleuserorganisationen zurück, welche ihr Vorgehen planmäßig darauf ausrichten, die Schwachstellen staatlicher Migrationsbarrieren auszunutzen (vgl. Müller-Schneider, 2000, S. 125). Humanitäre Organisationen sehen gerade in den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung regulärer Flüchtlingsströme die Ursache, dass immer mehr Menschen auf solche Dienstleistungen zurückgreifen. „Die restriktiven Maßnahmen der Industriestaaten haben auch dazu beigetragen, die einst relativ sichtbare und zahlenmäßig überschaubare Menge von Asylsuchenden in einen verdeckten Strom „irregulärer“ Migranten zu verwandeln, der für die Staaten noch schwerer zu erfassen und zu kontrollieren ist.“ (UNHCR, 1997, S. 211) In dem Buch „Zuwanderung in westliche Gesellschaften“ werden drei wesentliche Formen illegaler Einreisen beschrieben, welche die Schleuser unterstützen.

Hierzu zählt zunächst die „scheinlegale Einreise über reguläre Grenzübergänge“. Diese basiert auf der mangelnden Verifizierbarkeit von Grenzübertrittsdokumenten, welche auf die soziale Situation des Grenzgeschehens zurückzuführen ist. Gefälschte oder ausgetauschte Reisedokumente oder Aufenthaltsgenehmigungen, ausgetauschte Lichtbilder, vorgetäuschte nicht visapflichtige Staatsangehörigkeiten sowie die Bestechung zuständiger Beamter sind Möglichkeiten, die der ersten Kategorie zugeordnet werden.

Eine weitere Art, staatliche Migrationsbarrieren zu umgehen, ist die „versteckte Einreise über reguläre Grenzübergänge“. Dabei werden die Flüchtlinge während des Grenzübertrittes in Transportmitteln so verborgen, dass sie von Kontrollorganen unentdeckt bleiben. Erleichtert wird dieses Verfahren durch international vereinbarte Bestimmungen, wonach zollrechtlich verschlossene Transportmittel beim Grenzübertritt nicht geöffnet werden dürfen, wenn kein konkreter Verdacht vorliegt. Aber nicht nur in LKWs, sondern auch in Wohnmobilen oder Bussen werden Flüchtlinge ins Land geschmuggelt.

Die dritte Möglichkeit, unentdeckt nach Deutschland zu gelangen, ist das „Überqueren der Grenze außerhalb dafür vorgesehener Bereiche“. Nach dem Prinzip der günstigsten Stelle werden Schleichwege in unbeobachteten Grenzbereichen oder unbewachte Stellen offizieller Grenzübergänge benutzt. Schleuserorganisationen verfügen hierzu über vielfältige Kenntnisse und Möglichkeiten, die bis zu detaillierten Informationen über Dienstpläne von Grenzposten reichen. (Müller-Schneider, 2000, S. 131)

Zur Vermeidung des illegalen Grenzübertrittes setzt der deutsche Staat Kontrollmaßnahmen, den zweiten Typus der Migrationsbarrieren, ein. Diese dienen der Einschränkung illegaler Einreisen und sind Aufgabe des Bundesgrenzschutzes (BGS). Die Bestrebungen zur Verstärkung der Grenzsicherungsmaßnahmen manifestieren sich in unterschiedlichen Bereichen. Sie reichen von staatenübergreifenden Netzwerken der Zusammenarbeit, über innerstaatliche Vereinbarungen der Zusammenarbeit zwischen Bundes- und Landesbehörden, bis hin zur Einführung elektronischer Datenverarbeitungssysteme. Als Beispiel sei an dieser Stelle CIREFI, das „Informations-, Reflektions- und Austauschzentrum der EU“, welches dem Austausch und der Analyse von Erkenntnissen auf dem Gebiet der unerlaubten Zuwanderung und Schleuserkriminalität dient, genannt. Weiterhin FDS, die „Falldatei Schleuser und Geschleuste“, ein System zum Austausch von Informationen zwischen den Polizeien, dem Bundesgrenzschutz und dem Bundeskriminalamt. (vgl. BGS, 1998, S. 7 ff) Allein im Jahr 1999 registrierte der BGS 3.410 Schleuser unter den deutschlandweit aufgenommenen Fällen des illegalen Grenzübertrittes. (vgl. BGS, 1998, S. 10) Die Migrationsbarrieren können die illegale Einreise von Flüchtlingen nicht lückenlos verhindern. Jedoch sind bestimmte Grenzbefestigungen aus humanitären und politischen Gründen nicht beliebig einsetzbar. Zum einen, weil solche, welche die Würde des Menschen oder dessen Unversehrtheit gefährden, in westlichen Gesellschaften als inhuman erachtet werden und zum anderen, weil Nachbarstaaten eine unangebrachte „Militarisierung“ im Grenzbereich als politischen Affront empfinden würden.

Die verschärften, aber nicht lückenlosen Kontrollmaßnahmen führen nach Angaben von Müller-Schneider zu einem erhöhten Risiko für Flüchtlinge, die auf Schleuserdienste zurückgreifen. Insbesondere die versteckte Einreise birgt, nicht zuletzt auf Grund der Massen- und Profitorientierung menschenschmuggelnder Organisationen, ein hohes Risiko und bringt Flüchtlinge immer häufiger in Lebensgefahr. So kamen 18 Srilanker 1995 bei dem Versuch, illegal nach Deutschland einzureisen, ums Leben. Bei großer Hitze waren sie in Rumänien ohne Wasser und Lebensmittel in einen von innen nicht zu öffnenden Lastkraftwagen eingestiegen. „Das war keineswegs ein Einzelfall: Im Kühlwagen erfroren, im Container erstickt, in einem Grenzfluß oder in küstennahen Gewässern ertrunken – solche Nachrichten sind regelmäßig in der Presse westlicher Gesellschaften zu lesen. Für solche Todesfälle sind meist Schleuser verantwortlich, “ (Müller-Schneider, 2000, S. 142 f)

Die Geldbeträge, die Flüchtlinge den Schleuserorganisationen für ihre Dienste zahlen müssen, reichen von 400 DM bis zu 10.000 DM. Die Höhe richtet sich nach der allgemeinen Nachfrage, dem Umfang der Unterstützung, der Zeitdauer, dem Schwierigkeitsgrad und den realen Reisekosten. (vgl. Müller-Schneider, 2000, S. 140) Der Betrag muss nicht immer im Voraus gezahlt werden. Einige menschenschmuggelnde Organisationen akzeptieren Anzahlungen, wenn sich die Flüchtlinge bereit erklären, in den Zufluchtsländern für sie zu arbeiten (ebda. S. 157). Viele der Schleusungen enden im Landesinneren, zum Beispiel auf Autobahnraststätten. Andere beinhalten weitere Dienstleistungen im Zufluchtsland, wie die Vermittlung illegaler Arbeitsplätze, rechtliche Beratung, Hilfen zur Aufrechterhaltung des Bleiberrechtes, Familienzusammenführungen oder Kontaktvermittlungen (vgl. Müller-Schneider, 2000, S. 155).

1.3.3 Wege der Einreise nach Sachsen

Durch die staatlichen Beschränkungen einer legalen Einreise von Flüchtlingen gelangen viele Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge auf illegalem Weg nach Sachsen (vgl. Anhang S. 54).

Obwohl in diesem Bundesland zwei Flughäfen existieren, ist die Zahl der unerlaubt über den Luftweg nach Sachsen einreisenden Personen so gering, dass nach den Aussagen der zuständigen Mitarbeiter für Pressefragen in den Grenzschutzämtern Pirna und Halle keine speziellen Unterbringungsmöglichkeiten für diese Gruppe an den Flughäfen Dresden und Leipzig bestehen (vgl. Anhang S. 35 u. S. 36). Der Grund für diesen geringen Bedarf liegt vermutlich in der größeren Bekanntheit von Städten wie Frankfurt und Berlin, deren Flughäfen wesentlich häufiger frequentiert werden.

Sachsen grenzt jedoch an Polen und Tschechien, zwei Staaten, die bisher noch nicht der EU angehören. Damit hat das Bundesland Anteil an jenen Grenzen, die in den wirtschaftlich wesentlich schlechter gestellten Osten Europas führen. Die Herkunftsländer vieler illegal einreisender Personen, die den Landweg nutzen, liegen derzeit östlich von Deutschland (vgl. Kapitel 1.1.2). Aus diesem Grund gehören die genannten Eu-Außengrenzen zu den Brennpunkten der unerlaubten Einreise. So wurden durch die mit der Kontrolle der Grenzen beauftragten Behörden 1999 insgesamt 37.789 unerlaubte Einreisen nach Deutschland verzeichnet (BGS, 1999, S. 9). Davon wurden 12.846 illegal eingereiste Personen an der deutsch-tschechischen Grenze und 2.796 an der deutsch-polnischen Grenze registriert (ebda. S. 10). Insgesamt sind die Zahlen der illegalen Einreisen jedoch rückläufig, was unter anderem auf das verstärkte Eingreifen des BGS zurückzuführen ist. So sank die Zahl der Aufgriffe an der deutsch-tschechischen Grenze 1999 gegenüber dem Vorjahr um etwa ein Drittel und an der deutsch-polnischen Grenze nahezu um die Hälfte. Vermutlich ist dies einer der Gründe für den drastischen Rückgang der Einreisezahlen Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in den meisten ostsächsischen Landkreisen nach dem Rekordjahr 1997 (vgl. Tabelle 2). Hinzu kommt die verstärkte Zusammenarbeit zwischen dem BGS und den Grenzschutzbehörden anderer Staaten (vgl. Kapitel 2.4.1). Die Drittstaatenregelung, welche in Kapitel 2.2.1 erläutert wird, ermöglicht außerdem viele Zurückweisungen und Zurückschiebungen direkt an den Grenzen. So wurden 1999 an der polnischen Grenze 15.827 Zurückweisungen registriert. Beinahe 50 Prozent aller Zurückschiebungen finden an den Ostgrenzen Deutschlands statt.

Viele U.m.F. gelangen vermutlich mit Hilfe von Schleuserorganisationen nach Sachsen. Bundesweit wurden 1999 unter anderem 1.744 Afghanen, 589 Srilanger und 401 Inder durch Schleuser nach Deutschland gebracht (BGS, 1999, S. 13). All diese Länder gehören momentan zu den Herkunftsregionen der Unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Sachsen. Nach Aussagen des Bundesgrenzschutzamtes Halle ist Leipzig, vor allem durch seinen zentral gelegenen Hauptbahnhof mit vielen Verbindungen in die alten Bundesländer, ein wichtiger Knotenpunkt für Schleuser, deren Praktiken im vorhergehenden Kapitel bereits beschrieben wurden. Viele illegal eingereiste Ausländer werden von ihren Fluchthelfern zum Leipziger Bahnhof gebracht, und mit Fahrkarten zur Weiterreise in die alten Bundesländer ausgestattet. (vgl. Anlage S. 40) Basierend auf den seit 1998 erweiterten Befugnissen des Bundesgrenzschutzes (vgl. Kapitel 2.4.1), wurden am Leipziger Hauptbahnhof verstärkt illegal eingereiste Personen aufgegriffen. Vermutlich sind diese häufigeren Aufgriffe des BGS und der Polizei ein wesentlicher Grund für die hohen Einreisezahlen von U.m.F in dieser Stadt.

Die zentrale Ausländerbehörde Sachsens hat ihren Sitz in Chemnitz. Greifen der BGS oder die Polizei Flüchtlinge auf, und können diese aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht sofort zurückschieben, so ist diese Behörde für das weitere Verfahren zuständig und die Betreffenden werden in der Regel nach Chemnitz überstellt. Auf Grund der örtlichen Zuständigkeit der Kommunen, für unbegleitete Flüchtlinge unter 16 Jahren, sollte dieser Personenkreis hiervon ausgenommen bleiben. Jedoch nimmt der Bundesgrenzschutz nicht in jedem Fall genaue Alterschätzungen vor, so dass immer wieder allein reisende Minderjährige unter 16 Jahren überstellt werden. Vor allem, wenn die U.m.F. in Gruppen mit anderen Erwachsenen die Grenze passieren, gelangen sie auf diesem Wege in die zentrale Ausländerbehörde. Im Rahmen des bundesweiten Verteilungsverfahrens werden außerdem zahlreiche Minderjährige nach Chemnitz überstellt, welche in anderen Ländern älter geschätzt wurden. (vgl. Anlage S. 4f) Wird danach bei der Inaugenscheinnahme festgestellt, dass ein Flüchtling das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, so setzt die Ausländerbehörde das kommunale Jugendamt hiervon in Kenntnis. Daraus resultiert die sachsenweit vergleichsweise hohe Zahl der In-Obhutnahmen von U.m.F. in Chemnitz.

1.3.4 Die Auswirkungen der Flucht auf die besondere Situation

Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge

Wie sich die in den vorhergehenden Kapiteln beschriebenen Sachverhalte auf die Situation der Unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge auswirken, soll im folgenden problemorientiert dargestellt werden. Man kann davon ausgehen, dass den meisten Flüchtlingen mehr oder minder bewusst ist, welche Risiken und Gefahren die Flucht aus der Heimat birgt. Dass sie sich dennoch dazu entschließen, weist auf die ernsthaften Hintergründe und Motive der Betroffenen oder derer hin, welche die Flucht für sie planen und finanzieren. Im UNHCR Report 1997/98 ist dazu zu lesen: „Menschen geben nicht ihre Häuser auf und fliehen aus ihren Heimatorten oder sogar aus ihrem Heimatland, wenn ihr Leben oder ihre Freiheit nicht ernsthaft bedroht ist. Flucht ist die einzige verbliebene Alternative, die Überlebensstrategie, auf die erst zurückgegriffen wird, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden.“ (UNHCR, 1997, S. 11)

Zunächst müssen die Kosten für die Flucht aufgebracht werden, wobei die Unterstützung von Verwandten oder Freunden eine große Rolle spielt. Der Umstand, dass nahestehende Personen das bessere Leben im Zufluchtsland ermöglicht haben, kann zu Schuldgefühlen und zu übersteigertem Erfolgsstreben im Zufluchtsland führen (vgl. Kapitel 1.5.2). Eine andere oft wenig beachtete Art, die Flucht zu finanzieren, ist sich bei den Schleuserorganisationen zu verschulden, was eine dauerhafte Abhängigkeit im Zufluchtsland nach sich zieht. Zu prüfen ist, inwieweit solche illegalen Arbeits- oder Dienstleistungsverpflichtungen als Ursache der hohen Abgangsraten in Heimunterbringungen anzusehen sind und welche Gegenmaßnahmen gegebenenfalls getroffen werden können.

Weitreichende Auswirkungen haben die genannten rechtlichen Migrationsbarrieren, welche dazu führen, dass die U.m.F. beinahe ausnahmslos illegal nach Deutschland gelangen. Dies hat nicht nur auf die Festlegung ihres Status, sondern auch auf meinungsbildende Prozesse in Deutschland negativen Einfluss. Es kann dazu führen, dass die Betroffenen vor den Augen der Öffentlichkeit als „kriminell“ gelten. Damit sind sie der rechtlichen Ahndung und staatlichen Kontrollmaßnahmen ausgesetzt. Bereits während der Flucht bedeuten die staatlichen Kontrollen ein zusätzliches Risiko für die Betroffenen, denn insbesondere wenn sie sich menschenschmuggelnden Organisationen anvertrauen, sind ihr Leben und ihre Gesundheit, aus den im Kapitel 1.3.2 geschilderten Gründen, gefährdet. Hinzu kommen die Ängste, die entstehen, wenn ein Minderjähriger zum Beispiel mehrere Stunden lang eingesperrt im Laderaum eines LKWs zubringen muss. Die Befürchtung, zu sterben oder von den Grenzbehörden entdeckt zu werden, können als traumatische Erfahrungen eingestuft werden (vgl. Grinberg / Grinberg 1990, S. 14). Andere Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gelangen nicht auf direktem Weg von ihren Heimatorten nach Deutschland. Bleibt keine Zeit die Flucht zu planen oder fehlt es an entsprechenden Möglichkeiten und Mitteln, so ist ein geradliniger Fluchtverlauf nicht möglich und die Betroffenen machen Zwischenstation in verschiedenen Ländern. Auch hier können traumatische Erfahrungen eine Rolle spielen.

Unabhängig davon, auf welche Weise die Flüchtlinge nach Deutschland gelangen, der Umstand, dass die Einreise illegal war hat eine ungünstige Ausgangssituation für deren Betreuung zur Folge. Offene Gespräche über den Hergang der Flucht sind unter anderem auf Grund der Angst vor einer Ausweisung kaum möglich. Erlebnisse und Fluchtgeschichten der Minderjährigen sind daher nur selten nachvollziehbar, und die Betroffenen bleiben mit der psychischen Last des Erlebten allein. Für die Betreuungssituation bedeutet diese Unkenntnis über die individuellen Erfahrungen und Lebensgeschichten des Einzelnen, dass kaum eine angemessene Hilfe möglich ist, wenn nicht ein sehr gutes Vertrauensverhältnis zwischen den Betroffenen und den Betreuern besteht (vgl. Kapitel l.5.3). Neben den hierfür erforderlichen personellen Kompetenzen wäre die Voraussetzung eines solchen Vertrauens das Bestehen datenschutzrechtlicher Sicherheiten, die nicht immer gewährleistet sind (vgl. Kapitel 2.2.6).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

- Der zu betreuende Personenkreis umfasst nicht ausschließlich Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention oder des Art 16a Abs.1 GG. Die Motive das Heimatland zu verlassen sind vielschichtig.
- Erst das ganzheitliche Verständnis individueller Fluchtgründe ermöglicht eine Betreuung, die sich an den Bedürfnissen der Minderjährigen orientiert und den tatsächlichen Gegebenheiten angemessen ist.
- Eine Flucht beinhaltet psychische und physische Belastungen für die Betroffenen, die als traumatische Erfahrungen eingestuft werden können.
- Die vorrangigen Einreisewege nach Sachsen sind der Landweg über die EU-Außengrenzen und die Zuweisung durch Behörden aus anderen Bundesländern.
- Die Bundesrepublik errichtet Migrationsbarrieren in Form von rechtlichen Beschränkungen und Kontrollmaßnahmen. Flüchtlinge versuchen, diese durch illegale Einreisen zu umgehen. Hierzu sind sie oftmals auf die Hilfe von Schleusern angewiesen.
- Sind U.m.F. auf die Hilfe von Schleusern angewiesen, so kann dies zu Verpflichtungen gegenüber diesen Organisationen, auch nach dem Ende der Flucht, führen.
- Die illegale Einreise Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge führt zu einer ungünstigen Ausgangssituation für deren Betreuung.

1.4 Der Wechsel zwischen den Kulturen

1.4.1 Die allgemeine Bedeutung des Wechsels zwischen den Kulturen

Was bedeutet die Migration für Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge? Welche Schwierigkeiten ergeben sich aus der plötzlichen, meist unvorbereiteten Konfrontation mit einer neuen Lebenswelt und Sprache? Welche psychologischen oder physiologischen Risiken bergen die individuellen, kulturell unterlegten und oft traumatischen Erfahrungen der Minderjährigen, verbunden mit der Art der Aufnahme im Zufluchtsland, und wie kann in Kenntnis derselben eine präventive Entwicklungsförderung stattfinden? Diese Fragen müssen gestellt werden, wenn die Betreuung der Klientel den Anforderungen einer altersgerechten Entwicklungsförderung nach dem KJHG und der UN-Kinderkonvention gerecht werden soll. Dabei wird zunächst der plötzliche Wechsel zwischen den Kulturen im Vordergrund stehen, da es sich hier um eine grundlegende Problematik handelt, die - unabhängig von den sonstigen persönlichen Lebensgeschichten des Einzelnen - alle Unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge betrifft.

Die Statistiken des Bundesamtes zur Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFL) über die Herkunft von Asylbewerbern zeigen, dass die Betroffenen aus den verschiedensten Regionen der Erde und aus entsprechend anderen Kulturkreisen stammen. Unterteilt nach Kontinenten waren 1999 die Einreisezahlen aus Asien und Europa vergleichsweise hoch. Doch die Gegenüberstellung der Jahre 1999 und 2000 (vgl. Grafik Nr. 2) zeigt signifikante Veränderungen der Prozentzahlen.

Grafik 2: Asylbewerber nach Kontinenten 1999 u. 2000

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: BAFL Bearbeitung: Karen Gerber

So sank die Zahl europäischer Flüchtlinge im ersten Halbjahr 2000, gegenüber dem Vorjahr, deutlich um 13,29 %. Im Verhältnis dazu erhöhte sich der asiatische Anteil von 36,67 % auf 46,01 %. Diese Veränderungen können zum einen auf die große Zahl der Asylantragsteller aus der Bundesrepublik Jugoslawien, im Jahr 1999, zurückgeführt werden (vgl. BAFL B, 2000, S. 1). Eine mögliche Ursache ist weiterhin die verstärkte Abgrenzung Deutschlands gegenüber Flüchtlingsströmungen aus Osteuropa (vgl. Kapitel 2.4.1).

[...]

Ende der Leseprobe aus 113 Seiten

Details

Titel
Eine Projektentwicklung zur Betreuung Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Sachsen
Hochschule
Hochschule Mittweida (FH)  (Institut für Soziale Arbeit)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2001
Seiten
113
Katalognummer
V484
ISBN (eBook)
9783638103442
Dateigröße
817 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Eine, Projektentwicklung, Betreuung, Unbegleiteter, Flüchtlinge, Sachsen
Arbeit zitieren
Karen Dembowski (Autor:in), 2001, Eine Projektentwicklung zur Betreuung Unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Sachsen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/484

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